Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1978, Jg. 10, H. 37-42)

Als regressiv sehen wir dagegen das die- 
sen Kunstanspruch stützende Kunstver- 
ständnis an. Wir meinen die ausschließli- 
che Konzentration auf die Subjektivität 
des Entwerfenden und die vorrangige 
Orientierung an der Form, die schon mit 
der Entwurfshaltung und dem Formver- 
ständnis alle Fragen ausschließen, die nicht 
die singulären Probleme des Entwerfen- 
den und der Form betreffen. Damit wol- 
len wir nicht den Subjektivismus und 
Formalismus der Rationalen Architektur 
unnötig denunzieren. Ganz im Gegenteil. 
Trotzdem sehen wir in ihnen die Gefahr, 
daß das, was an emanzipatorischen Po- 
tentialen in diesem Architekturverständ- 
nis enthalten ist, aufgrund der Singulari- 
tät und der Struktur seines Begründungs- 
versuchs in einer bloßen Verkleidung der 
gesellschaftlichen Verhältnisse stecken- 
bleibt, die der gesel/schaftlichen Tendenz 
zur Restaurierung bürgerlicher Lebensver- 
hältnisse die Sprache der Restauration 
leiht. 
Nicolaus Kuhnert, Stephan Reiß-Schmidt 
Einige Anmerkungen mußten aus Gründen der 
Kürzung entfallen. 
I) Vgl. die Monographien zu den Architek- 
ten Robert Venturi, Aldo Rossi, Oswald 
M. Ungers und Peter D. Eisenman in 33, 
34 und 35 ARCH+, 1977. 
Vgl. den Katalog der ‚,Internationalen 
Architekturausstellung der XV. Mailänder 
Triennale‘, Architettura Razionale, hrsg. 
von E. Bonfanti, R. Bonicalzi, A. Rossi, 
M. Scolari, D. Vitali, Franco Angeli Edito- 
ri, 1973. 
Vgl. Aldo Rossi, Einleitung zu E.L. 
Boullee, in: Etienne Louis Boullee, Archi- 
tettura, Saggio sull’Arte, Marsilio Editori 
Padova, 1967. 
Zur Rationalen Architektur rechnen sich 
Carlo Aymonino, Girogio Grassi, Aldo 
Rossi, Massimo Scolari, um nur die pronon- 
ziertesten Vertreter der ‘italienischen Rich- 
tung’ dieses Architekturverständnisses an- 
zusprechen, die Gebrüder Krier, Josef 
Paul Kleihues, Oswald M. Ungers, Peter 13) 
D. Eisenman, Charles Gwathmey, Michael 
Graves, John Hejduk, Richard Meier u.a. 
Vgl. Architettura Razionale, a.a.O., ver- 
schiedene Nummern der Zeitschriften ar- 
chithese, Controspazio, Oppositions, die 
Dortmunder Architekturhefte, insbeson- 
dere die Nummern 2 und 3. 
Der Begriff „‚rationalismo esaltato’‘ 1äßt 
sich in etwa mit emphatischem Rationa- 
lismus übersetzen. Als Bestimmungen des 
emphatischen Rationalismus führt Aldo 
Rossi an: „„... in der Realität konstituiert 15) 
der logische Bildungsprozeß von Architek- 
tur die Disziplin — in einem gegensätzli- 
chen Sinne aber zu jenem der antiken und 
modernen funktionalistischen Traktate — 
den theoretischen und praktischen Korpus 
der Architektur, ohne sich mit den Resul- 
taten der Architektur zu identifizieren. 
Sicherlich fordert der konventionelle Ra- 
tionalismus’ alle architektonischen Pro- 
zesse aus Prinzipien herzuleiten, während 
der emphatische Rationalismus von Boullee 
u.a, von einem Vertrauen ausgeht, das das 
System erhellt, ohne ihm äußerlich zu sein. 
Es gibt daher einerseits die größte Auto- 
nomie des Systems, die Klarheit der Gedan- 
ken und andererseits die autobiographische 
Singularität der Erfahrungen. Und natür- 
lich ist diese Beziehung besonders kom- 
plex in der Architektur ... 
Ich glaube heute, daß das authentische 
Problem der Architektur in der Bildung die 
ses logischen Systems liegt, eines Systems, 
das in sich gültig und unabhängig von den 
Meinungsverschiedenheiten zwischen dem 
wissenschaftlichen Verständnis von Archi- 
tektur und der Kunst, von Differenzen, die 
vom konventionellen Rationalismus geleug- 
net, während sie vom emphatischen Ratio- 
nalismus akzentuiert werden ... 
In diesem Sinne werde ich von einem 
emphatischen, emotionalen und metapho- 
rischen Rationalismus sprechen. Es bleibt 
jedenfalls, daß einzig ein authentischer Ra- 
tionalismus — als Entwicklung einer Logik 
der Architektur — die alten funktionalisti- 
schen Fehler und die neuen Fabeln von der 21) 
Architektur als einer interdisziplinären 22) 
Disziplin über winden kann, denn die Archi- 23) 
tektur wurde immer durch einen — prak- 
tisch und theoretisch — gut definierten 
Korpus gebildet, der durch die komposi- 25) 
torischen, typologischen und distributi- 
ven Probleme des Studiums der Stadt u.a. 
konstituiert wurde. Dieser Korpus der Ar- 
chitektur umfaßt all die gedachten, gezeich- 
neten oder konstruierten Werke, von de- 
nen wir Kenntnis haben ... 
Es ist dieser Korpus der Architektur, der 
in seinen allgemeinsten Formen die rationa- 
listische Haltung in bezug auf die Architek- 26) 
tur und ihren Bildungsprozeß bestimmt und 
das Vertrauen in die Möglichkeit einer Leh- 
re begründet, daß die Welt der Formen eben- 
so logisch und präzise zu bestimmen ist wie 30) 
jeder andere Aspekt des architektonischen 
Phänomens ... 
Ebenda., 
Sprachbildung und Sprachgebrauch unter- 
scheiden wir entsprechend der Saussure- 
schen Terminologie: 1) Sprache (langue): 
„das Sprachsystem, ... das (seinem) Wesen 
nach sozial und vom Individuum unabhän- 
gig ist‘ und das das „’Wörterbuch‘ der 
Zeichen und Regeln bildet”. 2) Sprachge- 
brauch (parole): ,, ... die aktuell konkrete 
Rede, der das Sprachsystem zugrundeliegt.”” 
aus: Theodor Lewandowski, Linguistisches 
Wörterbuch, Langue, Parole; Universitäts- 
taschenbücher, Quelle und Meyer, Heidel- 
berg, 1975. 
Istituto universitario di Architettura di 
Venezia; Rapporti tra la morfologia urba- 
na e la tipologia edilizia, Editrice Cluva 
Venezia 1966; dieser Tagungsbericht ent- 
hält u.a. Beiträge von Carlo Aymonino, 
Fabbri und Aldo Rossi. 
Facolta di Architettura del Politecnico di 
Milano, Gruppo di recerca diretto da Aldo 
Rossi: L’Analisi urbana e la progettazione 
architettonica, clup, Milano 1974, u.a. mit 
Beiträgen von Franco Apra, Giorgio Grassi 
und Aldo Rossi. 
Carlo Aymonino, II Significato della Citta, 
Laterza, 1976, S. 18. 
Mit prozeßbezogenem Entwerfen beziehen 
wir uns auf verschiedene Versuche, wie 
wir sie u.a. mit dem Konzept der Lehrbau- 
spiele vorgeschlagen haben. Mit den Lehr- 
bauspielen haben wir versucht, Entwurfs- 
didaktiken zu entwickeln, die umfassen: 32) 
a) Didaktiken des Entwerfens, d.i. die Kon- 33) 
stituierung und Auflösung einer relativen 34) 
Autonomie des Entwurfs im Prozeß des 
Entwerfens (Konfliktentwurf), 
b) Didaktiken des Entwurfs, d.i. die Pro- 
blemformulierung und Problemauflösung 
in der Sprache der Architektur durch ver- 
schiedene Formen der Kommentierung 
(Medienkombination) und 
d) Didak tiken des Sprachgebrauchs, d.i. 
die Konstituierung und Auflösung der 
Realitätsebenen von Architektur. 
Vgl. Lehrbauspiele. Architektur als politi- 
sches Medium, in: 30 ARCH+; Lehrbau- 
spiele Haaren — ein Werkbericht, in: 
33 ARCH+; Entwurfskompendium |, 
Lehrstuhl Planungstheorie, 1978; Fuhr- 
mann, Mailandt, Reiß-Schmidt, Weicken, 
Planerische Strategien zur Erhaltung und 
Verbesserung innerstädtischer Mischge- 
biete, Diplomarbeit am Lehrstuhl Pla- 
nungstheorie. 
Carlo Aymonino. II Significato della Citta, 
a.a.O0.S. 145 ff. 
Aldo Rossi, L’Architettura della Citta, 
a.a.0., 5.57 ff: 
Aldo Rossi, L‘Architettura della Citta, 
a.a.0., 5.3. 
Ebenda, S. 32. 
Ebenda. 
Carlo Aymonino, Lo Studio dei Fenome- 
ni urbani, in: La Citta di Padova, Officina 
Edizioni, 1972, S. 23ff. 
Die Bestimmung des Modellbegriffs von 
Rossi folgt derjenigen von Quatremere de 
Quincey. Quincey spricht von dem Mo- 
dell als „‚ein(em) Objekt, das so, wie es 
ist, wiedergegeben werden muß‘. Im Ge- 
gensatz zum Typus ist es „eine zu (imi- 
tierende) und zu kopierende ... Sache.” 
in: Aldo Rossi, L’Architettura della Citta, 
Ss. 31. 
Vgl. Entwurfskonpendium |, Aus dem 
Chaos der Stadt Lernen? Die Formprinzi- 
pien der Architektur Oswald M. Ungers, 
in: 35 ARCH+, S. 46/47. 
Bei der „‚c/tta analoga geht es „um die 
theoretischen Fragen des Entwurfs: das 
meint den kompositorischen Vorgang, der 
sich auf einige fundamentale Faktoren 
stützt und ihnen im Rahmen eines analo- 
gen Systems andere hinzufügt. Um dieses 
Konzept zu illustrieren, habe ich einige 
Beobachtungen über Canalettos Ansicht 
von Venedig gemacht ... wo der palladia- 
nische Entwurf für die Rialtobrücke, die 
Basilika und der Palazzo Chiericati anein- 
ander angenähert und so dargestellt sind, 
als wenn das Bild eine von Canaletto 
beobachtete städtische Situation wieder- 
geben würde. Die drei palladianischen 
Monumente, von denen nur eines ein Ent- 
wurf geblieben ist, konstituieren so ein 
analoges Venedig, dessen Struktur (forma- 
zione) durch bestimmte Elemente und . 
durch das Erbe der Geschichte der Archi- 
tektur wie der Stadt gebildet wird. Die 
geographische Umstellung der Monumen- 
te zu einem Entwurf konstituiert eine 
Stadt, die wir kennen, abwohl sie nur 
den Ort der reinen architek tonischen Wer- 
te wiedergibt ... Eine ‘Collage’ der palladia- 
nischen Architekturen, die eine neue 
Stadt bilden und die durch diesen Bil- 
dungsprozeß sich selbst konstituieren.” 
Aldo Rossi, L’Architettura della raglone 
come architettura di tendenzo, in: Scritt! 
scelti sull‘ architettura e la Citta, S. 370. 
Vgl. Entwurfskompendium |. Aus dem 
Chaos der Stadt lernen? Die Formprin- 
zipien der Architektur Oswald M. Ungers, 
in: 35 ARCH+, S. 46/47. 
Ebenda.,. 
Ebenda, ne 
Vgl. dazu Carlo Aymonino, |! ST 
della Citta, a.a.O., S. 18 ff. 
1
	        

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