Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1978, Jg. 10, H. 37-42)

vistisch-politische Entwurfsverständnis: 
— daß “Bauen” zu verstehen war als 
"ein Gestaltungsprozeß des sozialen Le- 
bens’” (Meyer (1938) 1965, 52); für Mey- 
er war “Architektur . . ... eine soziale 
Manifestation und unlösbar verbunden 
mit der jeweiligen sozialen Gesellschafts- 
struktur. Löst sie sich von der jeweiligen 
Gesellschaft, so wird sie zur hohlen Atrap- 
pe und zum snobistischen Spielzeug.” 
(Meyer (1938) 1965,52) Aus dieser Sicht 
konnte für den politisch bewußten Archi- 
tekten “Architektur kein ästhetisches 
Stimulus (sein), sondern eine scharfe Waffe 
im Klassenkampf”. (Meyer (1931) 1965, 
32) Das aber bedeutet für den Architek- 
ten, daß er seine Fähigkeiten in den 
Dienst der Klasse stellt und sich dieser 
vermittelt: ‘Von ausschlaggebender Be- 
deutung für die Formation (d.h. die Be- 
wußtseinsbildung, d.V.) des Architekten 
ist die Mitwirkung des Publikums”’. (Mey- 
er (1938) 1965,54); d.h. “bauen” als po- 
litisch verstandenes ‘“kollektives Arbei- 
ten”: “bauen .... . ist gemeinschaftsar- 
beit von werktätigen mit erfindern. bauen 
wird so aus einer einzelangelegenheit von 
einzelnen . . . . . zu einer kollektiven an- 
gelegenheit der volksgenossen”’. (Meyer 
(1928) 1965,96) 
— die Aufstellung des Programms soll- 
te mit wissenschaftlichen Hilfsmitteln 
und in wissenschaftlicher Methodik als 
Bestandteil ungeteilten Arbeitsprozesses 
erfolgen: ‘Die Entwurfsbrigade soll, 
wenn möglich, Gelegenheit nehmen, das 
detaillierte Bauprogramm selbst zusam- 
menzustellen, denn hierbei ergibt sich die 
Möglichkeit, einer kollektiv geführten 
Analyse der gestellten Bauaufgabe; 
„+++. Diese Analyse des Bauprogramms 
muß mit wissenschaftlicher Methodik 
durchgeführt werden, denn sie ist das 
Wichtigste Fundament des Bauentwurfs. 
Deshalb lasse ich die Ergebnisse graphisch 
dargestellt in die Org(anisations)pläne 
des Bauorganismus eintragen.” (Meyer 
(1933) 1965,26) 
— die wissenschaftliche Arbeit in der 
Phase der Programmerstellung bezog sich 
— im Gegensatz zu Le Corbusier, der als 
wissender Architekt vom Durchschnitt 
ausging und im Gegensatz zu den Kon- 
Struktivisten, die die formalen Elemente 
der Architektur analytisch bestimmten — 
auf die funktionalen Elemente und auf 
die Bedürfnisse der Bewohner: ‘Wir un- 
tersuchen den Tagesablauf jedes Hausbe- 
Wohners und dies gibt das Funktionsdia- 
gramm für Vater, Mutter, Kind, Klein- 
kind und Mitmenschen; wir erforschen 
die Beziehungen des Hauses und seiner In- 
Sassen zum Fremden: Postbote, Passant, 
Besucher, Nachbar, Einbrecher, Kaminfe- 
9er... . wir errechnen den Sonnenein- 
Fallswinkel im Jahresablauf . . .. . wir kon- 
Earen danach den Schattenfächer des 
Ensters im Schlafraum .....” (Mever 
(1928) 1964, 110-1) 
— Das “Erfinden” ging nicht aus von 
vorgefaßten Formvorstellungen oder 
“Ideen”: ‘Heute bemühe ich mich und 
meine Mitarbeiter, völlig voraussetzungs- 
los und ohne vorgefaßte Idee an den Bau- 
entwurf heranzutreten”, denn “ich pro- 
jektiere nie allein; alle meine Bauentwürfe 
sind von Anbeginn an aus der Zusammen- 
arbeit mit Dritten entstanden‘. (Meyer 
(1933) 1965,26) 
— die Frage der Organisation des unge- 
teilten Bauprozesses stellt sich und dem 
Architekten. wird die Aufgabe der Organi- 
sation dieses Prozesses, der Hinzuziehung 
der Spezialisten, der Abstimmung mit den 
Mitwirkenden, den Handwerkern zuge- 
sprochen: ‘Bauen ist keine Angelegenheit 
des Gefühls, sondern des Wissens: ;.... 
Bauen ist eine Handlung überlegter Orga- 
nisation. Der Architekt ist selber kein 
Wissenschaftler im strengsten Sinn.” 
(Meyer (1933) 1965, 26) und “Der Ar- 
chitekt? ..... war Künstler und wird ein 
Spezialist der Organisation!” (1928) 
1965,96) 14) 
Hannes Meyer wurde 1928 Direktor des 
Bauhauses als Nachfolger von Walter Gro- 
pius. Seine Direktionsperiode war in 
Übereinstimmung mit seinem politischen 
Standort und seinem kollektivistisch- 
politischen Entwurfsverständnis ‘“gekenn- 
zeichnet durch das Betonen der sozialen 
Mission des Bauhauses, durch die Vermeh- 
rung der exakten Wissenschaften im Lehr- 
plan, durch Zurückdämmen des Einflusses 
der Maler, durch cooperativen Aufbau der 
Werkstatteinheiten . . . . . durch die De- 
mokratisierung des Studiums und durch 
die enge Zusammenarbeit mit der Arbei- 
terbewegung und mit den Gewerkschaf- 
ten.” (Hannes Meyer (1940) 1965, 106) 
Hannes Meyer hat mit dieser radikalen 
Vorstellung vom “Entwerfen” als “ge- 
brauchswertbezogenem Erfinden” das 
baukünstlerische Entwurfsverständnis mit 
seinem Expertentum und dem daraus her- 
vorgehenden autoritären Funktionalismus 
als scheinheilige Manipulation des berufli- 
chen Selbstverständnisses der Architekten- 
gemeinschaft angeprangert. Ferner hat er 
mit dieser radikalen Vorstellung eine kla- 
re politische Postition bezogen, die die 
Gebrauchswertseite der Bauproduktion 
in den Vordergrund stellt und nicht einen 
“politisch verstandenen Stil”’, der nur eine 
andere Seite von ‘Baukunst als Ware”, 
ist. Diese politische Position mußte da- 
mals — wie heute — gegen zweifelhafte 
baukünstlerische Stilbemühungen und 
Symbolismus, aber auch gegen die einsei- 
tig am Tauschwert ausgerichteten Ratio- 
nalisierungsbestrebungen der Bauwirt- 
schaft erkämpft werden. 15) 
Die politischen Verhältnisse, das Be- 
dürfnis nach einem nationalen politischen 
Stil und die sich bereitwillig in den Dienst 
faschistischer Politik stellenden Baukünst- 
ler machten diesem Entwurfsverständnis 
ein vorschnelles Ende: 1930 erfolgte sein 
‘“Hinauswurf aus dem Bauhaus.” (Hannes 
Meyer (1930) 1965, 100) Aber der Schlag, 
den Hannes Meyer gegen das hergebrachte 
berufliche Selbstverständnis geführt hatte, 
traf tiefer, als es die sich zum Faschismus 
wendenden politischen Verhältnisse ver- 
muten ließen, denn auch noch nach dem 
zweiten Weltkrieg wurde gegen dieses 
Entwurfsverständnis von Architekten, 
denen man die Hinwendung zum Faschis- 
mus nicht im geringsten nachsagen kann, 
polemisiert. So konnte es sich Walter Gro- 
pius, als Gründer des Bauhauses noch 
1965 nicht verkneifen, Hannes Meyer, der 
mit seinem kollektivistisch-politischen 
Entwurfsverständnis wie kein anderer an 
den Nerv des autoritären, individuell-in- 
tuitiven Baukünstlers gerührt hatte, zu 
diffamieren: ‘“Mit seiner Weltanschauung 
des politischen Materialismus . ... . zer- 
setzte er die Idee des Bauhauses und 
brachte das Institut zwischen Scilla und 
Charybdis und schließlich auch selbst zur 
Strandung ..... Daß Meyer die Existenz 
des Instituts aufs Spiel setzte, spricht we- 
niger für seinen politischen Idealismus als 
für seine Instinktlosigkeit und für seine 
Unfähigkeit, eine Ballance zwischen sach- 
licher Arbeit und politischer Theorie her- 
zustellen... .. Abschließend möchte ich 
sagen, daß ich nach kühler Überlegung 
seinen Beitrag zur Architektur nach wie 
vor schätze, daß ich ihm aber nicht die 
Bedeutung beimessen kann, die Sie (Clau- 
de Schnaidt) ihm für die Bauhausjahre zu- 
sprechen ..... er war ein radikaler Klein- 
bürger,’” (Gropius 1965, 122). Dazu muß 
man wissen, daß Gropius noch 1964 die 
Rettung des Baukünstler-Architekten im 
“schöpferischen Koordinator’ gesehen 
hat: ”. .... Solche künstlerisch betonte, 
intuitive Persönlichkeit ist ihrer Natur 
nach ‘totaler Mensch’ und darum vorbe- 
stimmt, im Wettbewerb der Spezialisten 
die Grenze der Idee zu hüten und zu be- 
wahren. Seine Autotirär ist unteilbar . . . 
..” (Gropius, 1964, 81) ‘“Totaler Mensch” 
mit dem Anspruch auf ‘unteilbare Auto- 
rität”’ war Hannes Meyer allerdings nie; 
nichts hätte ihm ferner gelegen 16). 
Für die folgenden dreißig Jahre sollten 
in der BRD die Rettungsversuche des bau- 
künstlerischen Entwurfsverständnisses im 
Gropius’schen Sinne weiterhin noch die 
Szene bestimmen; daneben mußten alle Be- 
mühungen um eher methodisch ausgerich- 
tete oder eher politisch orientierte Ent- 
wurfsverständnisse Nebenströmungen blei- 
ben — solange, bis sich in den sechziger 
Jahren die Szene deutlich zu verändern be- 
ginnt: als nämlich alle Rettungsversuche 
des baukünstlerischen. Entwurfsverständ- 
nisses sich als fruchtlos erweisen angesichts 
des sich immer stärker durchsetzenden 
ökonomischen Primats beim Bauen. Unter 
diesem Primat wird das Entwerfen versach- 
RR”
	        
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