Carlo Aymonino
Die Herausbildung des Konzepts
der Gebäudetypologie
“ Dieser Beitrag von Carlo Aymonino
wurde ebenfalls auf der Tagung des
Istituto Universitario di Architettura di
Venezia‘ gehalten. Wir haben ihn ausge-
wählt, um der apodiktisch verkürzten Po-
sition von Aldo Rossi zum Typenbegriff
eine historisch fundierte Position entge-
genzustellen, die den Typusbegriff aus der
Entwicklung der gesellschaftlichen Bedürf-
nisse herleitet und verfolgt, wie wiederum
der so entstandene Gebäudetypus die Ent-
faltung der gesellschaftlichen Bedürfnisse
bestimmt.
Den zweiten Teil dieses Beitrages, der
sich mit dem Typus-Verständnis der funk-
tionalistischen Bewegung beschäftigt, wer-
den wir in 38 ARCH+ veröffentlichen, um
die Diskussion um den Typusbegriff, die
wir mit dieser Nummer von ARCH*+ eröff-
nen, um die Fragen zu erweitern, die von
der funktionalistischen Bewegung einge-
führt worden sind und die das traditio-
nelle Typusverständnis der bürgerlichen
Architektur im Kern in Frage stellen.
In den letzten zehn Jahren hat der leb-
hafteste und am meisten politisierte Teil
der italienischen Architekturkultur eine
Neuuntersuchung der Probleme seiner Dis-
ziplin begonnen, indem er diese anders
als aus der Sicht einer vereinfachenden
und immer „‚progressiven’” Geschichte der
Formen oder einer berichtenden Geschich-
te kultureller Bewegungen interpretiert.
Sie bemüht sich stattdessen, die Probleme
der Architektur in Beziehung zu einer
Analyse der städtischen Strukturen zu
setzen, die als eine veränderbare, aber in
der Zeit konstante Beziehung zwischen
Gebäudetypologie und städtischer Mor-
Dhologie verstanden werden. Um diese
Beziehung zwischen Gebäudetypus und
städtischer Form zu verstehen — in den
Verflechtungen, die diese in bezug auf die
Methoden des architektonischen Entwer-
fens haben könnte —, Ist es notwendig,
das Konzept der Gebäudetypologie in
seinen geläufigen Bedeutungen, die fast
immer instrumentellen Charakters sind,
und in seinen theoretischen Präzisierun-
gen, die erst kürzlich versucht worden
sind, zu definieren. Die Definition bedingt
deshalb eine Untersuchung der Ursachen
und Fakten, die zur Bildung eines derar-
tigen Konzeptes beigetragen haben.
Es interessiert also, zu untersuchen, ab
Wann und warum man beginnen kann,
von Gebäudetypus im heutigen Sinn zu
sprechen, um damit die Auswirkungen zu gerlichen Gesellschaft gesehen werden, die
erkennen, die uns noch heute nicht nur sich in ihren komplexen Artikulationen
in den operativen Aspekten, sondern vor nicht von einem auf den anderen Tag ent-
allem auch in denen der angewandten For- wickelt hat, sondern die sich im Laufe von
schung betreffen. mehr als vierhundert Jahren organisiert und
Ich möchte sagen, daß es hier nicht realisiert hat. Obwohl z.B. die Bank von
darum geht, den Bautypus an sich oder Amsterdam von der Stadt im Jahre 1609
bezogen auf die geschichtliche Abfolge gegründet worden ist und zur selben Zeit
eines architektonischen Themas (das Haus, die Börse die von der Westindischen Gesell-
das Theater, die Kirche usw.) zu definie- schaft2) herausgegebenen Wertpapiere han-
ren — Definitionen, die unvermeidlich zu delte, müssen wir doch bis auf das Jahr
Klassifikationen und zu Handbüchern mit 1808 warten, damit die Bauarbeiten an
dem Charakter von Beispielsammlungen der Börse von Paris beginnen können.
führen würden —, als vielmehr darum, (Die erste Börse wurde 1717 in der Bank
die Herausbildung eines Konzeptes der von John Law in der Rue Quincampoise
Gebäudetypologie zu untersuchen, das geschaffen; diese Aktivität — die wir zu
— indem es sich zur städtischen Morpho- Beginn als spontan definieren können, da
logie in Beziehung setzt — erlaubt, die sie notwendig, aber nicht unabdingbar
Struktur der modernen und zeitgenössi- war — fand in der folgenden Zeit im Pa-
schen Stadt zu bestimmen. last Mazarine statt, dann, in der Zeit von
Es ist auch ersichtlich, daß die typolo- 1795 bis 1809, in der Kirche Notre-Dame
gische Definition theoretische Absichten de la Victoire am Palais Royal; die Börse
verfolgt, aber diese können ihrerseits nicht von London, gegründet 1773, findet eine
von den demonstrativen und anwendungs- endgültige typologische Ausbildung erst
orientierten Möglichkeiten absehen. im sahre 1853 in dem von Soane entwor-
Das zu untersuchende Gebiet kann al- fenen Gebäude.)
so auf das 18. Jahrhundert und die folgen: In diesem langsamen Prozeß der Charak:
den eingegrenzt werden, auf die Periode terisierung können wir den Ursprung des-
der Entstehung der kapitalistisch-bürgerli- sen erkennen, was wir als kollektive Aus-
chen, der industriellen Stadt, wobei diese stattung definiert haben; d.h. das Entste-
ihrerseits wieder die Matrix der zeitgenös- hen neuer Bedürfnisse — bestimmt durch
sischen Stadt bildet. Innerhalb dieses Fel- die ökonomische, politische und soziale
des dürfte die Untersuchung einiger heraus- Entwicklung einer historisch definierten
ragender Momente, die die Definition des Gesellschaft, nämlich der bürgerlichen —,
Konzeptes präzisieren, seine Gültigkeit be- die sich zu organisierten Aktivitäten ent-
stätigen. wickeln und damit sozial notwendig wer-
Wir können das Werk der französischen den. (Es gibt nämlich keine metaphysi-
Architekten der Aufklärung — Boullee, sche Grenze der Bedürfnisentwicklung,
Lequeu, Ledoux1) — als ersten Beitrag zur sondern nur eine relative Grenze, die
Präzisierung von Prototypen begreifen (Pro- durch die produktive Entwicklung aufer-
totyp verstanden als erstes Exemplar), die, legt ist: hier liegt der Zusammenhang
vor allem in vielen der nicht realisierten Pro zwischen Bedürfnissen und aus ihnen fol-
jekte, vollkommen neue architektonische genden Aktivitäten.) Erst wenn diese Ak-
Manufakte vorschlugen und ihnen eine neue tivitäten ein komplexeres und ausgepräg-
Form gaben. Und zwar in dem Sinne, daß teres Stadium ihrer Organisation erreicht
einige Aktivitäten (die in diesen Manufak- haben, mit der daraus folgenden Tendenz,
turen ihre geeignetste Darstellung gefun- definitive Aktivitäten zu werden, d.h.
den hätten), auch wenn sie sich tatsächlich stabil bezüglich eines bestimmten Zeit-
oder teilweise schon in vorhandenen Räu- raumes, entsteht das anderweitige Bedürf-
men oder Gebäuden, die diesem Zwecke nis — ein Bedürfnis, welches sich von dem
angepaßt oder für ihn umgewandelt wor- primären, das zu einer bestimmten Akti-
den waren, abspielten, nur durch das vität führt, unterscheidet — ein geeignetes
Werk jener Architekten einen Prozeß voll- bauliches Manufakt zu realisieren, das in
ständiger Entwicklung erfuhren: sie wur- der Lage ist, durch seine eigene architekto-
den somit die ersten Exemplare von Ge- nische Präsenz jene Aktivitäten zu unter-
bäudemanufakturen, die vorher nicht exi- stützen und weiterzuentwickeln. Erst an
stierten. Dieser Prozeß muß natürlich im- diesem Punkt der Entwicklung können
mer im Rahmen der Entwicklung der bür- wir von kollektiver Ausstattung als dem
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