fremdung des Architekten von Gesell-
schaft, Bauherrn, Nutzern, die kompen-
siert wird durch einen seltsam überzoge-
nen autoritären Anspruch, wie wir ihn am
prägnantesten formuliert bei Le Corbusier
antreffen; er, der einerseits wie kaum ein
anderer Architekt die Probleme seiner
Zeit erspürt und mit Heftigkeit das 19.
Jahrhundert abgelehnt hat, war ein uner-
schütterlicher und konsequenter Anhän-
ger des autoritären, baukünstlerisch indi-
viduell-intuitiven Entwurfsverständnisses:
“Die Architektur ist das Ergebnis der gei-
stigen Situation einer Epoche ..... aber
das Werk selbst — die geistige Schöpfer-
kraft, die sich so stark in der Architektur
verkörpern kann — wird immer nur das
Produkt eines einzigen Mannes sein; so
wie das Geschriebene das Produkt einer
einzigen Hand, eines einzigen Herzens
oder eines einzigen Geistes ist. Die gesam-
te Verantwortung ruht auf jedem unter
uns. Doch in den Stunden der Entschei-
dung und an gefährlichen Wendepunkten
tritt das Individuum stärker als sonst her-
vor.” (Le Corbusier (1929) 1964, 202)
Und nicht nur für das Bauwerk, für die ge-
samte Stadt ist es dieser Baukünstler, der
“für das Wohlbefinden und die Schönheit
der Stadt verantwortlich ist”” (Le Corbu-
sier (1941) 1964, 137): “Wer könnte die
notwendigen Maßnahmen (im Städtebau
d.V.) treffen, um diese Aufgabe zum Ge-
lingen zu führen, wenn nicht der Archi-
tekt, der die vollkommenste Kenntnis
vom Menschen besitzt, der das illusori-
sche Planen fallen gelassen hat .. ...”
(135) Das mit solcher Aufgabe betraute
Architekten-Individuum muß sich über
alles kleinliche Getriebe in der Stadt hin-
wegsetzen können, muß mit quasi könig-
licher Macht ausgestattet sein: Le Corbu-
sier widmet sein Buch “Urbanisme” ‘dem
letzten wirklich großen Stadtplaner der
Geschichte — Ludwig dem Vierzehnten.””
(Le Corbusier (1925) 1929, 154) ‘“Dieser
große Herrscher plante ungeheure Projek-
te und realisierte sie. Noch heute erfüllen
uns seine noblen Bauwerke landauf land-
ab mit Bewunderung. Er war in der Posi-
tion zu sagen: ‘Wir wünschen es so!’ oder
‘So beliebt es uns!’ ” (302) Folglich: ‘Die
Städte werden entworfen und in ihrer
ganzen Ausdehnung vorgezeichnet wer-
den müssen, wie früher die Tempel des
Orients oder das Hotel des Invalides oder
das Versailles Ludwig des Vierzehnten ge-
zeichnet und ordnend gestaltet wurden.”
(Le Corbusier (1922) 1963, 51) . Solche
autoritäre Einstellung ist zumindest kon-
sequent, wenn man sich als Baukünstler
fühlt. Fast alle jene Architekten, die zur
gleichen Zeit versuchten, ihre Baukünst-
lerposition in Einklang zu bringen mit
einer demokratischen Haltung und den
Stellenwert des Architekten in der Mas-
sendemokratie zu bestimmen, sind damals
im Kompromiß steckengeblieben: autori-
täre Baukünstler trotz Demokratie zu
bleiben — durch soziales Engagement und
als Autoritäten in sozialen Fragen.
Als Architekt, der “die vollkommenste
Kenntnis vom Menschen besitzt‘‘, ging Le
Corbusier als Autorität den Nutzern gegen-
über von einem abstrakten ‘‘wandelnden
Durchschnitt” aus: ‘““Alle Menschen haben
den gleichen Organismus mit den gleichen
Funktionen. Alle Menschen haben die glei-
chen Bedürfnisse. Der Gesellschaftsvertrag,
der sich im Lauf der Jahrhunderte stetig
weiterentwickelt, bestimmt Klassen und
Funktionen der Menschen und damit
Standardbedürfnisse, die Standardlösungen
zeitigen.‘“ (106) Er baute folglich nicht für
bestimmte Menschen mit bestimmten Be-
dürfnissen, sondern schlicht: ‘für den Men-
schen schlechthin’; und zwar nach der neu-
esten Erkenntnis der Statistik und der mo-
dernen industriellen Produktionsweise:
“Man muß Wohnmaschinen serienmäßig
herstellen.” (102) ‘Mit anderen Worten,
ein Haus, wie ein Auto, entworfen wie ein
Omnibus ..... ein Haus, das so praktisch
ist, wie eine Schreibmaschine.” (179)
Beim Bau seiner Wohnmaschine “Unite” in
Marseilles stellt sich ihm 1953 das Problem
der Nutzerbedürfnisse in folgender Weise:
“Die Wohnung wurde betrachtet als ein
Ding für sich. Sie ist ein Behälter. Sie
enthält eine Familie .. ... Sie ist eine
Flasche. Eine Flasche mag Champagner
oder einfachen Landwein enthalten — die,
von der wir sprechen, enthält unterschied-
slos eine Familie. Diese kann arm oder
reich sein, immer sind es menschliche
Wesen.” (Le Corbusier (1953) 1959, 186)
Wo aber, wie in der Siedlung Pessac — ‘Wir
haben versucht, die Wohnmaschine zu
entwickeln” (Le Corbusier (1926) 1971,
160) — , die Bewohner die Häuser nach
ihren eigenen praktischen und ästhetischen
Bedürfnissen umbauen, da empfindet Le
Corbusier dies als ‘‘Mißerfolg‘’; er distan-
ziert sich von seinem “Werk”, das durch die
Eingriffe der Bewohner nun in der Tat
nicht mehr “sein Werk” ist. 1930 kritisierte
Adolf Behne diese weitverbreitete autori-
täre Einstellung der Architekten gegenüber
den Nutzern im Bereich des sozialen
Wohnungsbaues: ‘Der Mensch hat zu
wohnen und durch das Wohnen gesund zu
werden und die genaue Wohndiät wird ihm
bis ins einzelne vorgeschrieben. Er hat,
wenigstens bei den konsequenten Architek-
ten, gegen Osten zu Bett zu gehen, gegen
Westen zu essen und Mutterns Brief zu
beantworten, und die Wohnung wird so
organisiert, daß er es gar nicht anders ma-
chen kann ..... Die Fälle, in denen eine
Familie die Räume so benutzt, wie es der
Architekt sich gedacht hat, sind in allen
Siedlungen der Welt sehr selten.” (A. Behne
(1930) 1977, 36)
Das dem ganzheitlichen Gestaltungspro-
zeß angemessene baukünstlerische individu-
ell-intuitive Entwurfsverständnis und die
komplementäre autoritäre Einstellung be-
ginnen in dem Maß ihre Berechtigung als
Hauptströmung zu verlieren, wie sich die
gesellschaftlichen und technischen Bedin-
gungen für das Bauen in den Zwanziger
Jahren wandeln: vom überschaubaren Bau-
kunstwerk zum arbeitsteilig bearbeiteten
und realisierten Großbauvorhaben mit ho-
hen technischen Anforderungen; von der
vorherrschenden bildungsbürgerlichen Bau-
aufgabe und dem kaiserlichen Kulturpro-
gramm hin zum kapitalistischen Zweck-
bau und dem wohlfahrtstaatlichen Sozial-
programm. So schaut sich Hugo Häring
1925 verzweifelt nach einem baukunstbe-
flissenen Bauherrn um: “Es fehlen die
bauherrn. ..... gewiss ist der architekt
heute ganz allgemein in die notlage ver-
setzt, selbst die probleme der bauherrschaft
aufzustellen, weil die bauherrn keine bau-
herrn mehr sind, weil sie außer dinglichen
ansprüchen keine geistigen ansprüche
mehr zu stellen haben.” (Häring (1925)
1965, 16). Die notwendige Posititonsver-
änderung der Baukünstler wird deutlich
bei Le Corbusier, der noch 1922 schrieb:
“Die Kunst unserer Zeit ist am richtigen
Platz, wenn sie sich an die E//te wendet.
Die Kunst ist keine Angelegenheit des
Volkes, noch weniger eine ‘Luxuspflanze”.
Kunst ist lebensnotwendig einzig und allein
für die Menschen der Elite; diese brauchen
Ruhe zur Sammlung, um die Führung über-
nehmen zu können.” (Le Corbusier (1922)
1963, 85) Nachdem das Bauen immer
mehr eine Angelegenheit von Kommunen,
Gewerkschaften und Wohnungsbaugesell-
schaften geworden war, schrieb er 1928:
“Die Baukunst befaßt sich mit dem Haus,
mit dem gewöhnlichen Durchschnittshaus
für den gewöhnlichen Durchschnittsmensch.
Sie läßt die Paläste fallen.‘ (Le Corbusier
(1928) 1963, 13) Nur sich selbst kann sie
nicht fallen lassen: die dem Architekten
verbliebenen Reste baukünstlerischer Pra-
xis werden heftiger denn je verteidigt: ‘Ar-
chitektur ist die Kunst schlechthin.” (Le
Corbusier (1922) 1963, 90)
“KONSTRUIEREN”: DAS KOOPERATIV-
OBJEKTIVISTISCHE ENTWURFSVER-
STÄNDNIS
“Das Wort ‘Kunst’ sagt uns nichts mehr
— statt dessen fordern wir den Aufbau un-
serer Umgebung nach schöpferischen Ge-
setzen, die von einem festen Prinzip ausge-
hen. Diese Gesetze, die mit den wirtschaft-
lichen, mathematischen, technischen, hy-
gienischen usw. verknüpft sind, führen zu
einer neuen bildnerischen Einheit.‘ (Does:
burg/Eesteren (1923) 1967, 195) Wohl
ging es noch um Kunst, Kunstwerke und
Baukunst — aber auf einer neuen, gezielt
gegen das Individuelle-Intuitive gewandten
Grundlage: Baukunst sollte wie alle Kunst
kooperativ auf objektiver Grundlage unter
Verwendung exakter Methoden zustande-
.