über Rosen zu sprechen” kann dann nur
noch als Bekenntnis eines radikalen Ana-
chronismus gewertet werden.
Wollen wir über einen derartigen Ana-
chronismus hinausgehen, muß die Ge-
schichte der modernen Architektur neu ge-
schrieben werden. Dabei müssen die Aspek-
te und historischen Versuche favorisiert
werden, die am besten die Fragen Benja-
mins beantworten. In einer neuen Abklä-
rung historischer Prozesse müssen wir zwei
Persönlichkeitskategorien miteinander zu
verbinden suchen: Jene, denen es darauf
ankommt, dem Architekten neue organisa-
torische Aufgaben im Bereich des kapitali-
stischen Produtktionszyklus zuzuweisen,
wie Friederich Naumann, Henry Ford und
Walter Rathenau; und jenen, die den Pla-
nungen der Sozialdemokraten für die Orga-
nisation der Wohnungsversorgung zu kon-
kreter Bedeutung verhalfen, wie Martin Wag-
ner, Parvos und Ernst May oder jene, die
sich zusammen mit Frederic Law Olmsted
oder in der Regional Plan Association of
America (RPAA) für Versuche zur Verwirk-
lichung einer neuen Bodenpolititk mit Hil-
fe von Lobyistengruppen stark machten.
In diesen Versuchen entwickelt sich eine
neue Haltung gegenüber der Rolle, die die
geistige Arbeit in den Bemühungen erhält,
die kapitalistischen Widersprüche im Bauen
und bei der geplanten Nutzbarmachung
der natürlichen Ressourcen zu überwinden.
Allerdings behindern noch starke ideolo-
gische Bindungen dieser Versuche eine gül-
tige Verallgemeinerung, besonders dadurch,
daß sie erstens versuchen, die “Lösung” un-
lösbarer Widersprüche anzustreben, ohne
dabei an die konkrete Klassenbewegung
{die die einzige Kraft darstellt, die den
Kämpfen um die institutionellen Reformen
Bedeutung verleiht) anzuschließen; und
zweitens, weil sie die geistige Arbeit als
autonom begreifen, als ein Instrument, das
strukturelle Reformen nur durch die Erhal-
tung und Stärkung ihres eigenen utopischen
Charakters beeinflussen kann. Die Proble-
matik dieser Haltung wird dann deutlich,
wenn sich mit der Qualität der Probleme
eine Implementationskrise herausbildet, die
sichtbar wird an den Auseinandersetzungen
zwischen den radikalen europäischen Ar-
chitekten und den Zielen des ersten sowje-
tischen Fünfjahresplans, oder auch an den
Auseinandersetzungen zwischen den Mit-
gliedern des RPAA und der zu ihnen im
Widerspruch stehenden Politik des New
Deal; ebenso dann, wenn der eigentliche
Prozeß der Implementation der vorgesehe-
nen Entwicklung die Rolle der Ideologie,
oder ihres utopischen Charakters in Frage
stellt. Trotz aller Verzerrungen und ideolo-
gischen Fehler, die diese Versuche hervor-
riefen, existiert tatsächlich eine Geschichte
jener Versuche, die zu einer umfassenden
Organisation der geistigen Arbeit innerhalb
der gesellschaftlichen Produktionsverhält-
nisse strebt. Es ist die vordringliche Aufga-
be der Kritik, diese Versuche bewußt zu
machen, sie als Gegenstand der historischen
Analysen zu favorisieren, und ebenso rück-
haltlos ihre Mängel und Zweideutigkeiten
aufzuzeigen und unmißverständlich deut-
lich zu machen, daß diese ungelösten Prob-
leme die einzigen Probleme sind, die einer
“politischen” Aktion wert sind. Es ist dann
logisch, daß die Kritik die Fragen, die sie
an ihren Gegenstand stellt — der nicht län-
ger die Architektur bezeichnet, sondern die
generelle Organisation der Bauproduktion
— die gleichen sind, die sie sich selbst stel-
len muß, d.h.: we/che Stellung nimmt die
Kritik im gesellschaftlichen Produktions-
prozeß ein? Was hat sie sich selbst auf die-
ser Ebene anzubieten? Wie muß sie sich
verändern (nachdem sie erkannt hat, daß
die Organisation der Klassen auch ihr eige-
ner Bezugspunkt ist)? Auf welche Art und
Weise hat sie sich selbst zum Instrument
der Klassenorganisation gemacht?
Diese Fragen lassen sich nicht beantwor-
ten, ohne dabei in Widerspruch zu den heu-
tigen Kristallisationen der geistigen Arbeit
und damit der kapitalistischen Arbeitstei-
lung zu geraten. Sie geben uns ein genaues
Gefühl für die Richtung unseres Handelns
und eröffnen uns ein Feld neuer Diskussio-
nen und Konfrontationen zu einem besse-
ren Verständnis der Realität. Die Ideologie-
kritik — immer eine nützliche Waffe zur
Überwindung reaktionärer Positionen und
zur Vermeidung der Gefahr, einem falschen
Weg als ‘“revolutionär’” zu folgen, einem
Weg, wie er vom Gegner abgesteckt wurde
und wie er nur in einer Sackgasse enden
kann — kann an dieser Stelle in die Analyse
konkreter Techniken überführt werden, die
die kapitalistische Entwicklung bestimmen.
Die Ideologie sollte zur Prämisse für die
Auswahl der konfliktuellen Gegenstände
werden, die dann in den Dienst eines all-
umfassenden Kampfes gestellt werden. In 3)
diesem Kontext wird der Generalstreik, der
1969 eine neue Phase im Kampf der italie-
nischen Arbeiter um die Stadt und um die
Wohnung einleitete, zu einem grundlegen- 33)
den Kapitel in der von uns vorgeschlagenen
historischen Methode. Sie bedeutet uns 4)
mehr als die ideologischen Verzerrungen
der Techniker, die ‘über den Zeicherttisch
gebeugt fortfahren, die falschen Summen
zu ziehen”, wie Brecht sagen würde.
Die Schlußfolgerungen aus unserer Dis-
kussion sind notwendigerweise mit Schwie-
rigkeiten beladen. Wiederum sind es die
von Benjamin aufgeworfenen Fragen, de-
nen wir uns zu stellen haben. Und dem Ar-
chitekten gegenüber, der die neue Rolle, die 5)
die heutige Wirklichkeit ihm anbietet, an-
nimmt, werden wir nicht müde zu fragen: 6)
“Gelingt es ihm, die Vergesellschaftung der gei- 7)
stigen Produktionsmittel zu fördern? Sieht er We-
ge, die geistigen Arbeiter im Produktionsprozesse
selbst zu organisieren? Hat er Vorschläge für die
Umfunktionierung (seiner Arbeit und Rolle)? Je
vollkommener er seine Aktivität auf diese Aufga-
be auszurichten vermag, desto richtiger die Ten-
denz, desto: höher notwendigerweise auch die
technische Qualität seiner Arbeit. Und anderer-
seits: je genauer er dergestalt um seinen Posten
im Produktionsprozeß Bescheid weiß, desto
weniger wird er auf den Gedanken kommen, sich
als ‘Geistiger’ auszugeben . . . . Denn der revolu-
tionäre Kampf spielt sich nicht zwischen dem
Kapitalismus und dem Geist sondern zwischen
dem Kapitalismus und dem Proletariat ab.'’39)
nn
Übersetzung: Michael Haase, Marc Fester 10)
und Nicolaus Kuhnert
1) Michel Foucault, Les Mots etles
Choses (Paris:Gallimard; 1966). Beach-
te, daß die Wendung ‘Das tödliche Schwei-
gen der Zeichen . ...’” Nietzsche zugeschrie-
ben werden könnte.
Kenneth Frampton, ‘Leicester University
Engineering Laboratory”, in Architec-
tural Design, Heft XXXIV, Nr. 2,
1964, S. 61; ders., “Information Bank”, in
Architectural Forum, Heft 129, Nr. 4, 1968,
S. 37 - 47; ders. ‘Andrew Melville Hall, St.
Andrews University, Scotland”, in Ar -
chitectural Design, Heft XL, Nr. 9,
1970, S. 460 - 62; Mark Girouard, ‘“Florey
Building, Oxford”, in The Architec-
tural Review, Heft CLII, Nr. 909,
1972, S. 260 - 77; dieser Artikel stellt, ne-
ben den von Frampton gegebenen Hinwei-
sen auf die Leitbilder von Sant’ Elia, des
Konstruktivismus, Wright, Chareau, Brink-
mann und Van der Vlugt, deutliche Bezüge
zwischen der artifiziellen Geometrisierung
Stirlings und der viktorianischen Inpraktibi-
lität von Butterfield. Siehe auch Joseph
Rykwert, ‘Un Episodio Inglese”, in Do-
m us, Nr. 415, 1964, S. 31; der. “Stirling a
Cambridge’, Domus 471,1969,5S.8 - 15;
der. “Stirling in Scozia”, in Domus,
Nr. 491, 1970, S. 5 - 15; Charles Jencks,
‘James Stirling or Function Made Manifest‘,
in Modern Movements in Ar-
chitecture (Harmondsworth, U.K.:
Penguin Boocks Ltd., 1973), S. 260 - 70; in
seiner persönlichen Stellungsnahme vermei-
det es Stirling Fragen nach den Bezugsquel-
len seiner eigenen Arbeit zu behandeln, statt-
dessen spricht er von der Erfindung des Or-
ganismus als einer einheitlichen und voll-
ständigen Struktur: siehe besonders Stirling,
“An Architect’s Approach to Architecture“,
inRIBA Journal, Heft 72, Nr. 5, Mai
1965, S. 331 - 40, ebenso in Zodiac,
Nr. 16, 1967, S. 160 - 69; ders. ‘“Anti-Struc-
ture”, in Zodiac, Nr. 18, 1968, S. 51 -60.
Diese Meinung wurde u.a. von Frampton
zum Ausdruck gebracht, ‘Andrew Melville
Hall‘‘, S. 460 - 62, ebenso von Rykwert, “Ja-
mes Stirling, 4 Projects”, in Domus
Nr. 512, 1972, S. 1 - 20.
wörtlich: Wiederherausfischung (Anm. d.
Übers.) -
Wir beziehen uns hier z.B. auf die ‘“Melni-
kov-verwandte” Halle, die seitwärts auf Pi-
lastern und am Turm des Engineering Labo-
ratory, Leicester University, auf Längsträ-
gern ruht. Rykwert hat die strukturellen
Dissonanzen innerhalb des Olivetti Centers
in Surrey richtig erkannt, sie entstehen
durch die Abflachung der Stahlgewölbe, be-
vor sie auf die Auflagerkonsolen des keil-
förmigen Foyers treffen. Siehe Rykwert,
“Lo Spazio Policromo: Olivetti Trainings-
center, Haslemere, Surrey 1968 - 72“, in
Dom us, Nr. 530, 1974, S. 37 - 44.
Frampton, ‘“Leicester Engineering Laborato-
y- 5.67.
Frampton, “Andrew Melville Hall‘, S. 460-62.
Siehe Peter Eisenman, ‘From Golden Lane
to Robin Hood Gardens, or if you follow
the Yellow Brick Road it may not lead to
Golders Green,” in Opposition 1,
1973, S. 28 - 56.
Siehe Allan Johnson, Stephan N. Games,
“Letters to Editors: Florey Building, Ox-
ford”, in The Architectural,
Review, Heft CCIll, Nr. 910, 1972,
5. 184 - 85.
Diskurs = Rhetorik der ‘Kommunikation
(hier:) des architektonischen Werks mit dem
Betrachter/Benutzer (Anm. d. Red.)
Roland Barthes, Critiques et verite
(Paris: Ed. Du Sevil, 1964). Siehe auch Ser-
ge Doubrovsky, Pourquoi-la nou-
velle critigque: critique et objectivi-
t& (Paris, Mercure de France, 1967).
Garroni hat schärfstens die Versuche von
Konig, De Fusco- und Eco zur Rekonstruk-
EL