Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1978, Jg. 10, H. 37-42)

punkte, Jugendzentren und Kulturstätten 
eingerichtet und durch die Nutzer selbst 
verwaltet werden; wenn Straßen blockiert, 
mit Tischen und Stühlen bestellt, zum 
Raum selbstorganisierter Feste werden und 
nun tatsächlich als Bühne dienen: für Stra- 
Bentheater und ‚spielerische‘ Aufklärungs- 
arbeit. Mit wachsendem sozialen Engage- 
ment wird Architektur als politisches Me- 
dium entdeckt, werden Entwurf und Dar- 
stellung zu Mitteln der Aufklärung. In an- 
schaulichen Plänen, Bildern, Modellen und 
gemeinsamen Aktionen werden die gemein- 
schaftliche Umgestaltung und Nutzung von 
Hinterhöfen, Vorgärten, Straßenräumen, 
von leerstehenden Wohnhäusern, Fabrik- 
hallen und Kirchen konkret vorstellbar. So 
treten neben die handfesten Forderungen 
nach billigeren und besseren Wohnungen, 
Verkehrs- und Versorgungseinrichtungen 
zunehmend auch Vorstellungen von weiter- 
gehenden Veränderungen im Stadtteil. Wa- 
rum soll es nur in den Einkaufszentren 
Fußgängerbereiche und Straßenmöblierun- 
gen geben, warum nicht Spielstraßen mit 
Bretterbuden und Klettergerüsten in den 
benachbarten Wohngebieten, in deren Stra- 
ßen der Autoverkehr aus den Zentren ab- 
gedrängt wird? Warum soll ‚Stadtgestaltung’ 
nur dort konzentriert sein, wo sie der At- 
traktion zahlungskräftiger Käufer und Mie- 
ter dient? 
Die Umgestaltung der Innenstädte hat 
einen neuen Horizont von Vorstellungs- 
möglichkeiten eröffnet, der sich nicht mehr 
auf das Hier und Jetzt der vorhandenen 
Angebote eingrenzen läßt, sondern durch 
das Aufzeigen konkreter Alternativen stän- 
dig ausgeweitet werden kann. Damit ge- 
winnt selbst die an der Stadtbild-Verschö- 
nerung ansetzende ‚Humanisierung der 
Städte’ allmählich eine Eigendynamik, die 
auch durch administrative Partizipationsan- 
gebote nicht vollständig kontrollierbar wird. 
Eine Pol/itisierung der Stadtgestaltung tritt 
der Ästhetisierung einer Kommunalpolitik 
entgegen, die neben den ökonomischen 
Verwertungsbedingungen vor allem die 
Loyalität der Bevölkerung sichern muß und 
dabei unter wachsenden Legitimations- 
druck gerät. 
Mit neuen Formen der Nutzung und Ver- 
änderung städtischer Räume geht somit zu- 
gleich eine „Transformation der Alltäglich- 
keit” einher, indem durch Veränderung 
und Verfremdung vertrauter Situationen 
auch neue Verkehrsformen erprobt werden 
können. Doch selbst an vertrauten Lebens- 
formen kann sich das geforderte „‚Differenz- 
wissen zum status quo” entfalten, wenn 
z.B. ‚rückständige’ Arbeiterkulturen gegen 
die Bedrohung durch Zerstörung oder ‚Mo- 
dernisierung‘ verteidigt werden und dabei 
nicht nur der Gebrauchswert der entspre- 
chenden Bau- und Siedlungsformen neu 
entdeckt und mit neuem Bewußtsein wahr- 
genommen wird. 
So richtet sich unter politisch-sozialem 
Aspekt das ästhetische Interesse zunächst 
auf die Produktions-, Veränderungs-, Ge- 
brauchsformen, auf Zwischen-Räume und 
ihre Benutzung, dann erst auf die gebauten 
Formen der Architektur: Ästhetische Er- 
Fahrung wird nicht länger als Ergebnis kon- 
templativer Versenkung nach Vorgabe ver- 
dinglicht tradierter Kulturkenntnis be- 
griffen, sondern im Kontext politischen 
Handels als Prozeß einer lebenspraktischen 
Aneignung, der erst im Verlauf vielfältiger 
und sinnlicher Erfahrung zur Ausbildung 
von differenzierten kognitiven Kompeten- 
zen und affektiven Bindungen führt. 
Höhenflug in Sackgassen? 
Leicht lassen sich solche Perspektiven am 
Schreibtisch entwickeln und in Artikeln als 
Programme verbreiten. Eine modische Neu- 
auflage abgestandener Avantgarde-Diskussi- 
onen? Bei genauerer Betrachtung landen 
die konzeptionellen Höhenflüge hart auf 
dem. Boden der Tatsachen, zu deren Verän- 
derung sie abhoben. Der Architekt kann 
kaum beides sein: Baumeister der Reichen 
und Mächtigen und Tunnelgräber der Aus- 
gebeuteten und Unterdrückten in einer Per- 
son. 26) Der Architekt: lebt er zumeist 
doch gerade davon, die Lebensbedingungen 
in den Städten so zu verändern, daß sich 
auf Kosten der Masse ihrer Bewohner da- 
mit mehr Geld verdienen läßt als zuvor, 
und zu dessen Aufgaben in wachsendem 
Maße — unterstützt von entsprechend qua- 
lifizierten Sozialarbeitern und Wissenschaft- 
lern -— nicht nur die Durchführung der (phy- 
sischen) Baumaßnahmen gehört, sondern 
auch die (psychische) Vorbereitung der 
Bewohner. Konsequent muß sich die Be- 
ratung und Mitarbeit in Arbeiter- und 
Mieterinitiativen gegen das Standesinte- 
resse wenden, muß zurückschlagen auf 
beruflichen Erfolg und erreichte Positio- 
nen, wenn soziales Engagement ernstge- 
nommen wird und nicht selbst schon 
zur karriere- oder geschäftsfördernden 
Unterwanderung der ‚Basis’ von oben 
her dient. So kommt die Forderung nach 
Unterstützung sozialer Bewegungen in au- 
ßerparlamentarischen und -institutionellen 
Bereichen leicht einem naiven Bekenntnis 
gleich. 
Rasch bleiben Planungsbüros und -genos- 
senschaften in der Auftrags-Konkurrenz 
auf der Strecke, wenn sie durch kommunal- 
politische Aktivitäten nicht nur ‚mitmi- 
schen’, sondern sich einzumischen versu- 
chen; rasch sind die ‚progressiven’ Flügel 
der Planungsabteilungen im Ränkespiel der 
Behörden gestutzt und lahmgelegt, wenn 
ohne geschickte Fraktionierung und Bünd- 
nispolitik örtlichen Initiativen zugearbeitet 
wird oder schon in der extensiven Ausle- 
gung und Anwendung institutionell und 
rechtlich gegebener Möglichkeiten ein 
Schritt zu weit gegangen wurde. Wenn das 
Engagement bis in die berufliche Praxis 
überhaupt vorhält, sind von dort aus aller- 
erst die örtlichen Besonderheiten, die insti- 
tutionellen und personellen Gegebenheiten 
und damit auch die Zielrichtung und 
Reichweite der anvisierten Konfliktstrate- 
gien zu bestimmen. Doch erst die Sicht auf 
übergreifende gesellschaftliche Entwicklun- 
gen schult den Blick für jene Bereiche, in 
denen der Einsatz sich lohnt, und gibt 
zugleich Phantasie und Detailschärfe zur 
Entdeckung finanzieller, rechtlicher und 
institutioneller Möglichkeiten der Vor- und 
Zuarbeit für örtliche Initiativen und Mieter- 
selbstorganisation. Selbst unter günstigsten 
Bedingungen in Büros und Planungsämtern, 
in Kooperation mit ‚fortschrittlichen‘ 
Lehrern, Sozialarbeitern und Kommunal- 
politikern bleibt jedoch die Wirksamkeit 
der direkten und indirekten Mitarbeit in 
Initiativen und deren Arbeit selbst von 
umfassenderen gesellschaftlichen Bedin- 
gungen bestimmt, die gleichsam das Klima 
abgeben, in dem Ansätze politischer 
Selbstbestimmung und -verwirklichung sich 
entfalten oder ersticken. So haben in den 
letzten Jahren wirtschaftliche und poli- 
tische Entwicklungen ein Klima geschaffen, 
in dem ‚mehr Demokratie zu wagen’ tat- 
sächlich wieder zum Wagnis wird: Durch 
rechtliche Regelungen wurde zwar der 
Rahmen für institutionalisierte Partizipati- 
on, Sozialplanung und Härteausgleich er- 
weitert, zugleich aber Ansätze spontaner 
Probehandlungen, Meinungsäußerung, 
Bedürfnisartikulation und Selbstorganisati- 
on in die Nähe krimineller Handlungen 
gerückt. 27) Um hier Vereinzelung und 
Kriminalisierung zu verhindern, bedarf es 
neben der Aktion und Organisation einer 
offenen und offensiven Gegenöffentlich- 
keit zur herrschenden Öffentlichkeit der 
Massenmedien, 28) bedarf es der ‚Betriebs- 
protokolle’ aus Initiativen, Büros, Ämtern 
und Parlamenten. Was zur Entfaltung einer 
lebendigen politischen Kultur im Bereich 
städtischer Konflikte jedoch vor allem 
(noch) fehlt, ist eine ganze Tradition 
konkreter Erfahrung von ‚Beratern vor Ort, 
von Konsequenzen, die aus sozialer Betrof- 
fenheit und parteilichem Handeln zur Ver- 
änderung auch des eigenen Lebenszusam- 
menhanges gezogen wurden, ihre Aufarbei- 
tung und Veröffentlichung. 
Solche Perspektiven freilich werden durch 
die ‚Neue Entwurfsorientierung‘ trotz al- 
ler darin vermuteten ‚emanzipatorischer 
Potentiale’. eher verstellt als erweitert. Im 
Gewand einer ‚Rückbesinnung auf die ‚e!- 
gentlichen‘ Aufgaben der Architektur und 
der Architekten droht ihnen wieder die 
Abkapselung von einer gesellschaftlichen 
Alltagswirklichkeit, die eben erst schüch- 
tern entdeckt wird. 
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