Luftaufnahme der sudlısnen Friedrichstadt. von Suaen, un:
einem von konkreten Spuren gereinigten
historischen Kern.
Orts- und parteispezifisch ist die Art
und Weise, wie dies geschieht. Ortsspezi-
fisch, weil in Berlin schon immer ohne
Rücksicht auf Verluste abgerissen wurde,
mit Vorliebe für den Straßenbau. Partei-
spezifisch, weil die weitgehend von der
SPD geprägte Verwaltung aus den politi-
schen Orientierungen der SPD heraus we-
der ein konservatives Interesse an der
Stadtgeschichte hatte, noch ein politi-
sches Interesse an einer aktiven Auseinan-
dersetzung mit der faschistischen Vergan-
genheit. Der völlige Abriß der Ruine der
Gedächtniskirche wurde mittendrin durch
einen Massenprotest der Berliner Bevölke-
rung verhindert. Anderswo fehlte dieser
Druck; selbst eine so mythologisch große
Ruine wie die des Anhalter Bahnhofs (Ben-
jJamin nannte ihn einst den Mutterleib der
Eisenbahnzüge) wurde trotz individueller
Proteste abgerissen (ahnungslos und unge-
warnt, wie die Verwaltung heute behaup-
tet, war sie damals nicht, nur zwang sie
keiner). Für die Erhaltung der Trümmer der
faschistischen Zentralen gab es erst recht
keinen Anhalt: man riß einfach ab, um
die Voraussetzungen für einen globalen
Neubeginn zu fördern. Daß das naiv ge-
schah — daß keiner gewußt hat, was man
tat —, vermag ich nicht zu glauben. Zu vie-
le kannten die Adresse, zu viele waren
dort verschwunden.
DER SPIELPLATZ UND DAS REICHS-
SICHERHEITSHAUPTAMT
In dem einfachen Muster: Bedürfnisse der
Bevölkerung contra autoritäre, technokra-
tische Verwaltung läßt sich die Sache über-
haupt nicht diskutieren. Die Bewohner
deutscher Stadtviertel pflegen sich in ihrer
überwiegenden Mehrheit keineswegs dafür
einzusetzen, daß die historischen Wunden
ihres Viertels offengehalten werden. Die äl
teren haben ihre Gründe, das Gewesene zu
vergessen; die jüngeren sind ahnungslos, für
sie ist der Faschismus sowieso so etwas ähn
liches wie das Mittelalter. Die wenigen Hin-
weistafeln und Denkmäler, die es über-
haupt im Stadtbild gibt, sind unvollstän-
dig, parteiisch, verharmlosend oder ein-
Fach wehleidig-passiv. Letzteres vor allem
unter dem Titel „In schwerer Zeit ...”;
parteiisch, weil die Linke dabei nicht vor-
kommt; unvollständig, so wenn in der Ber-
liner Kantstr. 152 auf Ossietzkis Nobel-
preis verwiesen wird, nicht aber auf das
KZ Oranienburg; verharmlosend, weil sie
mit den Greueln des Faschismus umge-
hen wie mit einer Hochwasserkatastrophe.
In den Arbeitervierteln gibt es die Erin-
nerungen an historische Kämpfe, Niederla-
gen, Verluste noch. Es gibt aber kein öf-
fentliches Gedächtnis, keine lebendige
Arbeiterorganisation, die die Örter kennt,
die Namen weiß. Die Erinnerungen gehö-
ren einzelnen oder kleinen Gruppen, die
sie, wenn man sie befragt, bereitwillig
weitergeben. Historiker, Videoleute, poli-
tische Gruppen halten fest, was sie erfah-
ren; zur Erfahrung der Bewohner des Vier-
tels insgesamt gehört es nicht mehr und
kann es in dieser Form der Konservierung
in einer immer fremderen Umwelt nicht
gehören. Dazu kommt ein zweites. Vier-
telgeschichte ist das, was jeder weiß, was
die Kinder schon hören und sich ausma-
len, es ist Teil der Selbstverständlichkeiten,
die den alltäglichen Verständigungen zwi-
schen den Bewohnern unterliegen. Mit
dem Abriß ganzer Häuserblocks zerreißt
auch dies Orientierungssystem, die Bevöl-
kerung wechselt, ganz unterschiedliche
Ebenen und Formen von Erfahrung des
Viertels kommen nebeneinander vor und
isolieren sich als Kommunikationsbarrie-
ren gegeneinander, deren Mehrheit auch
das Viertel als neues, nicht mehr oder
noch nicht kenntliches Objekt erfährt.
So stellt sich eine Erfahrungsstruktur
her, in der einzelne in bezug auf das Vier-
tel Erfahrungen suchen und machen.
Heute, in einer anderen kulturell-politi-
schen Konjunktur, wieder Geschichte auf
eben dieser rasierten Fläche herstellen zu
wollen, verstrickt unvermeidlich noch
tiefer in Verdrängung. Auch Bauten kön-
nen lügen; dann etwa, wenn sie saniert aus
den Händen einer Baugesellschaft hervor-
gehen, innen ausgeweidet und wiederaus-
gestopft; oder wenn, wie in der Linden-
straße geplant, Neubauten mit echten Fas-
sadenteilen alter, nicht einmal lokaliden-
tischer Bauten bestückt werden (Ephraim-
palais, Feilnerhaus). So entsteht eine Stadt-
geschichte ohne Opfer, ohne Zerstörungen,
multiplizierbar und alterslos: ein Stadtbild
ohne Geschichte. Es mag unbillig und ver-
kürzend sein, darauf hinzuweisen, daß die
entwerfenden Architekten (Krier, Ungers
u.a.) sich dabei der Ordnungsmuster und
Fassadenmotive eines Klassizismus bedie-
nen, der seinen Durchgang durch den Fa-
schismus nicht verheimlicht. Aber die
Pointe ist sachlich zu logisch, um unter-
drückt zu werden — klassischerweise die
Wiederkehr des Verdrängten.
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Die Geschichte des Viertels ist nicht ihre
Geschichte und ihnen unbekannt oder un-
greifbar. Das Viertel als Objekt ist etwas,
was für sie erst neu beschriftet, zu einem
Zusammenhang ihrer persönlichen Lebens-
geschichte werden muß. Das Viertel ist
dabei ein Objekt wie die Wohnung: ein
Punkt, der die partielle Ausformulierung
von Lebensidentität erlaubt. So entsteht
Kiezbewüßtsein: die Auffüllung eines
Stadtviertels mit persönlichen Bedürfnis-
sen, Aversionen, Erinnerungen und als
Wissenstoff erworbenen historischen
Kenntnissen. Der Kiez ist ein Nenner, um
Veränderungen abzuwehren, affektive Be:
ziehungen herzustellen, ein „,wir’” gegen
andere und gegen die Verwaltung zu for-
mulieren.
Aus der gemeinsam gelebten Viertelge-
schichte ist also die Aggregation von Be-
wußtseinseinstellungen geworden, die sich
in einem überschaubaren Wohnbezirk auf
den gemeinsamen Ort richten. Die vorge-
fallene Veränderung ist doppelt: es hat
sich die Erfahrungsstruktur geändert, und
damit Hand in Hand auch der Gegenstand
— aus der im Viertel gemachten Geschich-
te ist das mehr oder minder historische
Oder durch eigene Erfahrungen überhaupt
erst quasihistorisch zu besetzende Stadtge-
biet geworden. Damit hat sich der Ge-
schichtsbezug zutiefst geändert: am Vier-
tel hängt persönliche Geschichte. Die po-
litische, allgemeine Geschichte findet an-
derswo statt, in anderen Gegenden, Städ-
ten oder im Fernsehen, sie ist von da aus
prinzipell ortlos.
Die Arbeiterbewegung leistete, wenn
sie im Viertel präsent war, als Partei, Ar-
beitersportverein usw., die Vermittlung
von persönlicher Erfahrung und histori-
schem Prozeß, das, was man in anderen
Worten das Verhältnis von „‚kleiner” und
„großer”” Geschichte nennen könnte. Das
Neukölln der zwanziger Jahre beispiels-
weise (um in Berlin zu bleiben) war struk-
turiert durch die die Straßenzüge am Roll-
berg insgesamt besetzende politische Soli-
darität der Bewohner, die in den Kämp-
fen von 1919 und den Barrikaden von
1929 zugleich lokal und in Begriffen des
historischen Gesamtprozesses auftrat, eben-
so aber auch durch die Arbeitersportvereine,
die, wie das Beispiel Werner Seelenbinders
zeigt, diese Vermittlung auf ihrer Ebene
ebenfalls leisteten. Heute fehlt diese Ver-
mittlung. Der historische Prozeß ist für
die einzelnen gleich welcher sozialen Zuge-
hörigkeit, grundsätzlich abstrakt gewor-
den. Die Erfahrung, in die politische Tages-
dynamik weder eingreifen noch die grund-
sätzlichen Weichenstellungen auf sich be-
ziehen zu können, hat in den Vorstellun-
gen der einzelnen überhaupt den Bezug
auf die „‚große‘” Geschichte ausgelöscht,
insgesamt auch jede historische Vergan-
genheit, die ja erst recht nicht als eigene
vorstellbar ist, sondern ein kollektives
Subjekt braucht, um beziehbar zu sein.
Stattdessen baut sich aus den privaten Ob-
jektbeziehungen sekundär eine historische
Erfahrung auf, die individuell lebensge-
schichtlich beschränkt, aber auch in Be-
wegung gehalten, vor Abstraktion durch
zentrale Funktionalisieru ngen besser ge-
schützt ist. Mit ihr, nicht mit Hoffnungen