Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1978, Jg. 10, H. 37-42)

Vom naturwissenschaftlichen Typusbe- 
griff zum architektonischen Typus 
In Frankreich kommen die Impulse zur Ope- 
rationalisierung des Laugier’schen „Ursprungs- 
Ansatzes’ zur Entwicklung der Prinzipien der 
Architektur vor allem aus den Naturwissen- 
schaften. Linnaeus hatte in der Zoologie eine 
hierarchische Klassifikation eingeführt, Buffon 
postulierte 1753 einen „Prototyp für jede 
Gattung, nach dem jedes Individuum geformt 
ist”. (Karl Linnaeus,.Systema naturae, 1735; 
Georges Comte de Buffon, Histoire Naturelle, 
general et particuliere, Paris 1749-67) 
Diese Systeme basierten noch auf äußeren, 
„physiognomischen‘” Merkmalen, und nicht 
auf strukturellen Kriterien. Typus erscheint 
hier als eine formale, nicht als eine funktio- 
nale, strukturale, inhaltliche Kategorie. Inso- 
fern geht Blondel über die Reichweite dieser 
naturwissenschaftlichen Ansätze hinaus, als 
er in Analogie dazu 1771 in seinem „Cours 
d’architecture” eine Klassifikation der Ge- 
bäudegattungen vorlegt. Er listet die aus 
neuen gesellschaftlichen Anforderungen re- 
sultierenden Bauaufgaben — Theater, Schu- 
len, Krankenhäuser, Börsen, Fabriken, Aus- 
stellungshallen, Gefängnisse, Schlachthöfe, 
usw. — auf, und beschreibt diese Gattungen 
nicht nur formal nach ihrem ‚„‚Charakter”, 
der die Funktion (und darin wurden auch 
die kulturellen Konnotationen eingeschlos- 
sen) möglichst deutlich lesbar darstellen 
soll, sondern beschäftigt sich auch mit den 
Programmen der Gebäude, mit der räum- 
lich optimalen Organisation der Nutzungen, 
Typus oder Gattung bestimmt Blondel also 
doppelt: inhaltlich-funktional und formal- 
symbolisch. 
Funktionaler und formal-symbolischer 
Typus-Begriff 
Der Typus als eine artistische Konzeption 
und eine entwurfsmethodische Kategorie ent- 
wickelt sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahr- 
hunderts also mit zwei verschiedenen Akzen- 
tulerungen: a/s struktural-fFunktionaler Typus, 
der es erlaubt, Architekturgattungen nach 
primär funktionalen Kriterien zu unterscheiden 
und ‚für jede Gattung eine allgemeine, den in- 
haltlichen Anforderungen ideal entsprechende 
Ausprägung zu entwickeln, und als formaler 
Typus, als dem symbolischen Ausdruck einer 
nach ihrem Charakter von anderen unterschie- 
denen Gebäudegattung. Dieser formale Typus 
konkretisiert sich nicht in einem bei allen 
Exemplaren einer Gattung wiederkehrenden 
Grundrißschema, sondern in architektursprach- 
lichen Zeichen (Symbolen, Metaphern, Ana- 
logien), die weniger die primär funktionalen 
Gattungsmerkmale zur Sprache bringen, als 
vielmehr die „ewigen, „‚göttlichen’’ Ideen, die 
symbolischen Konnotationen, die die funktio- 
nalen Gattungsmerkmale transzendieren. 
Diese beiden Akzentuierungen des Typus- 
Begriffs finden ihre Herleitung und Legitima- 
tion in den Theorien über den Ursprung der 
Architektur. Sie beruhen beide auf der These, 
daß die gesamte Ausdifferenzierung der (funk- 
tional oder formal/symbolisch aufgefaßten} 
verschiedenen Gattungen (Charaktere) der Ar- 
chitektur als ein Prozeß der metaphorischen 
oder imaginativen Nachahmung eines allgemei- 
nen Archetypus, einer allen Gattungen gemein- 
samen Wurzel, zu verstehen ist. 
pen’ für verschiedene Themen zu ent- 
wickeln. In diesem Sinne ist die Wohnein- 
heit von Aldo Rossi im Gallaratese-Quar- 
tier als ein „Prototyp’’ in die Diskussion 
eingegangen und vielleicht auch zu ver- 
stehen. Gehen wir von dieser Einschät- 
zung aus, dann können wir sagen, -daß die 
originäre Leistung der Rationalen Archi- 
tektur darin liegt, zu verschiedenen The- 
men (Ordnungs)-Schemata vorzuschlagen, 
die auf die historischen Konstanten der 
Formbildung Bezug nehmen. 
Der Invariantenbegriff der Rationalen 
Architektur 
Diese immanente Tendenz zum Eklek- 
tizismus beruht u.E. im wesentlichen auf 
der Einführung eines Invariantenbegriffs 
in die Architektur, der auf historische 
Ordnungsmodelle der Architektur und 
Stadt zurückgeht und sowohl den Inhalt 
des Begründungsversuchs wie der Handha- 
bung dieses Architekturverständnisses bil- 
det. Er. beinhaltet: 
1) die Zurückführung der städtischen Mor- 
phologie auf die Invarianten der Stadtbil- 
dung, d.s. die Typen im historischen Sin- 
ne als ‘’syntaktische und semantische Ein- 
heiten‘ und 
2) die Einführung dieser Invarianten in die 
Architektur als die Strukturkonstanten der 
Architektursprache, d.s. die geometrischen 
Elementarformen oder morphologischen 
Archetypen u.a., wenn wir an Rossi oder 
Ungers denken. 
Die Einführung eines /nvarjantenbegriffs 
in die Architektur berührt u.E. das Kern- 
problem dieses Architekturverständnisses. 
Läßt sich nämlich die Annahme einlösen, 
daß die Architektur aus „autonomen Prin- 
zipien” folgt, die sich in ihrer Geschichte 
manifestieren, und die, wie zum Beispiel 
Das natürliche Modell: Laugiers Urhütte, 1753 
Aldo Rossi von der Typologie der Gebäu- 
de sagt, sich im Gegensatz zur Entwick- 
lung der sozialen Lebensweisen „seit der 
Antike nicht verändert” haben, dann ist 
jeder Zweifel an diesem Architekturver- 
ständnis unberechtigt, der umso berechtig- 
ter ist, wenn sich diese Annahme auf nichts 
anderes zurückführen läßt als auf eine blo- 
ße Behauptung. U.E. trifft letzteres auf die 
Rationale Architektur zu. 
Vergleichen wir zur Probe dieses Archi- 
tekturverständnis mit anderen, wie denen 
von Ungers oder Eisenman, dann können 
wir sehen, daß hier die morphologischen 
Archetypen (Ungers) oder die Universalien 
des Raumes (Eisenman) die Invarianten 
bilden, mit denen Ungers z.B. durch Varia- 
tion Reihen bildet, die sog. „„‚morphologi- 
schen Reihen”, die das wesentliche Instru- 
ment seines Versuchs darstellen, eine ar- 
chitektonisches ‚„‚Vokabular’’26) zu ent- 
wickeln. 
Zusammenfassend können wir sagen, 
daß sich die Rationale Architektur be- 
müht: 
1) die Architektur als einen Prozeß der 
Sprachbildung zu konzipieren, 
2) die Strukturen der Sprachbildung aus 
der Zurückführung der städtischen Morpho- 
logie auf ihre kulturellen Konstanten zu 
gewinnen, die sie als Invarianten der Ar- 
chitektursprache inkorporiert und 
3) den Bildungsprozeß von Architektur als 
einen Prozeß der Modifikationen von 
Strukturinvarianten bzw. des ‚‚,architekto- 
nischen Vokabulars”’ zu konzipieren, in 
dem die Funktionen als Anforderungen 
an die Form, die die Strukturinvarianten 
modifizieren, Berücksichtigung finden. 
Als erste Entwurfsrege/ der Rationalen 
Architektur können wir dann formulieren, 
daß das Entwerfen mit formalen Invarian- 
zen bedeutet: mit formalen Invarianzen 
und durch Modifikation der Invarianten 
(Funktion) die Architektursprache zu bil- 
den. 
DIE METHODEN DES SPRACHGE- 
BRAUCHS ALS BEDEUTUNGSBILDUNG 
Auf der Ebene des Sprachgebrauchs se- 
hen wir in den hier behandelten Architek- 
turkonzeptionen von Rossi oder Ungers 
u.a. eine Methode sich durchsetzen, die 
wir als Entwerfen mit subjektiven Vorstel- 
lungshildern der Stadt (\magos) bezeich- 
nen wollen. Diese Seite des Entwurfsver- 
ständnisses beinhaltet, die Stadt mit den 
Mitteln der Architektur ästhetisch zu re- 
konstruieren, um auf diese Weise den 
Prozeß der Sprachbildung durch den des 
Sprachgebrauchs zu ergänzen, den wir 
als einen Prozeß der subjektiven Bedeu- 
tungsbildung begreifen. 
Das kann zum Beispiel heißen: .,,due 
citta” (Rossi) oder die vorhandene Stadt 
und ihre ästhetische Rekonstruktion nach 
subjektiven städtischen Vorstellungen. 
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