Vom naturwissenschaftlichen Typusbe-
griff zum architektonischen Typus
In Frankreich kommen die Impulse zur Ope-
rationalisierung des Laugier’schen „Ursprungs-
Ansatzes’ zur Entwicklung der Prinzipien der
Architektur vor allem aus den Naturwissen-
schaften. Linnaeus hatte in der Zoologie eine
hierarchische Klassifikation eingeführt, Buffon
postulierte 1753 einen „Prototyp für jede
Gattung, nach dem jedes Individuum geformt
ist”. (Karl Linnaeus,.Systema naturae, 1735;
Georges Comte de Buffon, Histoire Naturelle,
general et particuliere, Paris 1749-67)
Diese Systeme basierten noch auf äußeren,
„physiognomischen‘” Merkmalen, und nicht
auf strukturellen Kriterien. Typus erscheint
hier als eine formale, nicht als eine funktio-
nale, strukturale, inhaltliche Kategorie. Inso-
fern geht Blondel über die Reichweite dieser
naturwissenschaftlichen Ansätze hinaus, als
er in Analogie dazu 1771 in seinem „Cours
d’architecture” eine Klassifikation der Ge-
bäudegattungen vorlegt. Er listet die aus
neuen gesellschaftlichen Anforderungen re-
sultierenden Bauaufgaben — Theater, Schu-
len, Krankenhäuser, Börsen, Fabriken, Aus-
stellungshallen, Gefängnisse, Schlachthöfe,
usw. — auf, und beschreibt diese Gattungen
nicht nur formal nach ihrem ‚„‚Charakter”,
der die Funktion (und darin wurden auch
die kulturellen Konnotationen eingeschlos-
sen) möglichst deutlich lesbar darstellen
soll, sondern beschäftigt sich auch mit den
Programmen der Gebäude, mit der räum-
lich optimalen Organisation der Nutzungen,
Typus oder Gattung bestimmt Blondel also
doppelt: inhaltlich-funktional und formal-
symbolisch.
Funktionaler und formal-symbolischer
Typus-Begriff
Der Typus als eine artistische Konzeption
und eine entwurfsmethodische Kategorie ent-
wickelt sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahr-
hunderts also mit zwei verschiedenen Akzen-
tulerungen: a/s struktural-fFunktionaler Typus,
der es erlaubt, Architekturgattungen nach
primär funktionalen Kriterien zu unterscheiden
und ‚für jede Gattung eine allgemeine, den in-
haltlichen Anforderungen ideal entsprechende
Ausprägung zu entwickeln, und als formaler
Typus, als dem symbolischen Ausdruck einer
nach ihrem Charakter von anderen unterschie-
denen Gebäudegattung. Dieser formale Typus
konkretisiert sich nicht in einem bei allen
Exemplaren einer Gattung wiederkehrenden
Grundrißschema, sondern in architektursprach-
lichen Zeichen (Symbolen, Metaphern, Ana-
logien), die weniger die primär funktionalen
Gattungsmerkmale zur Sprache bringen, als
vielmehr die „ewigen, „‚göttlichen’’ Ideen, die
symbolischen Konnotationen, die die funktio-
nalen Gattungsmerkmale transzendieren.
Diese beiden Akzentuierungen des Typus-
Begriffs finden ihre Herleitung und Legitima-
tion in den Theorien über den Ursprung der
Architektur. Sie beruhen beide auf der These,
daß die gesamte Ausdifferenzierung der (funk-
tional oder formal/symbolisch aufgefaßten}
verschiedenen Gattungen (Charaktere) der Ar-
chitektur als ein Prozeß der metaphorischen
oder imaginativen Nachahmung eines allgemei-
nen Archetypus, einer allen Gattungen gemein-
samen Wurzel, zu verstehen ist.
pen’ für verschiedene Themen zu ent-
wickeln. In diesem Sinne ist die Wohnein-
heit von Aldo Rossi im Gallaratese-Quar-
tier als ein „Prototyp’’ in die Diskussion
eingegangen und vielleicht auch zu ver-
stehen. Gehen wir von dieser Einschät-
zung aus, dann können wir sagen, -daß die
originäre Leistung der Rationalen Archi-
tektur darin liegt, zu verschiedenen The-
men (Ordnungs)-Schemata vorzuschlagen,
die auf die historischen Konstanten der
Formbildung Bezug nehmen.
Der Invariantenbegriff der Rationalen
Architektur
Diese immanente Tendenz zum Eklek-
tizismus beruht u.E. im wesentlichen auf
der Einführung eines Invariantenbegriffs
in die Architektur, der auf historische
Ordnungsmodelle der Architektur und
Stadt zurückgeht und sowohl den Inhalt
des Begründungsversuchs wie der Handha-
bung dieses Architekturverständnisses bil-
det. Er. beinhaltet:
1) die Zurückführung der städtischen Mor-
phologie auf die Invarianten der Stadtbil-
dung, d.s. die Typen im historischen Sin-
ne als ‘’syntaktische und semantische Ein-
heiten‘ und
2) die Einführung dieser Invarianten in die
Architektur als die Strukturkonstanten der
Architektursprache, d.s. die geometrischen
Elementarformen oder morphologischen
Archetypen u.a., wenn wir an Rossi oder
Ungers denken.
Die Einführung eines /nvarjantenbegriffs
in die Architektur berührt u.E. das Kern-
problem dieses Architekturverständnisses.
Läßt sich nämlich die Annahme einlösen,
daß die Architektur aus „autonomen Prin-
zipien” folgt, die sich in ihrer Geschichte
manifestieren, und die, wie zum Beispiel
Das natürliche Modell: Laugiers Urhütte, 1753
Aldo Rossi von der Typologie der Gebäu-
de sagt, sich im Gegensatz zur Entwick-
lung der sozialen Lebensweisen „seit der
Antike nicht verändert” haben, dann ist
jeder Zweifel an diesem Architekturver-
ständnis unberechtigt, der umso berechtig-
ter ist, wenn sich diese Annahme auf nichts
anderes zurückführen läßt als auf eine blo-
ße Behauptung. U.E. trifft letzteres auf die
Rationale Architektur zu.
Vergleichen wir zur Probe dieses Archi-
tekturverständnis mit anderen, wie denen
von Ungers oder Eisenman, dann können
wir sehen, daß hier die morphologischen
Archetypen (Ungers) oder die Universalien
des Raumes (Eisenman) die Invarianten
bilden, mit denen Ungers z.B. durch Varia-
tion Reihen bildet, die sog. „„‚morphologi-
schen Reihen”, die das wesentliche Instru-
ment seines Versuchs darstellen, eine ar-
chitektonisches ‚„‚Vokabular’’26) zu ent-
wickeln.
Zusammenfassend können wir sagen,
daß sich die Rationale Architektur be-
müht:
1) die Architektur als einen Prozeß der
Sprachbildung zu konzipieren,
2) die Strukturen der Sprachbildung aus
der Zurückführung der städtischen Morpho-
logie auf ihre kulturellen Konstanten zu
gewinnen, die sie als Invarianten der Ar-
chitektursprache inkorporiert und
3) den Bildungsprozeß von Architektur als
einen Prozeß der Modifikationen von
Strukturinvarianten bzw. des ‚‚,architekto-
nischen Vokabulars”’ zu konzipieren, in
dem die Funktionen als Anforderungen
an die Form, die die Strukturinvarianten
modifizieren, Berücksichtigung finden.
Als erste Entwurfsrege/ der Rationalen
Architektur können wir dann formulieren,
daß das Entwerfen mit formalen Invarian-
zen bedeutet: mit formalen Invarianzen
und durch Modifikation der Invarianten
(Funktion) die Architektursprache zu bil-
den.
DIE METHODEN DES SPRACHGE-
BRAUCHS ALS BEDEUTUNGSBILDUNG
Auf der Ebene des Sprachgebrauchs se-
hen wir in den hier behandelten Architek-
turkonzeptionen von Rossi oder Ungers
u.a. eine Methode sich durchsetzen, die
wir als Entwerfen mit subjektiven Vorstel-
lungshildern der Stadt (\magos) bezeich-
nen wollen. Diese Seite des Entwurfsver-
ständnisses beinhaltet, die Stadt mit den
Mitteln der Architektur ästhetisch zu re-
konstruieren, um auf diese Weise den
Prozeß der Sprachbildung durch den des
Sprachgebrauchs zu ergänzen, den wir
als einen Prozeß der subjektiven Bedeu-
tungsbildung begreifen.
Das kann zum Beispiel heißen: .,,due
citta” (Rossi) oder die vorhandene Stadt
und ihre ästhetische Rekonstruktion nach
subjektiven städtischen Vorstellungen.
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