gleichzeitig durch ihre eigene Gegenwart
die Pulverisierung der städtischen Struk-
tur und öffnen den Hypothesen über die
Autosuffizienz der Wohngebiete (Quar-
tiere) als numerischer, aber auch „‚kom-
positorischer’”” Faktor gegenwärtiger Sied-
lungen den Weg.
Es ist Tony Garniers Projekt der Cite
industrielle, wo wir das Moment einer
Synthese zwischen so augenscheinlichen
Widersprüchen finden; die Projekte der
einzelnen Gebäude behalten, einzeln be-
trachtet, in der Tat die typologischen
Charakteristika der äußeren Anlage und
der inneren Anordnungen — der Realisie-
rungen des 19. Jahrhunderts — bei: die
Eisenbahnstation, der Schlachthof, das
kommunale Gebäude, das Theater sind
noch Typen, die sich auf einen Prototyp
beziehen. Trotzdem präzisieren sie sich,
d.h. sie deformieren sich (im Verhältnis
zum Prototyp), indem sie eine Form an-
nehmen, die innerhalb der Gesamtbezie-
hungen klar erkennbar ist, in einem Pro-
jekt, das vollkommen entworfen worden
ist, ohne verwirklicht worden zu sein.
Dieses ist möglich, da Garnier die Unab-
hängigkeit der beiden Faktoren — der
Menge der Wohnbauten und die Gebäude
der städtischen Ausstattungen — jeder mit
eigenen ökonomischen, technischen und
kompositorischen Gesetzen, nicht akzep-
tiert, sondern deren gegenseitige Abhängig-
keit akzentuiert, indem er sie zusammen
entwirft und sich gleichzeitig weigert, das
Konzept der Autosuffizienz als organisa-
torischen und kompositorischen Maßstab
der Stadtentwicklung anzunehmen.
Ein ähnliches Vorgehen werden wir
vielleicht nur in den Realisierungen zeitge-
nössischer, vollkommen neuer Städte wie
Brasilia oder Chandigarh wiederfinden.
Es ist zweifellos ein Verdienst der funk-
tionalistischen Bewegung, die Thematik
der Bautypologie auch auf die Masse der
Wohnbauten ausgedehnt zu haben, die bis
dahin — abgesehen von wenigen Ausnah-
men — nur dem privaten Eingriff vorbehal-
ten waren und den von diesem während
eines Jahrhunderts konkreter Erfahrungen
erarbeiteten Instrumenten (Parzellierun-
gen, Bauordnungen, Bindungen usw.), die
sich alle auf eine allgemeine städtische
Masse ohne jeglichen Bezug zu architekto-
nisch definierten Gebäuden bezogen (Aus-
dehnungs- oder Entwicklungspläne). Ty-
Pisch sind in diesem Sinn die für die neuen
amerikanischen Städte angewandten Maß-
nahmen:
Es ist der Boden, der organisiert und
reglementiert wird, nicht die Architektur.
(Eine Ausnahme könnten die englischen
Reihenhäuser, die cottages, darstellen,
die sicherlich zu Tausenden nach einem
gut präzisierten und wiederholbaren Bau-
typus errichtet worden sind; es ist trotz-
dem zu bemerken, daß, wie Engels zeigte
und wie es zahlreiche Untersuchungen be-
stätigten, 13) dieser Bautypus sich nicht
auf eine „distributive’”” oder formale Hy-
pothese einer bestimmten sozialen Schicht
zurückführen läßt, sondern einfach die ge-
eignetste konstruktive Lösung der Aus-
nutzung eines bestimmten bebaubaren
Bodens war.)
Wenn also in bezug auf Wohnbauten
die Äußerung von Argan 14), daß „man
erst in der zweiten Hälfte des 19. Jh. ver
sucht hat, eine klassifizierende Typologie
in Abhängigkeit von den Funktionen ein-
zurichten, die jedoch keine wichtigen
ästhetischen Ergebnisse gebracht hat”,
als solche akzeptiert werden kann, können
wir nicht ignorieren, daß die Bildung von
„typologischen Serien’”” bezogen auf die
praktischen Funktionen, denen die Ge-
bäude entsprechen müssen (und nicht be-
zogen auf ihre äußere Gestaltung, auch
wenn man immer versucht hat, ihnen
eine überzustülpen), die Entstehung einer
neuen städtischen Quantität erlaubt hat,
die nicht allein durch die Masse der Woh-
nungsbauten bedingt war. Genauer gesagt,
hat sie der Masse der Wohnbauten erlaubt,
städtische Bezüge aufzunehmen, und zwar
durch die Anordnung einiger Ausstattun-
gen, die nicht nur als „Dienstleistungen” 2)
verstanden werden, sondern vor allem 3)
auch als Bezugspunkte der Stadt; man
konnte jedoch nicht die allgemeine Form
der Stadt kontrollieren und auch nicht 4)
die Bezüge, die sich hieraus für die ein-
zelnen „Teile”” ergaben, da die Beziehung ss)
zwischen Wohnbauten und den Gebäuden
der kollektiven: Ausstattung von Anfang 6)
an auf einen Teil der Stadt begrenzt war,
nämlich auf den, der neu „erbaut’” und
der zuvor existierenden städtischen Struk-
tur „hinzugefügt’” wurde.
Während des gesamten 19. Jh. wohnen
wir der gleichzeitigen Gegenwart von Typen Sg}
und von Modellen bei; das große Ideal der
Architekten der Aufklärung, durch die 9)
neuen zivilen Architekturen eine neue
Stadt zu realisieren, löst sich im Konkre- 19)
ten in den sich in schneller Umwandlung 11)
befindenden Städten auf und bestätigt
somit die Äußerung Starobinskis, daß 12)
: n „... mit der Auflösung der feudalen Ordnun
rd web an nen N ran nr die revolutionäre Aktion einen Vorgang in el 13)
hundert Fuß nicht überschreiten... Die tl wegung setzte, der innerhalb kurzer Zeit die
schen Baugrundstücke haben Abmes: u idealen Vorstellungen und die utopischen
56 x 99 Fuß und 50 x 120 Fuß in er en Entwürfe, die noch innerhalb des ‘ancien 14)
tralen Zone, die für den Handel Vorgesehen. Ir regime und als Opposition zu diesem entstan-
sollten die Grundstücke kleiner als in den übri. den waren, unbrauchbar mache, Dieses ist, 015)
gen oder den Wohngebieten sein. Ein Stadtblock wird Hegel sagen, die Ironie der Geschichte. 15)
Mit anderen Worten eine Gebäudeinsel N d De Man kann erkennen, daß, während die
Raum Zwischen Wei anlie audeınsel, de) er n ,’ x
genden Straßen Modelle immer mehr zur Lösung klar funk-
tionaler und innerhalb der gesamten städti-
schen Struktur notwendig wiederholbarer
Aufgaben angewandt werden (typisch das
Schema der Kasernen; aber auch das der
Irrenhäuser, Gefängnisse, Schulen), die
Typen oft auf jene Einrichtungen bezogen
werden, die, bezüglich der städtischen Mor-
phologie, thematische und standortspezifi-
sche Bedeutungen haben, die nicht immer
wiederholbar sind — Theater, Parlament,
Justizpalast — und die in einem exakten
Bezugsrahmen zur Stadt, zu ihren Straßen-
verläufen stehen und dadurch die Rolle
ermöglichen, die die Typen auch auf-
grund der immer unsicherer werdenden
Gesamtform der Stadt selbst zu erfüllen
haben.
Übersetzung: Nicolaus Kuhnert und
Michael Peterek
1)
Vgl. Emil Kaufmann, Architecture in
the age of reason, und die Rezension
von Aldo Rossi in: Casabella-continuita,
Nr. 222
Vgl. Marcel Poete, La cittä antica, Torino
1958, S. 69
Francesco Milizia, Prinzipii di architettura
civile, Finale 1781, wieder abgedruckt in
der Ausgabe von 1847, Milano 1973
C.N. Ledoux, L’Architecture considerede
sous le rapport de L’art, des moeurs et la
legislation, Paris 1804
J.M. Perouse de Montclas, Etienne — Louis
Boullee, Paris 1969
M. Quatremere de Quincey, Architektur,
in: Encyclopedie methodique, 3 voll.,
Paris 1788—1825 (ita. Ausgabe, Mantova
1842)
J.N.L. Durand, Precis de legons donnees 3
l’&cole royale polytechnique, Paris 1819,
die erste Ausgabe, aber mehr summarische,
wurde 1804 publiziert
Leonardo Benevolo, Storia dell’architettura
moderna, Bari 1964, vol. I, S. 79
Giuseppe Samona, L’Urbanistica e l’avvenire
della citta, Bari 1959, S.15
Raffaello Stern, Lezioni di architettura ci-
vile, Roma 1822
Vgl. Carlo Aymonino, Origini e sviluppo
della citta moderna, Padova 1971
Aus: Manual of Instruction for the Survey
of Domination Land (1918), zitiert nach
Marcel Po&te, a.a.0. 5. 92
George Godwin, Another Blow for Life
(1864), rezensiert in: Architevtural Re-
view, Nr. 814, Dezember 1964
Giulio Carlo Argan, Sul consetto di tipi-
logia archittetonico, in: Progetto e desti-
no, Milano 1965 S. 77
J. Starobinski, Elementi per una semiotica
dell’anno 1789, in: Nuovo Argomenti, Nr.16
1969
7)
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