Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1978, Jg. 10, H. 37-42)

der Architektur” nicht länger übersehen, 
drängen sie sich doch unaufhaltsam ins 
Revier auch der akademisch qualifizierten 
Gestalter, die alle Spielarten des früher ge- 
schmähten Publikumsgeschacks verlegen 
zu akzeptieren beginnen. Ja, mehr noch: 
In offiziösen Diskussionen um Milieu und 
Neue Un-Sachlichkeit wird die Not gestal- 
terischer. Ratlosigkeit zur Tugend sozialer 
Einsicht erklärt. Nicht mehr nur die for- 
male Hochsprache der Vorbilder zählt. 
Auch wenn die vorgetragene Begeisterung 
zwischen den Polen sozialen Engagements 
und modischer Volkstümelei schwankt: 
Man versucht wieder, ‚dem Volk aufs Maul 
zu schauen’ und regionale Dialekte auch 
in der Architektur zu unterscheiden. Und 
auch dafür ist in Kongressen schnell ein 
Begriff zur Hand: Im ‚Neuen Regionalis- 
mus’ wird die Anbindung der Gestaltung 
an lokale Traditionen propagiert. Nach 
Jahren sozialwissenschaftlicher Orientie- 
rung und theoretisierender Wahrheitssu- 
che wird in Rückwendung auf die sinnlich 
erfahrbaren Qualitäten räumlicher Gestal- 
tungsmittel die Sinnlichkeit der Schreber- 
gärten und Ersatzarchitekturen entdeckt. 
Das Kitsch-Verdikt wird aufgehoben. Mit 
wachsender Sensibilität für die Vielfalt 
und Wirksamkeit ästhetischer Ausdrucks- 
formen scheint die Abnabelung vom nai- 
ven Funktionalismus endgültig vollzogen 
und dessen einheitsstiftende Kraft verlo- 
ren. Ein neuer Historismus steht an: ‘Die 
historischen Muster werden als Form frei 
für neue Interpretation, neue Bedeutung, 
neue Nähe. Sie werden mit neuen Augen 
gesehen. Daß sie dies aushalten, rückt sie, 
in der Konvention unseres Sehens, in den 
Bereich der Kunst.” 5) Erst allmählich, 
doch mit wachsender Intensität „fangen 
die Architekten an, sich im Zeichen sin- 
kender Neuproduktion für die Probleme 
der historischen Zentren und der alten 
Wohnviertel zu interessieren” 6) — zumal 
sich auch durch die neueren gesetzgeberi- 
schen Maßnahmen zu Wohnungsmoderni- 
sierung und -eigentum die künftigen Tä- 
tigkeitsfelder bis in die Umorganisierung 
bereits bestehender Wohnungen verlagern. 
Mit der schwärmerischen Entdeckung von 
Trivialarchitektur und Alltagsästhetik be- 
ginnen sich Architekten und Planer auf 
eine veränderte Situation einzustellen. 
Die publikumswirksame Aufbereitung 
lokaler Besonderheiten -- in der inter- 
kommunalen Konkurrenz um Attraktivi- 
tätsvorteile durch Imagepflege und Städ- 
tewerbung vorgeprobt — wird in der Ar- 
chitekturproduktion konkret; flankiert 
von kommunalpolitischen Maßnahmen 
zur ‚Festigung der Ortsbindung und Wohn- 
zufriedenheit’ durch die gestalterische 
Aufwertung innerstädtischer Wohnquar- 
tiere, durch die Inszenierung von Stadteil- 
festen und die Verbreitung von Identifi- 
kationssymbolen wie Stadt-Maskottchen 
und Auto-Aufkleber. 
Mit Blick auf die aktuellen ökonomi- 
schen und politischen Bedingungen des 
Stadtumbaus ließen sich viele der publi- 
zistisch hochgespielten Star-Statements 
und Diskussionen leicht als bloße Reakti- 
on auf handfeste gesellschaftliche Ent- 
wicklungen darstellen, die fast mechanisch 
einen Wandel des Gestaltungsverständnis- 
ses und eine restlose Funktionalisierung 
des Ästhetischen nach sich zu ziehen 
scheinen. Dabei würde in höchst selekti- 
ver Sicht freilich nur ein Aspekt architek: 
tonischer Praxis und Theoriediskussion 
erfaßt, da das wachsende Unbehagen an 
den engen Verwertungsbedingungen auch 
der ästhetischen Produktion zu zwei 
scheinbar weit auseinanderlaufenden Al- 
ternativ-Orientierungen führt, deren Be- 
rührungspunkte noch auszumachen sind. 
Obwohl die im folgenden thesenartig skiz: 
zierten Tendenzen ohne eine Analyse der 
objektiven Bedingungen der krisenhaften 
Berufsentwicklung nicht mehr abgeben 
können als ein aus unabgeschlossenen Ge- 
sprächen zusammengestelltes Diskussions- 
material, das ebenso unabgeschlossen und 
widersprüchlich bleibt wie diese selbst, sol- 
len einige Orientierungsversuche vorgestellt 
werden, um weitere Diskussionen zu pro- 
vozieren. 
Auf der einen Seite wird neuerdings 
eklektizistischem Design wieder die Sper- 
rigkeit innerästhetischer Strukturprinzipien 
entgegengesetzt: Eine — besonders im 
Hochschulbereich festzustellende — neue 
Entwurfsorientierung und Re-Ästherisie- 
rung sucht statt modischer Anpassung an 
wechselnde Gestaltungsklischees formale 
Alternativen und in Stadtreparaturen An- 
bindung an historische Strukturen, die sich 
gegen waren-ästhetische Aufbereitung sper- 
ren sollen, zumeist aber nicht mehr als 
aufgeputzte Formzitate und architekto- 
nische Text-Collagen aus dem gestalteri- 
schen Vokabular der Geschichte des wie- 
derentdeckten Stadt-Raums bieten. Politi- 
sche und soziale Fragen der Stadtentwick: 
lung und Wohnverhältnisse werden nicht 
mehr gestellt, wo die Bauten den ‚„‚indi- 
viduellen Anforderungen einer gebildeten 
Mittelschicht genügen ” und im aktuellen 
Trend eine exklusive,,innerstädtische Al- 
ternative zum ‚Wohnen vor der Stadt’ dar- 
stellen” sollen 7a); Mit verklärtem Blick 
auf große Vorbilder der Baugeschichte und 
das ästhetische Glück künftiger Generatio- 
nen wird die schlechte Gegenwart mitsamt 
ihren ökonomischen Verwertungszwängen 
aus dem Bewußtsein verdrängt — ohne frei- 
lich dadurch objektiv außer Kraft gesetzt 
zu sein. 
Auf der anderen Seite versuchen Archi- 
tekten statt Rückzug in die Freiräume for- 
maler Experimente den Angriff: durch Po- 
/itisierung ihrer Berufssituation und durch 
Suche nach oraganisatorischen Bindunaen. 
die auf langfristige Veränderung der gege- 
benen gesellschaftlichen Bedingungen der 
Architekturproduktion abzielen, wobei 
die formale Qualität der zwischenzeitlich 
entstehenden Produkte relativ gleichgül- 
tig bleibt. 
Vorwärts oder zurück? 
In grober Polarisierung wurden oben ver- 
schiedene Reaktionen auf die beschleunig- 
te Auflösung eines Berufsstandes zusam- 
mengefaßt, dessen Mitglieder ihre berufli- 
che und persönliche Identität häufig aus 
einem diffusen künstlerischen Selbstver- 
ständnis beziehen, das in der gesellschaftli- 
chen Realität kaum mehr verankert ist. 
Dennoch scheinen traditionelle Berufsvor- 
stellungen gerade hier ein merkwürdiges 
Eigenleben zu führen. Trotz sinkender Be- 
rufschancen drängen sich die Studienplatz- 
bewerber weiter um Ausbildungsplätze für 
einen Beruf, der immer noch Möglichkeiten 
zu bieten scheint, in. Formen nicht-entfrem- 
deter Arbeit sich selbst oder anderen Denk- 
mäler zu setzen, Kunst mit Handwerk und 
Technik zum gebauten Werk zu vereinen — 
in Architektur. 
Erst im Übergang zur beruflichen Praxis 
wird die gesellschaftliche Wirklichkeit 
schmerzhaft erfahren — sofern durch einen 
festen Arbeitsplatz überhaupt ein Übergang 
möglich wird: Das große Geld bleibt jedoch 
meist ebenso aus wie die großen Aufträge; 
kleinliche Kompromißarchitekturen, Um- 
bauten und Routinetätigkeiten bestimmen 
die berufliche Alltagspraxis, in der allen- 
falls das Ausfeilen und Durchsetzen einiger 
‚anständiger’ Details Ersatz für die erhoff- 
ten künstlerischen Tätigkeiten bieten. 
Je stärker unter dem Druck verschärfter 
Rationalisierung, Arbeitsteilung oder gar 
Arbeitslosigkeit die oft zur Berufswahl mo- 
tivierende ‚künstlerische Selbstverwirkli- 
chung’ im beruflichen Alltag versagt bleibt, 
umso näher liegt die Flucht in die. verblei- 
benden Nischen, in denen autonom noch 
Gestaltungsprinzipien entfaltet werden 
können, solange sie die finanzielle Kalku- 
lation nicht stören. Werden auch diese Lük- 
ken geschlossen, bleibt als letzter Ausweg 
noch die kompensatorische Verlagerung ins 
Private und die Bewunderung für die Werke 
künstlerischer Vorturner, hinter deren Er- 
folg die eigene Misere als individuelles Ver- 
sagen und Schicksal erscheint. Wie in ande- 
ren Jobs führt dann auch hier die Suche 
nach dem ‚eigentlichen‘ Leben zur Ver- 
drängung des Berufsalltags und zum Rück- 
Zug, wobei jedoch eine Nabelschnur bleibt: 
Schon vom täglichen Umgang mit dem Ar- 
beitsgegenstand her liegt die Ästhetisierung 
eines individuellen Lebensstils nahe, wenn 
die Hoffnung auf gestalterische Verallge- 
meinerung aufgegeben werden muß, die 
über Jahrzehnte Motor des ‚messianischen’ 
Funktionalismus war. Die berufliche Iden-
	        
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