kommen, sollte die Entfremdung der Ar-
chitekten von der Gesellschaft, den ande-
ren Fachleuten, Künstlern und den Nutzern
aufheben. Die Erfahrungen mit dem ersten
Weltkrieg spielen bei diesem neuen Ent-
wurfsverständnis eine wichtige Rolle: ‘Es
gibt ein altes und ein neues Zeitbewußtsein.
Das alte richtet sich auf das Individuelle.
Das neue richtet sich auf das Universelle.
Der Streit des Individuellen gegen das
Universelle zeigt sich sowohl im (ersten)
Weltkrieg wie in der heutigen Kunst. ....
. Die Künstler der Gegenwart haben, getrie-
ben durch ein und dasselbe Bewußtsein in
der ganzen Welt auf geistlichem Gebiet
teilgenommen an dem Weltkrieg gegen die
Vorherrschaft des Individualismus, der
Willkür .....”’ (De Stijl (1918) 1967, 95)
Ökonomische und technische Zwänge
lassen den Individualismus in der Kunst —
speziell in der Architektur — überholt er-
scheinen: “Große Kunst steht in ursächli-
chem Zusammenhang mit den gesellschaft-
lichen Tendenzen der Zeit. Den Drang, das
Individuelle dem Gemeinschaftlichen un-
terzuordnen, findet man in der Kunst, wie
im Alltagsleben in dem Bedürfnis reflek-
tiert, individuelle Elemente zu Gruppen zu
organisieren: Vereinigungen, Verbände,
Trusts, Monopole usw.”; und ‘‘ .....aus
sozialen und ökonomischen Gründen ist
die Maschine dazu geeignet, Produkte her-
zustellen, die der Gemeinschaft eher zugute
kommen als Kunstprodukte, die nur den
reichen Einzelnen erreichen . .. . . Für den
modernen Künstler wird es in Zukunft fol-
gerichtig sein, sich der Maschine zu bedie-
nen ..... wobei das Einzelkunstwerk, wie
wir es kennen, hinfällig wird.” (Oud (1917)
1967, 93-4) Dies hatte für das Entwurfsver-
ständnis zwei wesentliche Folgerungen:
1) die architektonischen Probleme mußten
von baukünstlerischen in ingenieurmäßig-
technische umformuliert werden, denn
“der neue Stilbegriff beruht gerade auf
dem Fortfallen jeder Trennung, in diesem
Fall der Trennung von Kunst und Nutz-
wert”. (Oud (1919) 1967, 129) Um aber
“der Architektur einen Stil zu geben, muß
die Baukunst technische Perfektion anstre-
ben und jede künstlerische Absicht sollte in
Verbindung mit dieser Entwicklung in den
Hintergrund treten.” (van t’Hoff (1917)
1965, 175)
2) die individuell-intuitive Arbeitsweise des
Künstler-Individuums war hinfällig und
Mußte durch kooperatives Arbeiten ersetzt
werden: “Nur eines wissen wir, daß sowohl
die Lösung des ökonomischen Problems
wie die des Kunstproblems außerhalb indi-
vidueller Einstellung liegt, und das ist ein
Gewinn. Es bedeutet nämlich, daß die Vor-
herrschaft des Individuums — das renais-
ancistische Lebensgefühl - gebrochen ist.
Sowohl für das Gebiet der Politik wie auch
für das der Kunst können nur kooperative
Lösungen entscheidend sein.” (Doesburg
(1922) 1967. 141) ”Kooperativ” heißt.
daß das neue Kunstwerk, Bauwerk, Indu-
strieprodukt in Zusammenarbeit verschie-
dener Fachleute oder Künstler entstehen
soll: ‘Das neue Gestaltungsbewußtsein be-
deutet: Zusammenwirken aller bildenden
Künste, um auf der Grundlage der Gleich-
gewichtsbeziehung einen reinen monumen-
talen Stil zu schaffen. Ein monumentaler
Stil bedeutet: gleichmäßige Arbeitsvertei-
lung der verschiedenen Künste. Gleichmäßi-
ge Arbeitsverteilung bedeutet, daß jeder
Künstler sich auf sein eigenes Gebiet be-
schränkt. Diese Beschränkung bedeutet:
Gestaltung mit fachlichen Mitteln. Gestal-
tung mit fachlichen Mitteln bedeutet:
wahre Freiheit. Sie befreit z.B. den Archi-
tekten von vielen Dingen, die nicht zu sei-
nen Gestaltungsmitteln gehören . . ...”
(Doesburg (1918) 1967, 96-7) Damit wird
die Organisationsfrage gestellt — wenn auch
noch nicht gelöst: ‘Zur Durchführung der
Aufgaben des heutigen Lebens reicht die
Initiative des Einzelnen nicht mehr aus.
Kooperative Zusammenarbeit ist praktisch
notwendig — moderne Organisationsmetho-
den. Durch Organisierung der schöpferi-
schen Tätigkeit werden reale Aufgaben für
alle ermöglicht (Erweiterung des Arbeits-
feldes) und die Arbeitskraft des Einzelnen
gesteigert‘. (De Stijl (1922) 1967, 176)
Kooperatives Arbeiten mit dem Ziel eines
versachlichten Ergebnisses setzt neben der
Klärung der Organisationsfrage und der in-
genieurmäßigen Versachlichung der Auf-
gabenstellung aber auch eine gemeinsame
Methode, “ein objektives System” (Does-
burg / von Eesteren (1923) 1967, 196)
voraus. Diese Methode wurde im *carte-
sianischen Ansatz‘ 7) gefunden:
— Die Analyse, die Zergliederung erfolgt
in quasi-wissenschaftlicher Art und Wei-
se: ‘Das Haus wurde zergliedert, in seine
plastischen Elemente zerlegt. Die stati-
sche Achse (Symmetrieachse d.V.) der
alten (aus dem 19. Jahrhundert überkom-
menen, d.V.) Konstruktion wurde zer-
stört; das Haus wurde dadurch zu einem
Gegenstand, den man von allen Seiten
(d.h. ohne Bindung an Achsen d.V.)
umkreisen kann. Diese analytische Me-
thode führt zu neuen Konstruktionsmög-
lichkeiten und zu einem neuen Grundriß”.
(Doesburg (1929) 1965, 198)
— Die Synthese ist dann das sachliche,
nach Regeln sich vollziehende Zusammen-
setzen der Elemente zu einer neuen Ge-
samtheit, es wird nun nicht von “Entwer-
fen” gesprochen — ja dieser Begriff wird
wegen seiner Assoziation mit intuitiv-indi-
viduellem Vorgehen geradezu abgelehnt —
sondern von “Konstruieren”: nicht im
Sinne der Baukonstruktion, sondern des
versachlichten Zusammensetzens. Als
Hilfsmittel zur Objektivierung des Verfah-
rens wurden Mathematik und wissenschft-
liche Techniken eingesetzt: ‘Wir arbeiten
mit mathematisch-euklidischen und nicht-
euklidischen Mitteln und wissenschaftli-
chen Daten, d.h. mit geistigen Mitteln.
Vor seiner Verkörperung lebt das Kunst-
werk bereits völlig im Geist (d.h. im Rati-
onalen, d.V.). Es ist jedoch notwendig,
daß seine Ausführung Perfektion zeigt . . .
das Kunstwerk darf keine Spur menschli-
cher Schwäche zeigen, keine Unsicherheit,
keine mangelnde Präzision, kein Zögern .
....' (Van Doesburg (1933) 1965, 179)
Analyse und Synthese werden als un-
trennbare Einheit verstanden. In der na-
turwissenschaftlich-ingenieurwissenschaft-
lichen Denkweise wird Neuland gesehen
und bereitwillig betreten; von “Ideen”,
“Nebeln”’, “heiligen Schalen’ und ande-
ren Mystifizierungen wird beim ‘“Konstru-
ijeren” nicht gesprochen, denn das von der
Methode bestimmte Ergebnis soll “objek-
tiv” und “universal” sein: ‘Solch univer-
sale Form ist immer kontrollierbar; denn
die Konstruktion (d.h. das Ergebnis der
Synthese) läßt sich mathematisch errech-
nen, Es ist die kontrollierte Form, die ich
für die Malerei, für die Skulptur und für
die Architektur beanspruche . .... ohne
Phantasie? Ja! Ohne Gefühl? Ja! Aber
nicht ohne Geist, nicht ohne Universalität
und, wie ich glaube, nicht leer!” (Does-
burg (1929) 1965, 178).
Jenseits der großen Worte beschreibt Van
Eesteren die praktische Zusammenarbeit
zwischen ihm als Architekt, von Doesburg
als Maler und R/etveld als Möbelbauer bei
einem ihrer gemeinsam gebauten Häuser:
“Die Arbeit begann mit einer Raumstudie,
die sich mit den räumlichen Beziehungen
und Gesetzen der Architektur beschäftigt.
Die nachfolgenden Zeichnungen, die wir
‘Schema für eine Architektur’ nannten,
behandeln ausführlich die Darstellung der
räumlichen Beziehungen. Diese Zeichnun-
gen blieben abstrakte Studien und stellten
keine Grundrisse dar. Erst die weitere
Analyse der durch eine spezielle Situati-
on gegebenen Forderungen führte schließ-
lich zu einem gut gegliederten Grundriß:
und der Grundriß bestimmte dann seiner-
seits wieder das räumliche und plastische
Aussehen des Hauses.’ (van Eesteren
(1923) 1965, 173)
Neben die intensive Beschäftigung mit
den Formproblemen der Architektur
tritt als gleichwertig die Beschäftigung
mit den Gebrauchswertproblemen, mit
den Bedürfnissen der Bewohner: ‘Für die-
se Architekten bedeutet das Bauen nicht
mehr eine Gelegenheit, bei der Ausfüh-
rung eines Auftrages ihrer künstlerischen
Passion freien Lauf zu lassen; sondern sie
versuchen, soweit wie möglich, den Be-
dürfnissen der Auftraggeber entgegenzu-
kommen und sie erstreben die Verwirkli-
chung von unmittelbarem Glück und Le-
benskomfort — soweit ihr Aufgabenbe-
reich es ihnen erlaubt‘ (Oud (1929)
1965, 200). Die überkommene autoritäre
Einstellung des Baukünstler-Architekten
jedoch kann nur bedingt aufgegeben wer-
RE