Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1978, Jg. 10, H. 37-42)

über Rosen zu sprechen” kann dann nur 
noch als Bekenntnis eines radikalen Ana- 
chronismus gewertet werden. 
Wollen wir über einen derartigen Ana- 
chronismus hinausgehen, muß die Ge- 
schichte der modernen Architektur neu ge- 
schrieben werden. Dabei müssen die Aspek- 
te und historischen Versuche favorisiert 
werden, die am besten die Fragen Benja- 
mins beantworten. In einer neuen Abklä- 
rung historischer Prozesse müssen wir zwei 
Persönlichkeitskategorien miteinander zu 
verbinden suchen: Jene, denen es darauf 
ankommt, dem Architekten neue organisa- 
torische Aufgaben im Bereich des kapitali- 
stischen Produtktionszyklus zuzuweisen, 
wie Friederich Naumann, Henry Ford und 
Walter Rathenau; und jenen, die den Pla- 
nungen der Sozialdemokraten für die Orga- 
nisation der Wohnungsversorgung zu kon- 
kreter Bedeutung verhalfen, wie Martin Wag- 
ner, Parvos und Ernst May oder jene, die 
sich zusammen mit Frederic Law Olmsted 
oder in der Regional Plan Association of 
America (RPAA) für Versuche zur Verwirk- 
lichung einer neuen Bodenpolititk mit Hil- 
fe von Lobyistengruppen stark machten. 
In diesen Versuchen entwickelt sich eine 
neue Haltung gegenüber der Rolle, die die 
geistige Arbeit in den Bemühungen erhält, 
die kapitalistischen Widersprüche im Bauen 
und bei der geplanten Nutzbarmachung 
der natürlichen Ressourcen zu überwinden. 
Allerdings behindern noch starke ideolo- 
gische Bindungen dieser Versuche eine gül- 
tige Verallgemeinerung, besonders dadurch, 
daß sie erstens versuchen, die “Lösung” un- 
lösbarer Widersprüche anzustreben, ohne 
dabei an die konkrete Klassenbewegung 
{die die einzige Kraft darstellt, die den 
Kämpfen um die institutionellen Reformen 
Bedeutung verleiht) anzuschließen; und 
zweitens, weil sie die geistige Arbeit als 
autonom begreifen, als ein Instrument, das 
strukturelle Reformen nur durch die Erhal- 
tung und Stärkung ihres eigenen utopischen 
Charakters beeinflussen kann. Die Proble- 
matik dieser Haltung wird dann deutlich, 
wenn sich mit der Qualität der Probleme 
eine Implementationskrise herausbildet, die 
sichtbar wird an den Auseinandersetzungen 
zwischen den radikalen europäischen Ar- 
chitekten und den Zielen des ersten sowje- 
tischen Fünfjahresplans, oder auch an den 
Auseinandersetzungen zwischen den Mit- 
gliedern des RPAA und der zu ihnen im 
Widerspruch stehenden Politik des New 
Deal; ebenso dann, wenn der eigentliche 
Prozeß der Implementation der vorgesehe- 
nen Entwicklung die Rolle der Ideologie, 
oder ihres utopischen Charakters in Frage 
stellt. Trotz aller Verzerrungen und ideolo- 
gischen Fehler, die diese Versuche hervor- 
riefen, existiert tatsächlich eine Geschichte 
jener Versuche, die zu einer umfassenden 
Organisation der geistigen Arbeit innerhalb 
der gesellschaftlichen Produktionsverhält- 
nisse strebt. Es ist die vordringliche Aufga- 
be der Kritik, diese Versuche bewußt zu 
machen, sie als Gegenstand der historischen 
Analysen zu favorisieren, und ebenso rück- 
haltlos ihre Mängel und Zweideutigkeiten 
aufzuzeigen und unmißverständlich deut- 
lich zu machen, daß diese ungelösten Prob- 
leme die einzigen Probleme sind, die einer 
“politischen” Aktion wert sind. Es ist dann 
logisch, daß die Kritik die Fragen, die sie 
an ihren Gegenstand stellt — der nicht län- 
ger die Architektur bezeichnet, sondern die 
generelle Organisation der Bauproduktion 
— die gleichen sind, die sie sich selbst stel- 
len muß, d.h.: we/che Stellung nimmt die 
Kritik im gesellschaftlichen Produktions- 
prozeß ein? Was hat sie sich selbst auf die- 
ser Ebene anzubieten? Wie muß sie sich 
verändern (nachdem sie erkannt hat, daß 
die Organisation der Klassen auch ihr eige- 
ner Bezugspunkt ist)? Auf welche Art und 
Weise hat sie sich selbst zum Instrument 
der Klassenorganisation gemacht? 
Diese Fragen lassen sich nicht beantwor- 
ten, ohne dabei in Widerspruch zu den heu- 
tigen Kristallisationen der geistigen Arbeit 
und damit der kapitalistischen Arbeitstei- 
lung zu geraten. Sie geben uns ein genaues 
Gefühl für die Richtung unseres Handelns 
und eröffnen uns ein Feld neuer Diskussio- 
nen und Konfrontationen zu einem besse- 
ren Verständnis der Realität. Die Ideologie- 
kritik — immer eine nützliche Waffe zur 
Überwindung reaktionärer Positionen und 
zur Vermeidung der Gefahr, einem falschen 
Weg als ‘“revolutionär’” zu folgen, einem 
Weg, wie er vom Gegner abgesteckt wurde 
und wie er nur in einer Sackgasse enden 
kann — kann an dieser Stelle in die Analyse 
konkreter Techniken überführt werden, die 
die kapitalistische Entwicklung bestimmen. 
Die Ideologie sollte zur Prämisse für die 
Auswahl der konfliktuellen Gegenstände 
werden, die dann in den Dienst eines all- 
umfassenden Kampfes gestellt werden. In 3) 
diesem Kontext wird der Generalstreik, der 
1969 eine neue Phase im Kampf der italie- 
nischen Arbeiter um die Stadt und um die 
Wohnung einleitete, zu einem grundlegen- 33) 
den Kapitel in der von uns vorgeschlagenen 
historischen Methode. Sie bedeutet uns 4) 
mehr als die ideologischen Verzerrungen 
der Techniker, die ‘über den Zeicherttisch 
gebeugt fortfahren, die falschen Summen 
zu ziehen”, wie Brecht sagen würde. 
Die Schlußfolgerungen aus unserer Dis- 
kussion sind notwendigerweise mit Schwie- 
rigkeiten beladen. Wiederum sind es die 
von Benjamin aufgeworfenen Fragen, de- 
nen wir uns zu stellen haben. Und dem Ar- 
chitekten gegenüber, der die neue Rolle, die 5) 
die heutige Wirklichkeit ihm anbietet, an- 
nimmt, werden wir nicht müde zu fragen: 6) 
“Gelingt es ihm, die Vergesellschaftung der gei- 7) 
stigen Produktionsmittel zu fördern? Sieht er We- 
ge, die geistigen Arbeiter im Produktionsprozesse 
selbst zu organisieren? Hat er Vorschläge für die 
Umfunktionierung (seiner Arbeit und Rolle)? Je 
vollkommener er seine Aktivität auf diese Aufga- 
be auszurichten vermag, desto richtiger die Ten- 
denz, desto: höher notwendigerweise auch die 
technische Qualität seiner Arbeit. Und anderer- 
seits: je genauer er dergestalt um seinen Posten 
im Produktionsprozeß Bescheid weiß, desto 
weniger wird er auf den Gedanken kommen, sich 
als ‘Geistiger’ auszugeben . . . . Denn der revolu- 
tionäre Kampf spielt sich nicht zwischen dem 
Kapitalismus und dem Geist sondern zwischen 
dem Kapitalismus und dem Proletariat ab.'’39) 
nn 
Übersetzung: Michael Haase, Marc Fester 10) 
und Nicolaus Kuhnert 
1) Michel Foucault, Les Mots etles 
Choses (Paris:Gallimard; 1966). Beach- 
te, daß die Wendung ‘Das tödliche Schwei- 
gen der Zeichen . ...’” Nietzsche zugeschrie- 
ben werden könnte. 
Kenneth Frampton, ‘Leicester University 
Engineering Laboratory”, in Architec- 
tural Design, Heft XXXIV, Nr. 2, 
1964, S. 61; ders., “Information Bank”, in 
Architectural Forum, Heft 129, Nr. 4, 1968, 
S. 37 - 47; ders. ‘Andrew Melville Hall, St. 
Andrews University, Scotland”, in Ar - 
chitectural Design, Heft XL, Nr. 9, 
1970, S. 460 - 62; Mark Girouard, ‘“Florey 
Building, Oxford”, in The Architec- 
tural Review, Heft CLII, Nr. 909, 
1972, S. 260 - 77; dieser Artikel stellt, ne- 
ben den von Frampton gegebenen Hinwei- 
sen auf die Leitbilder von Sant’ Elia, des 
Konstruktivismus, Wright, Chareau, Brink- 
mann und Van der Vlugt, deutliche Bezüge 
zwischen der artifiziellen Geometrisierung 
Stirlings und der viktorianischen Inpraktibi- 
lität von Butterfield. Siehe auch Joseph 
Rykwert, ‘Un Episodio Inglese”, in Do- 
m us, Nr. 415, 1964, S. 31; der. “Stirling a 
Cambridge’, Domus 471,1969,5S.8 - 15; 
der. “Stirling in Scozia”, in Domus, 
Nr. 491, 1970, S. 5 - 15; Charles Jencks, 
‘James Stirling or Function Made Manifest‘, 
in Modern Movements in Ar- 
chitecture (Harmondsworth, U.K.: 
Penguin Boocks Ltd., 1973), S. 260 - 70; in 
seiner persönlichen Stellungsnahme vermei- 
det es Stirling Fragen nach den Bezugsquel- 
len seiner eigenen Arbeit zu behandeln, statt- 
dessen spricht er von der Erfindung des Or- 
ganismus als einer einheitlichen und voll- 
ständigen Struktur: siehe besonders Stirling, 
“An Architect’s Approach to Architecture“, 
inRIBA Journal, Heft 72, Nr. 5, Mai 
1965, S. 331 - 40, ebenso in Zodiac, 
Nr. 16, 1967, S. 160 - 69; ders. ‘“Anti-Struc- 
ture”, in Zodiac, Nr. 18, 1968, S. 51 -60. 
Diese Meinung wurde u.a. von Frampton 
zum Ausdruck gebracht, ‘Andrew Melville 
Hall‘‘, S. 460 - 62, ebenso von Rykwert, “Ja- 
mes Stirling, 4 Projects”, in Domus 
Nr. 512, 1972, S. 1 - 20. 
wörtlich: Wiederherausfischung (Anm. d. 
Übers.) - 
Wir beziehen uns hier z.B. auf die ‘“Melni- 
kov-verwandte” Halle, die seitwärts auf Pi- 
lastern und am Turm des Engineering Labo- 
ratory, Leicester University, auf Längsträ- 
gern ruht. Rykwert hat die strukturellen 
Dissonanzen innerhalb des Olivetti Centers 
in Surrey richtig erkannt, sie entstehen 
durch die Abflachung der Stahlgewölbe, be- 
vor sie auf die Auflagerkonsolen des keil- 
förmigen Foyers treffen. Siehe Rykwert, 
“Lo Spazio Policromo: Olivetti Trainings- 
center, Haslemere, Surrey 1968 - 72“, in 
Dom us, Nr. 530, 1974, S. 37 - 44. 
Frampton, ‘“Leicester Engineering Laborato- 
y- 5.67. 
Frampton, “Andrew Melville Hall‘, S. 460-62. 
Siehe Peter Eisenman, ‘From Golden Lane 
to Robin Hood Gardens, or if you follow 
the Yellow Brick Road it may not lead to 
Golders Green,” in Opposition 1, 
1973, S. 28 - 56. 
Siehe Allan Johnson, Stephan N. Games, 
“Letters to Editors: Florey Building, Ox- 
ford”, in The Architectural, 
Review, Heft CCIll, Nr. 910, 1972, 
5. 184 - 85. 
Diskurs = Rhetorik der ‘Kommunikation 
(hier:) des architektonischen Werks mit dem 
Betrachter/Benutzer (Anm. d. Red.) 
Roland Barthes, Critiques et verite 
(Paris: Ed. Du Sevil, 1964). Siehe auch Ser- 
ge Doubrovsky, Pourquoi-la nou- 
velle critigque: critique et objectivi- 
t& (Paris, Mercure de France, 1967). 
Garroni hat schärfstens die Versuche von 
Konig, De Fusco- und Eco zur Rekonstruk- 
EL
	        
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