Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1978, Jg. 10, H. 37-42)

Luftaufnahme der sudlısnen Friedrichstadt. von Suaen, un: 
einem von konkreten Spuren gereinigten 
historischen Kern. 
Orts- und parteispezifisch ist die Art 
und Weise, wie dies geschieht. Ortsspezi- 
fisch, weil in Berlin schon immer ohne 
Rücksicht auf Verluste abgerissen wurde, 
mit Vorliebe für den Straßenbau. Partei- 
spezifisch, weil die weitgehend von der 
SPD geprägte Verwaltung aus den politi- 
schen Orientierungen der SPD heraus we- 
der ein konservatives Interesse an der 
Stadtgeschichte hatte, noch ein politi- 
sches Interesse an einer aktiven Auseinan- 
dersetzung mit der faschistischen Vergan- 
genheit. Der völlige Abriß der Ruine der 
Gedächtniskirche wurde mittendrin durch 
einen Massenprotest der Berliner Bevölke- 
rung verhindert. Anderswo fehlte dieser 
Druck; selbst eine so mythologisch große 
Ruine wie die des Anhalter Bahnhofs (Ben- 
jJamin nannte ihn einst den Mutterleib der 
Eisenbahnzüge) wurde trotz individueller 
Proteste abgerissen (ahnungslos und unge- 
warnt, wie die Verwaltung heute behaup- 
tet, war sie damals nicht, nur zwang sie 
keiner). Für die Erhaltung der Trümmer der 
faschistischen Zentralen gab es erst recht 
keinen Anhalt: man riß einfach ab, um 
die Voraussetzungen für einen globalen 
Neubeginn zu fördern. Daß das naiv ge- 
schah — daß keiner gewußt hat, was man 
tat —, vermag ich nicht zu glauben. Zu vie- 
le kannten die Adresse, zu viele waren 
dort verschwunden. 
DER SPIELPLATZ UND DAS REICHS- 
SICHERHEITSHAUPTAMT 
In dem einfachen Muster: Bedürfnisse der 
Bevölkerung contra autoritäre, technokra- 
tische Verwaltung läßt sich die Sache über- 
haupt nicht diskutieren. Die Bewohner 
deutscher Stadtviertel pflegen sich in ihrer 
überwiegenden Mehrheit keineswegs dafür 
einzusetzen, daß die historischen Wunden 
ihres Viertels offengehalten werden. Die äl 
teren haben ihre Gründe, das Gewesene zu 
vergessen; die jüngeren sind ahnungslos, für 
sie ist der Faschismus sowieso so etwas ähn 
liches wie das Mittelalter. Die wenigen Hin- 
weistafeln und Denkmäler, die es über- 
haupt im Stadtbild gibt, sind unvollstän- 
dig, parteiisch, verharmlosend oder ein- 
Fach wehleidig-passiv. Letzteres vor allem 
unter dem Titel „In schwerer Zeit ...”; 
parteiisch, weil die Linke dabei nicht vor- 
kommt; unvollständig, so wenn in der Ber- 
liner Kantstr. 152 auf Ossietzkis Nobel- 
preis verwiesen wird, nicht aber auf das 
KZ Oranienburg; verharmlosend, weil sie 
mit den Greueln des Faschismus umge- 
hen wie mit einer Hochwasserkatastrophe. 
In den Arbeitervierteln gibt es die Erin- 
nerungen an historische Kämpfe, Niederla- 
gen, Verluste noch. Es gibt aber kein öf- 
fentliches Gedächtnis, keine lebendige 
Arbeiterorganisation, die die Örter kennt, 
die Namen weiß. Die Erinnerungen gehö- 
ren einzelnen oder kleinen Gruppen, die 
sie, wenn man sie befragt, bereitwillig 
weitergeben. Historiker, Videoleute, poli- 
tische Gruppen halten fest, was sie erfah- 
ren; zur Erfahrung der Bewohner des Vier- 
tels insgesamt gehört es nicht mehr und 
kann es in dieser Form der Konservierung 
in einer immer fremderen Umwelt nicht 
gehören. Dazu kommt ein zweites. Vier- 
telgeschichte ist das, was jeder weiß, was 
die Kinder schon hören und sich ausma- 
len, es ist Teil der Selbstverständlichkeiten, 
die den alltäglichen Verständigungen zwi- 
schen den Bewohnern unterliegen. Mit 
dem Abriß ganzer Häuserblocks zerreißt 
auch dies Orientierungssystem, die Bevöl- 
kerung wechselt, ganz unterschiedliche 
Ebenen und Formen von Erfahrung des 
Viertels kommen nebeneinander vor und 
isolieren sich als Kommunikationsbarrie- 
ren gegeneinander, deren Mehrheit auch 
das Viertel als neues, nicht mehr oder 
noch nicht kenntliches Objekt erfährt. 
So stellt sich eine Erfahrungsstruktur 
her, in der einzelne in bezug auf das Vier- 
tel Erfahrungen suchen und machen. 
Heute, in einer anderen kulturell-politi- 
schen Konjunktur, wieder Geschichte auf 
eben dieser rasierten Fläche herstellen zu 
wollen, verstrickt unvermeidlich noch 
tiefer in Verdrängung. Auch Bauten kön- 
nen lügen; dann etwa, wenn sie saniert aus 
den Händen einer Baugesellschaft hervor- 
gehen, innen ausgeweidet und wiederaus- 
gestopft; oder wenn, wie in der Linden- 
straße geplant, Neubauten mit echten Fas- 
sadenteilen alter, nicht einmal lokaliden- 
tischer Bauten bestückt werden (Ephraim- 
palais, Feilnerhaus). So entsteht eine Stadt- 
geschichte ohne Opfer, ohne Zerstörungen, 
multiplizierbar und alterslos: ein Stadtbild 
ohne Geschichte. Es mag unbillig und ver- 
kürzend sein, darauf hinzuweisen, daß die 
entwerfenden Architekten (Krier, Ungers 
u.a.) sich dabei der Ordnungsmuster und 
Fassadenmotive eines Klassizismus bedie- 
nen, der seinen Durchgang durch den Fa- 
schismus nicht verheimlicht. Aber die 
Pointe ist sachlich zu logisch, um unter- 
drückt zu werden — klassischerweise die 
Wiederkehr des Verdrängten. 
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Die Geschichte des Viertels ist nicht ihre 
Geschichte und ihnen unbekannt oder un- 
greifbar. Das Viertel als Objekt ist etwas, 
was für sie erst neu beschriftet, zu einem 
Zusammenhang ihrer persönlichen Lebens- 
geschichte werden muß. Das Viertel ist 
dabei ein Objekt wie die Wohnung: ein 
Punkt, der die partielle Ausformulierung 
von Lebensidentität erlaubt. So entsteht 
Kiezbewüßtsein: die Auffüllung eines 
Stadtviertels mit persönlichen Bedürfnis- 
sen, Aversionen, Erinnerungen und als 
Wissenstoff erworbenen historischen 
Kenntnissen. Der Kiez ist ein Nenner, um 
Veränderungen abzuwehren, affektive Be: 
ziehungen herzustellen, ein „,wir’” gegen 
andere und gegen die Verwaltung zu for- 
mulieren. 
Aus der gemeinsam gelebten Viertelge- 
schichte ist also die Aggregation von Be- 
wußtseinseinstellungen geworden, die sich 
in einem überschaubaren Wohnbezirk auf 
den gemeinsamen Ort richten. Die vorge- 
fallene Veränderung ist doppelt: es hat 
sich die Erfahrungsstruktur geändert, und 
damit Hand in Hand auch der Gegenstand 
— aus der im Viertel gemachten Geschich- 
te ist das mehr oder minder historische 
Oder durch eigene Erfahrungen überhaupt 
erst quasihistorisch zu besetzende Stadtge- 
biet geworden. Damit hat sich der Ge- 
schichtsbezug zutiefst geändert: am Vier- 
tel hängt persönliche Geschichte. Die po- 
litische, allgemeine Geschichte findet an- 
derswo statt, in anderen Gegenden, Städ- 
ten oder im Fernsehen, sie ist von da aus 
prinzipell ortlos. 
Die Arbeiterbewegung leistete, wenn 
sie im Viertel präsent war, als Partei, Ar- 
beitersportverein usw., die Vermittlung 
von persönlicher Erfahrung und histori- 
schem Prozeß, das, was man in anderen 
Worten das Verhältnis von „‚kleiner” und 
„großer”” Geschichte nennen könnte. Das 
Neukölln der zwanziger Jahre beispiels- 
weise (um in Berlin zu bleiben) war struk- 
turiert durch die die Straßenzüge am Roll- 
berg insgesamt besetzende politische Soli- 
darität der Bewohner, die in den Kämp- 
fen von 1919 und den Barrikaden von 
1929 zugleich lokal und in Begriffen des 
historischen Gesamtprozesses auftrat, eben- 
so aber auch durch die Arbeitersportvereine, 
die, wie das Beispiel Werner Seelenbinders 
zeigt, diese Vermittlung auf ihrer Ebene 
ebenfalls leisteten. Heute fehlt diese Ver- 
mittlung. Der historische Prozeß ist für 
die einzelnen gleich welcher sozialen Zuge- 
hörigkeit, grundsätzlich abstrakt gewor- 
den. Die Erfahrung, in die politische Tages- 
dynamik weder eingreifen noch die grund- 
sätzlichen Weichenstellungen auf sich be- 
ziehen zu können, hat in den Vorstellun- 
gen der einzelnen überhaupt den Bezug 
auf die „‚große‘” Geschichte ausgelöscht, 
insgesamt auch jede historische Vergan- 
genheit, die ja erst recht nicht als eigene 
vorstellbar ist, sondern ein kollektives 
Subjekt braucht, um beziehbar zu sein. 
Stattdessen baut sich aus den privaten Ob- 
jektbeziehungen sekundär eine historische 
Erfahrung auf, die individuell lebensge- 
schichtlich beschränkt, aber auch in Be- 
wegung gehalten, vor Abstraktion durch 
zentrale Funktionalisieru ngen besser ge- 
schützt ist. Mit ihr, nicht mit Hoffnungen
	        

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