Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1978, Jg. 10, H. 37-42)

kommen, sollte die Entfremdung der Ar- 
chitekten von der Gesellschaft, den ande- 
ren Fachleuten, Künstlern und den Nutzern 
aufheben. Die Erfahrungen mit dem ersten 
Weltkrieg spielen bei diesem neuen Ent- 
wurfsverständnis eine wichtige Rolle: ‘Es 
gibt ein altes und ein neues Zeitbewußtsein. 
Das alte richtet sich auf das Individuelle. 
Das neue richtet sich auf das Universelle. 
Der Streit des Individuellen gegen das 
Universelle zeigt sich sowohl im (ersten) 
Weltkrieg wie in der heutigen Kunst. .... 
. Die Künstler der Gegenwart haben, getrie- 
ben durch ein und dasselbe Bewußtsein in 
der ganzen Welt auf geistlichem Gebiet 
teilgenommen an dem Weltkrieg gegen die 
Vorherrschaft des Individualismus, der 
Willkür .....”’ (De Stijl (1918) 1967, 95) 
Ökonomische und technische Zwänge 
lassen den Individualismus in der Kunst — 
speziell in der Architektur — überholt er- 
scheinen: “Große Kunst steht in ursächli- 
chem Zusammenhang mit den gesellschaft- 
lichen Tendenzen der Zeit. Den Drang, das 
Individuelle dem Gemeinschaftlichen un- 
terzuordnen, findet man in der Kunst, wie 
im Alltagsleben in dem Bedürfnis reflek- 
tiert, individuelle Elemente zu Gruppen zu 
organisieren: Vereinigungen, Verbände, 
Trusts, Monopole usw.”; und ‘‘ .....aus 
sozialen und ökonomischen Gründen ist 
die Maschine dazu geeignet, Produkte her- 
zustellen, die der Gemeinschaft eher zugute 
kommen als Kunstprodukte, die nur den 
reichen Einzelnen erreichen . .. . . Für den 
modernen Künstler wird es in Zukunft fol- 
gerichtig sein, sich der Maschine zu bedie- 
nen ..... wobei das Einzelkunstwerk, wie 
wir es kennen, hinfällig wird.” (Oud (1917) 
1967, 93-4) Dies hatte für das Entwurfsver- 
ständnis zwei wesentliche Folgerungen: 
1) die architektonischen Probleme mußten 
von baukünstlerischen in ingenieurmäßig- 
technische umformuliert werden, denn 
“der neue Stilbegriff beruht gerade auf 
dem Fortfallen jeder Trennung, in diesem 
Fall der Trennung von Kunst und Nutz- 
wert”. (Oud (1919) 1967, 129) Um aber 
“der Architektur einen Stil zu geben, muß 
die Baukunst technische Perfektion anstre- 
ben und jede künstlerische Absicht sollte in 
Verbindung mit dieser Entwicklung in den 
Hintergrund treten.” (van t’Hoff (1917) 
1965, 175) 
2) die individuell-intuitive Arbeitsweise des 
Künstler-Individuums war hinfällig und 
Mußte durch kooperatives Arbeiten ersetzt 
werden: “Nur eines wissen wir, daß sowohl 
die Lösung des ökonomischen Problems 
wie die des Kunstproblems außerhalb indi- 
vidueller Einstellung liegt, und das ist ein 
Gewinn. Es bedeutet nämlich, daß die Vor- 
herrschaft des Individuums — das renais- 
ancistische Lebensgefühl - gebrochen ist. 
Sowohl für das Gebiet der Politik wie auch 
für das der Kunst können nur kooperative 
Lösungen entscheidend sein.” (Doesburg 
(1922) 1967. 141) ”Kooperativ” heißt. 
daß das neue Kunstwerk, Bauwerk, Indu- 
strieprodukt in Zusammenarbeit verschie- 
dener Fachleute oder Künstler entstehen 
soll: ‘Das neue Gestaltungsbewußtsein be- 
deutet: Zusammenwirken aller bildenden 
Künste, um auf der Grundlage der Gleich- 
gewichtsbeziehung einen reinen monumen- 
talen Stil zu schaffen. Ein monumentaler 
Stil bedeutet: gleichmäßige Arbeitsvertei- 
lung der verschiedenen Künste. Gleichmäßi- 
ge Arbeitsverteilung bedeutet, daß jeder 
Künstler sich auf sein eigenes Gebiet be- 
schränkt. Diese Beschränkung bedeutet: 
Gestaltung mit fachlichen Mitteln. Gestal- 
tung mit fachlichen Mitteln bedeutet: 
wahre Freiheit. Sie befreit z.B. den Archi- 
tekten von vielen Dingen, die nicht zu sei- 
nen Gestaltungsmitteln gehören . . ...” 
(Doesburg (1918) 1967, 96-7) Damit wird 
die Organisationsfrage gestellt — wenn auch 
noch nicht gelöst: ‘Zur Durchführung der 
Aufgaben des heutigen Lebens reicht die 
Initiative des Einzelnen nicht mehr aus. 
Kooperative Zusammenarbeit ist praktisch 
notwendig — moderne Organisationsmetho- 
den. Durch Organisierung der schöpferi- 
schen Tätigkeit werden reale Aufgaben für 
alle ermöglicht (Erweiterung des Arbeits- 
feldes) und die Arbeitskraft des Einzelnen 
gesteigert‘. (De Stijl (1922) 1967, 176) 
Kooperatives Arbeiten mit dem Ziel eines 
versachlichten Ergebnisses setzt neben der 
Klärung der Organisationsfrage und der in- 
genieurmäßigen Versachlichung der Auf- 
gabenstellung aber auch eine gemeinsame 
Methode, “ein objektives System” (Does- 
burg / von Eesteren (1923) 1967, 196) 
voraus. Diese Methode wurde im *carte- 
sianischen Ansatz‘ 7) gefunden: 
— Die Analyse, die Zergliederung erfolgt 
in quasi-wissenschaftlicher Art und Wei- 
se: ‘Das Haus wurde zergliedert, in seine 
plastischen Elemente zerlegt. Die stati- 
sche Achse (Symmetrieachse d.V.) der 
alten (aus dem 19. Jahrhundert überkom- 
menen, d.V.) Konstruktion wurde zer- 
stört; das Haus wurde dadurch zu einem 
Gegenstand, den man von allen Seiten 
(d.h. ohne Bindung an Achsen d.V.) 
umkreisen kann. Diese analytische Me- 
thode führt zu neuen Konstruktionsmög- 
lichkeiten und zu einem neuen Grundriß”. 
(Doesburg (1929) 1965, 198) 
— Die Synthese ist dann das sachliche, 
nach Regeln sich vollziehende Zusammen- 
setzen der Elemente zu einer neuen Ge- 
samtheit, es wird nun nicht von “Entwer- 
fen” gesprochen — ja dieser Begriff wird 
wegen seiner Assoziation mit intuitiv-indi- 
viduellem Vorgehen geradezu abgelehnt — 
sondern von “Konstruieren”: nicht im 
Sinne der Baukonstruktion, sondern des 
versachlichten Zusammensetzens. Als 
Hilfsmittel zur Objektivierung des Verfah- 
rens wurden Mathematik und wissenschft- 
liche Techniken eingesetzt: ‘Wir arbeiten 
mit mathematisch-euklidischen und nicht- 
euklidischen Mitteln und wissenschaftli- 
chen Daten, d.h. mit geistigen Mitteln. 
Vor seiner Verkörperung lebt das Kunst- 
werk bereits völlig im Geist (d.h. im Rati- 
onalen, d.V.). Es ist jedoch notwendig, 
daß seine Ausführung Perfektion zeigt . . . 
das Kunstwerk darf keine Spur menschli- 
cher Schwäche zeigen, keine Unsicherheit, 
keine mangelnde Präzision, kein Zögern . 
....' (Van Doesburg (1933) 1965, 179) 
Analyse und Synthese werden als un- 
trennbare Einheit verstanden. In der na- 
turwissenschaftlich-ingenieurwissenschaft- 
lichen Denkweise wird Neuland gesehen 
und bereitwillig betreten; von “Ideen”, 
“Nebeln”’, “heiligen Schalen’ und ande- 
ren Mystifizierungen wird beim ‘“Konstru- 
ijeren” nicht gesprochen, denn das von der 
Methode bestimmte Ergebnis soll “objek- 
tiv” und “universal” sein: ‘Solch univer- 
sale Form ist immer kontrollierbar; denn 
die Konstruktion (d.h. das Ergebnis der 
Synthese) läßt sich mathematisch errech- 
nen, Es ist die kontrollierte Form, die ich 
für die Malerei, für die Skulptur und für 
die Architektur beanspruche . .... ohne 
Phantasie? Ja! Ohne Gefühl? Ja! Aber 
nicht ohne Geist, nicht ohne Universalität 
und, wie ich glaube, nicht leer!” (Does- 
burg (1929) 1965, 178). 
Jenseits der großen Worte beschreibt Van 
Eesteren die praktische Zusammenarbeit 
zwischen ihm als Architekt, von Doesburg 
als Maler und R/etveld als Möbelbauer bei 
einem ihrer gemeinsam gebauten Häuser: 
“Die Arbeit begann mit einer Raumstudie, 
die sich mit den räumlichen Beziehungen 
und Gesetzen der Architektur beschäftigt. 
Die nachfolgenden Zeichnungen, die wir 
‘Schema für eine Architektur’ nannten, 
behandeln ausführlich die Darstellung der 
räumlichen Beziehungen. Diese Zeichnun- 
gen blieben abstrakte Studien und stellten 
keine Grundrisse dar. Erst die weitere 
Analyse der durch eine spezielle Situati- 
on gegebenen Forderungen führte schließ- 
lich zu einem gut gegliederten Grundriß: 
und der Grundriß bestimmte dann seiner- 
seits wieder das räumliche und plastische 
Aussehen des Hauses.’ (van Eesteren 
(1923) 1965, 173) 
Neben die intensive Beschäftigung mit 
den Formproblemen der Architektur 
tritt als gleichwertig die Beschäftigung 
mit den Gebrauchswertproblemen, mit 
den Bedürfnissen der Bewohner: ‘Für die- 
se Architekten bedeutet das Bauen nicht 
mehr eine Gelegenheit, bei der Ausfüh- 
rung eines Auftrages ihrer künstlerischen 
Passion freien Lauf zu lassen; sondern sie 
versuchen, soweit wie möglich, den Be- 
dürfnissen der Auftraggeber entgegenzu- 
kommen und sie erstreben die Verwirkli- 
chung von unmittelbarem Glück und Le- 
benskomfort — soweit ihr Aufgabenbe- 
reich es ihnen erlaubt‘ (Oud (1929) 
1965, 200). Die überkommene autoritäre 
Einstellung des Baukünstler-Architekten 
jedoch kann nur bedingt aufgegeben wer- 
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