Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1978, Jg. 10, H. 37-42)

fremdung des Architekten von Gesell- 
schaft, Bauherrn, Nutzern, die kompen- 
siert wird durch einen seltsam überzoge- 
nen autoritären Anspruch, wie wir ihn am 
prägnantesten formuliert bei Le Corbusier 
antreffen; er, der einerseits wie kaum ein 
anderer Architekt die Probleme seiner 
Zeit erspürt und mit Heftigkeit das 19. 
Jahrhundert abgelehnt hat, war ein uner- 
schütterlicher und konsequenter Anhän- 
ger des autoritären, baukünstlerisch indi- 
viduell-intuitiven Entwurfsverständnisses: 
“Die Architektur ist das Ergebnis der gei- 
stigen Situation einer Epoche ..... aber 
das Werk selbst — die geistige Schöpfer- 
kraft, die sich so stark in der Architektur 
verkörpern kann — wird immer nur das 
Produkt eines einzigen Mannes sein; so 
wie das Geschriebene das Produkt einer 
einzigen Hand, eines einzigen Herzens 
oder eines einzigen Geistes ist. Die gesam- 
te Verantwortung ruht auf jedem unter 
uns. Doch in den Stunden der Entschei- 
dung und an gefährlichen Wendepunkten 
tritt das Individuum stärker als sonst her- 
vor.” (Le Corbusier (1929) 1964, 202) 
Und nicht nur für das Bauwerk, für die ge- 
samte Stadt ist es dieser Baukünstler, der 
“für das Wohlbefinden und die Schönheit 
der Stadt verantwortlich ist”” (Le Corbu- 
sier (1941) 1964, 137): “Wer könnte die 
notwendigen Maßnahmen (im Städtebau 
d.V.) treffen, um diese Aufgabe zum Ge- 
lingen zu führen, wenn nicht der Archi- 
tekt, der die vollkommenste Kenntnis 
vom Menschen besitzt, der das illusori- 
sche Planen fallen gelassen hat .. ...” 
(135) Das mit solcher Aufgabe betraute 
Architekten-Individuum muß sich über 
alles kleinliche Getriebe in der Stadt hin- 
wegsetzen können, muß mit quasi könig- 
licher Macht ausgestattet sein: Le Corbu- 
sier widmet sein Buch “Urbanisme” ‘dem 
letzten wirklich großen Stadtplaner der 
Geschichte — Ludwig dem Vierzehnten.”” 
(Le Corbusier (1925) 1929, 154) ‘“Dieser 
große Herrscher plante ungeheure Projek- 
te und realisierte sie. Noch heute erfüllen 
uns seine noblen Bauwerke landauf land- 
ab mit Bewunderung. Er war in der Posi- 
tion zu sagen: ‘Wir wünschen es so!’ oder 
‘So beliebt es uns!’ ” (302) Folglich: ‘Die 
Städte werden entworfen und in ihrer 
ganzen Ausdehnung vorgezeichnet wer- 
den müssen, wie früher die Tempel des 
Orients oder das Hotel des Invalides oder 
das Versailles Ludwig des Vierzehnten ge- 
zeichnet und ordnend gestaltet wurden.” 
(Le Corbusier (1922) 1963, 51) . Solche 
autoritäre Einstellung ist zumindest kon- 
sequent, wenn man sich als Baukünstler 
fühlt. Fast alle jene Architekten, die zur 
gleichen Zeit versuchten, ihre Baukünst- 
lerposition in Einklang zu bringen mit 
einer demokratischen Haltung und den 
Stellenwert des Architekten in der Mas- 
sendemokratie zu bestimmen, sind damals 
im Kompromiß steckengeblieben: autori- 
täre Baukünstler trotz Demokratie zu 
bleiben — durch soziales Engagement und 
als Autoritäten in sozialen Fragen. 
Als Architekt, der “die vollkommenste 
Kenntnis vom Menschen besitzt‘‘, ging Le 
Corbusier als Autorität den Nutzern gegen- 
über von einem abstrakten ‘‘wandelnden 
Durchschnitt” aus: ‘““Alle Menschen haben 
den gleichen Organismus mit den gleichen 
Funktionen. Alle Menschen haben die glei- 
chen Bedürfnisse. Der Gesellschaftsvertrag, 
der sich im Lauf der Jahrhunderte stetig 
weiterentwickelt, bestimmt Klassen und 
Funktionen der Menschen und damit 
Standardbedürfnisse, die Standardlösungen 
zeitigen.‘“ (106) Er baute folglich nicht für 
bestimmte Menschen mit bestimmten Be- 
dürfnissen, sondern schlicht: ‘für den Men- 
schen schlechthin’; und zwar nach der neu- 
esten Erkenntnis der Statistik und der mo- 
dernen industriellen Produktionsweise: 
“Man muß Wohnmaschinen serienmäßig 
herstellen.” (102) ‘Mit anderen Worten, 
ein Haus, wie ein Auto, entworfen wie ein 
Omnibus ..... ein Haus, das so praktisch 
ist, wie eine Schreibmaschine.” (179) 
Beim Bau seiner Wohnmaschine “Unite” in 
Marseilles stellt sich ihm 1953 das Problem 
der Nutzerbedürfnisse in folgender Weise: 
“Die Wohnung wurde betrachtet als ein 
Ding für sich. Sie ist ein Behälter. Sie 
enthält eine Familie .. ... Sie ist eine 
Flasche. Eine Flasche mag Champagner 
oder einfachen Landwein enthalten — die, 
von der wir sprechen, enthält unterschied- 
slos eine Familie. Diese kann arm oder 
reich sein, immer sind es menschliche 
Wesen.” (Le Corbusier (1953) 1959, 186) 
Wo aber, wie in der Siedlung Pessac — ‘Wir 
haben versucht, die Wohnmaschine zu 
entwickeln” (Le Corbusier (1926) 1971, 
160) — , die Bewohner die Häuser nach 
ihren eigenen praktischen und ästhetischen 
Bedürfnissen umbauen, da empfindet Le 
Corbusier dies als ‘‘Mißerfolg‘’; er distan- 
ziert sich von seinem “Werk”, das durch die 
Eingriffe der Bewohner nun in der Tat 
nicht mehr “sein Werk” ist. 1930 kritisierte 
Adolf Behne diese weitverbreitete autori- 
täre Einstellung der Architekten gegenüber 
den Nutzern im Bereich des sozialen 
Wohnungsbaues: ‘Der Mensch hat zu 
wohnen und durch das Wohnen gesund zu 
werden und die genaue Wohndiät wird ihm 
bis ins einzelne vorgeschrieben. Er hat, 
wenigstens bei den konsequenten Architek- 
ten, gegen Osten zu Bett zu gehen, gegen 
Westen zu essen und Mutterns Brief zu 
beantworten, und die Wohnung wird so 
organisiert, daß er es gar nicht anders ma- 
chen kann ..... Die Fälle, in denen eine 
Familie die Räume so benutzt, wie es der 
Architekt sich gedacht hat, sind in allen 
Siedlungen der Welt sehr selten.” (A. Behne 
(1930) 1977, 36) 
Das dem ganzheitlichen Gestaltungspro- 
zeß angemessene baukünstlerische individu- 
ell-intuitive Entwurfsverständnis und die 
komplementäre autoritäre Einstellung be- 
ginnen in dem Maß ihre Berechtigung als 
Hauptströmung zu verlieren, wie sich die 
gesellschaftlichen und technischen Bedin- 
gungen für das Bauen in den Zwanziger 
Jahren wandeln: vom überschaubaren Bau- 
kunstwerk zum arbeitsteilig bearbeiteten 
und realisierten Großbauvorhaben mit ho- 
hen technischen Anforderungen; von der 
vorherrschenden bildungsbürgerlichen Bau- 
aufgabe und dem kaiserlichen Kulturpro- 
gramm hin zum kapitalistischen Zweck- 
bau und dem wohlfahrtstaatlichen Sozial- 
programm. So schaut sich Hugo Häring 
1925 verzweifelt nach einem baukunstbe- 
flissenen Bauherrn um: “Es fehlen die 
bauherrn. ..... gewiss ist der architekt 
heute ganz allgemein in die notlage ver- 
setzt, selbst die probleme der bauherrschaft 
aufzustellen, weil die bauherrn keine bau- 
herrn mehr sind, weil sie außer dinglichen 
ansprüchen keine geistigen ansprüche 
mehr zu stellen haben.” (Häring (1925) 
1965, 16). Die notwendige Posititonsver- 
änderung der Baukünstler wird deutlich 
bei Le Corbusier, der noch 1922 schrieb: 
“Die Kunst unserer Zeit ist am richtigen 
Platz, wenn sie sich an die E//te wendet. 
Die Kunst ist keine Angelegenheit des 
Volkes, noch weniger eine ‘Luxuspflanze”. 
Kunst ist lebensnotwendig einzig und allein 
für die Menschen der Elite; diese brauchen 
Ruhe zur Sammlung, um die Führung über- 
nehmen zu können.” (Le Corbusier (1922) 
1963, 85) Nachdem das Bauen immer 
mehr eine Angelegenheit von Kommunen, 
Gewerkschaften und Wohnungsbaugesell- 
schaften geworden war, schrieb er 1928: 
“Die Baukunst befaßt sich mit dem Haus, 
mit dem gewöhnlichen Durchschnittshaus 
für den gewöhnlichen Durchschnittsmensch. 
Sie läßt die Paläste fallen.‘ (Le Corbusier 
(1928) 1963, 13) Nur sich selbst kann sie 
nicht fallen lassen: die dem Architekten 
verbliebenen Reste baukünstlerischer Pra- 
xis werden heftiger denn je verteidigt: ‘Ar- 
chitektur ist die Kunst schlechthin.” (Le 
Corbusier (1922) 1963, 90) 
“KONSTRUIEREN”: DAS KOOPERATIV- 
OBJEKTIVISTISCHE ENTWURFSVER- 
STÄNDNIS 
“Das Wort ‘Kunst’ sagt uns nichts mehr 
— statt dessen fordern wir den Aufbau un- 
serer Umgebung nach schöpferischen Ge- 
setzen, die von einem festen Prinzip ausge- 
hen. Diese Gesetze, die mit den wirtschaft- 
lichen, mathematischen, technischen, hy- 
gienischen usw. verknüpft sind, führen zu 
einer neuen bildnerischen Einheit.‘ (Does: 
burg/Eesteren (1923) 1967, 195) Wohl 
ging es noch um Kunst, Kunstwerke und 
Baukunst — aber auf einer neuen, gezielt 
gegen das Individuelle-Intuitive gewandten 
Grundlage: Baukunst sollte wie alle Kunst 
kooperativ auf objektiver Grundlage unter 
Verwendung exakter Methoden zustande- 
.
	        
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