fundierten Bild von archaischen Gesell-
schaften wiederherzustellen.
Die sozial-therapeutische Verwen-
dungsweise der Geschichte ist von be-
grenztem Interesse, dient sie doch nur
als ein Geleitbrief für jene wenigen, de-
ren Zuviel an architektonischem Puris-
mus und formalistischen Eskapaden auf
ihr schlechtes soziales Gewissen schlie-
Ben 1äßt. Mehr noch, es ist durchaus
nicht klar, wie diese Suche zu unterneh:-
men wäre oder was für eine Form die-
se „Struktur’’, wäre sie einmal gefun-
den, hätte. In anderen Worten: Es gibt
keine Gewähr dafür, daß dieses Unterneh
men nicht in Nutzlosigkeit endet und es
gibt nichts, um die Gültigkeit seiner Re-
sultate zu garantieren.
Letzlich ähnelt dieses scheinwissen-
schaftliche Denken trotz allem Anti-
Funktionalismus ironischerweise dem
der Funktionalisten. In der Vergangen-
heit ließen sich funktionalistische Ent-
würfe durch freie Bezüge zu den Inge-
nieurwissenschaften legitimieren; nun-
mehr suchen einige Entwerfer diese Le-
gitimation in der Linguistik und im Hi-
storizismus. Es muß hinzugefügt wer-
den, daß funktionalistische Entwürfe —
Jörn Utzons Entwurf für das Opern-
haus in Sidney ist hierfür ein beredtes
Beispiel — sich den Ingenieurwissen-
schaften in demselben Ausmaße näher-
ten, wie sich heute die Architektur der
Linguistik nähert. Das ist schließlich
nicht allzu viel.
Die Architektur muß zur Legitima-
tion ihrer Produkte jenseits des Charis-:
mas und der Überredungskunst andere
Argumente finden. Die Erfahrung lehrt,
daß die Antwort hierfür weder in einem
naiven Glauben an spontane Partizipa-
tion noch in einer beinahe willkürlich
verwendenden systemtechnischen Rede-
weise zu finden ist. Nur vertiefte Un-
tersuchungen über die sozialen Aus-
wirkungen von Architektur lassen die
Architektur zu einem unentbehrlich
erforderlichen Aufgabenfeld werden;
d:h. einem Aufgabenfeld, das zurande
Kommt mit der Produktion materieller
Gegenstände, der Erstellung einer Kon-
trollierten künstlichen Umwelt, deren
Ziel letztlich humanistisch ist; humani-
stisch in dem Sinne, daß es sich auf die
Verbesserung der menschlichen Lebens-
bedingungen und die Qualität der men
menschlichen Lebensverhältnisse rich-
tet.
Übersetzung: Gerhard Fehl und
Nikolaus Kuhnert
Anmerkungen
. Die Literatur zu diesem Thema weitet sich
ständig aus. Eine große Anzahl von Archi-
tekturzeitschriften hat sich dieser Aufga-
be gewidmet, insbesondere L ‘Architec-
ture d’Aujourd’hui, Architectural Design,
Lotus und Oppositions. Einige der ersten
Beiträge, die diesen Gesichtspunkt verfolg
ten, waren:
o Eisenman, Peter, „‚Notes on Concep-
tual Architecture, Towards a Definition”,
in: Casabella No. 359-360,
Oo Rowe, Colin, „„Lollage City”, in: Archi-
tectural Review, Aug. 1975, S. 66-90,
Oo Stern, Robert, „‚Stomping at the Sa-
voye”, in: Forum, Mai 1973, S. 46-48,
o Robertson, J., ‚‚Machines in the Gar-
den”, in: Forum, Mai 1973, S. 49-53,
o Tafuri, Manfredo, ‚American Graffiti”
in: Oppositions Five, MIT, S. 36-73,
0 Frampton, Kenneth, „„Frontality vs.
Rotation”, in: Five Architects, S. 9-13,
9 Giurgola, Roman, „The Discreet
Charme of the Bourgeoisie”, in: Forum,
Mai 1973, S. 56-57.
Scolari, Massimo, „‚Les Apories de |’Archi-
tecture”, in: L’Architecture d’Aujourd’hui,
Nr. 190, April 1977, S. 89 15
Huet, Bernard, „‚Formalisme, Realisme”’,
in: L’Architecture d’Aujourd’hui, Nr. 190,
April! 1977, S. 35-36
Zitiert nach Rossi, Aldo, „‚Entretien avec 16
Aldo Rossi”, in: L’Architecture d’Aujourd’
hui, Nr. 170, April 1977, S. 41-43
Aymonino, Carlo, „Une Architecture de
\"Optimisme”, in: L’Architecture d’Au-
j1ourd’hui, Nr. 190, April 1977, S. 46
Tzonis, Alex, Lefaivre, Liane, „In de
Naam van het Volk”, The Populist Move-
ment in Architecture, in: (Holl.) Forum,
Nr. 3, 1976; deutsch: „Im Namen des
Volkes’, in: Bauwelt, 1/1975
Tzonis, Alex, Lefaivre, Liane, „History
of Architecture as Social Science”, Semi
narunterlagen der Konferenz, die unter
dem gleichen Titel am Kunsthistorisch
Instituut der Rijksuniversiteit, Utrecht,
zwischen dem 16.-19. Mai 1977 abgehal!
ten wurde, Veröffentlichung Utrecht
Juni 1978
Zwei ausgezeichnete Beiträge über die
Architektur der fünfziger Jahre sind: Col-
lins, Peter, „Historicism”, in: Architec-
tural Review (762), Aug. 1960; und Jor-
dy,W.H., „The Formal Image U‚S.A., in:
Architectural Review, März 1960, S. 157
165
Reyner Baham hat sich jüngst zur „Kritik
an Pevsner‘ geäußert, in: Times Literary
Supplement, Febr. 17, 1978, S. 191; Ban-
hams stilistische Analysen der modernisti-
schen Architektur sind mit großem Erfolg
ausgeführt in: Banham, Reyner, „Theorie
und Design im Maschinenzeitalter””
Dieser Gesichtspunkt wird entwickelt in:
Horn-Oncken, Alste, „‚Über das Schickli-
che”, Studien zur Geschichte der Archi-
tekturtheorie, Abhandlungen der Akade-
mie der Wissenschaften in Göttingen,
1967; Vgl. auch Wittkower, Rudolf, Born
under Saturn.
Zur Sellung der Architekten gegenüber
dem Maler äußert sich Alberti in seinen
Schriften. Er sieht den Architekten dem
Maler untergeordnet, ‚weil der Architekt
(die Elemente der Komposition) dem Ma
ler entlehnt hat, all die ... wunderbaren
zeichen des Gebäudes”. Vgl. zu diesem
Aspekt auch: Lotz, Wolfgang, „Das Raum-
bild in der Architekturzeichnung der Ita-
‚‚enischen Renaissance”, Mitteilungen des
Kunsthistorischen Instituts in Florenz, 7,
1956. Anstrengungen des Architekten,
eine höhere Verantwortlichkeit für den
Entwurf in Anspruch zu nehmen, können
irritierende Rraktionen seitens der ande-
ren Gruppen hervorrufen, wie der berühm
te Streit zwischen Ben Jonson und Inigo
Jones, wo der Dichter die Versuche des
Architekten, das Universum durch seine
Entwürfe einzufangen, mit denen eines
„Meisterkoches”’ verglichen hat, der über-
zeugt ist, daß er „die Natur im Topf hat’
vgl. Gordon, D.J., „‚Poet and Architect”,
in: Journal of Warburg C, Institut, Vol.
XIl, 1949
Eine interessante Debatte über die Frage
der Avant-garde in Bezug auf die jüngste
Phase der Architektur wurde im Rahmen
der internationalen Konferenz geführt,
die unter dem gleichnamigen Titel im De-
zember 1977 an der Technischen Univer-
sität von Eindhoven stattfand; vgl. die
Veröffentlichungen der T.H. Eindhoven,
1978
Freud, Sigmund, „‚Totem und Tabu”,
1913, S. 84; Zu einer anderen interessan-
ten Diskussion über den Narzismus von
Kindern vgl. Piaget, J., The Child’s Con-
zeption of the world, 1929
I 4
3
12
13 Dieser Gesichtspunkt wird deutlich von
Frampton ausgeführt, Frampton, Kenneth,
„Two or three things | know about them“,
ın: Architectural Design, vol. 47. No. 1977
5. 315-318
Zum literarischen Werk der Precieux vgl.
Niderst, A,, „Madeleine de Scudery, Paul
Pellisson de leur Monde”, Paris, 1976, Un-
glücklicherweise ist bisher noch keine so-
zial-ökonomische Studie über die Pre-
cieux veröffentlicht worden,
Die weitreichendste Kritik der jüngsten
Phase der Architektur ist: Pommer, R.,
„The New Architectural Suprematists”,
in: Art Forum, Okt. 1976, S. 38-43
Durkheim, Emil und Maus, Marcel, „‚De
Quelques Formes de Classification”,
Annees Soziologique, Vol. VI. 1901-02,
Paris, S. 1-72.
Die gegenwärtige sozial-psychologische
Literatur, ob sie nun amerikanischen Ur-
sprungs ist wie die Arbeiten von Mead,
G.H., „Mind, Self and Society”, 1934, und
Parsons, T., „The Social System”, 1951,
oder ob sie sich in die deutsche Tradi-
tion der Wissenssoziologie einordnet wie
die Schriften von Mannheim, Karl! oder
Elias, Norbert, oder ob sie sich auf die
französisch inspirierte „histoire de men-
talittes’’ bezieht, hat die fundamentale
Hypothese des Narzismus verworfen, näm:
lich das „‚Wunsch”’ und ‚Vergnügen‘ In-
dividualkategorien sind und nicht Resul-
tage eines kollektiven Prozesses