Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1978, Jg. 10, H. 37-42)

licht und z. T. verwissenschaftlicht; die 
baukünstlerische Dimension des Entwerfens 
wird auf den winzigen Spielraum der Fassa- 
denteilung und der Lüftungsrohrskulptur 
reduziert, auch auf die ‚saubere‘ Durchar- 
beitung von Fertigteilen. Dieses versach- 
lichte Entwurfsverständnis wird zur Haupt- 
strömung, wird es doch dem technologi- 
schen Fortschritt als adäquat angesehen: 
die quasi-wissenschaftliche Vorgehenswei- 
se, die Hannes Meyer propagiert hatte, fin- 
det sich als Allgemeingut in Lehrveranstal- 
tungen und bei Wettbewerben wieder; der 
Architekt als Experte unter Experten im 
„‚team” findet sich mit dem Verlust seiner 
autoritären Spitzenposition ab — unter den 
Tisch gekehrt wird der politische Anspruch 
von Hannes Meyer und seine Einbeziehung 
der Nutzer ins Kollektiv. 
Das baukünstlerische Entwurfsverständ- 
nis wird von der Bürokratisierung des Bau- 
ens, der Rationalisierung des Bürobetrie- 
bes und der Baustelle, den Forderungen 
nach nackter Zweckerfüllung und der im 
Gefolge des technischen Fortschritts ein- 
brechenden Flut neuer rationeller Bautech- 
nologien vom Sockel gespült, wird endlich 
zur schmalen Nebenströmung: die großen 
Meister sterben aus; der Brutalismus ist 
letztes Aufbegehren baukünstlerischen 3) 
Anspruchs; Architekten bezeichnen sich als 
„‚Bauplaner” und sprechen offen vom „Tod 
der Baukunst’. Der König ist tot — es lebe 
der König! 
Denn nun kann die den Trägern des 
ökonomisch-technischen Wandels zunächst 
nützliche, dann aber als unbequem und 
überflüssig fallengelassene Baukunst eine 
neue Funktion gewinnen: befreit von ‚der 
Not der Zwecke” und dem Zwang zur 
Ästhetisierung nackten Nützlich- und Pro- 
fitlichkeit kann sie in den Dienst des po- 
litischen Widerstandes gegen Bürokratisie- 
rung, übermächtig erscheinende Sachzwän- 
ge, Unterdrückung des Subjektes und ent- 
menschlichende Rationalisierung genom- 
men werden; bietet sie ein emanzipatori- 
sches Potential der Subjektivierung, der 
wortlosen Kritik und der ästhetischen Pro- 
vokation. Damit aber gewinnt auch das 
baukünstlerische Entwerfen, das „„Compo- 
nieren” einen neuen Stellenwert: den der 
individuellen oder auch kollektiven Selbst- 
findung, der Rückbesinnung zum Subjek- 
tiven, der Artikulation von Protest und des 
Erfindens und Aufzeigens alternativer 
Möglichkeiten — deren Politisierungsef- 
fekt gerade darin besteht, daß diese Mög- 
lichkeiten, die vom Gebrauchswert aus- 
gehen, nicht aktualisiert, von offizieller 
Seite als nicht realisierbar eingestuft wer- 
den. D.h. dieses in den Dienst politischen 
Widerstandes genommene baukünstlerische 
Entwerfen löst sich vom Realisieren, von 
der „Produktion von Architektur”; es 
verselbständigt sich als politisches Medium. 
Wohl gemerkt: es handelt sich um ein 
Potential — eine mögliche und sicherlich 
2} 
2 
.- 
auch nicht breit wirkende Strategie des 
Widerstandes, die zudem noch ständig in eg 
Gefahr schwebt, als Nostalgie mißverstan- 
den und als Flucht in die Traumtänzerei 
mißdeutet zu werden. Und in der Tat, 
nicht vieles, was heute entworfen, wieder 7) 
„componiert” wird, ist getragen vom Geist 
des Widerstandes und Protestes. 
1) Unter “Zwanziger Jahren’ wollen wir jene 
Periode besonderer stilistischer und techni- 
scher Leistungen im Bau- und Städtbauwe- 
sen verstehen, die zwischen dem Ende des 
Ersten Weltkrieges und dem Beginn des *’3 
Reiches‘ liegt; also zwischen 1918 und 
1933; vgl. Tendenzen der Zwanziger Jahre, 
1977, 22 
Unter dem Begriff ‘“Neues Bauen” versam- 
meln wir hier die vielfältigen funktionalisti- 
schen Bewegungen der Zwanziger Jahre, die 
als “Internationaler Stil’’, Funktionalismus, 
Bauhaus, Neue Sachlichkeit, Rationalismus, 
Konstruktivismus etc. in die Architekturge- 
schichte eingegangen sind. vgl. Hierzu Nor- 
bert Huse: “Neues Bauen’ 1975, 10-11. 
Im 19. Jahrhundert kann noch eine andere 
“Fast-Hauptströmung’’ baukünstlerischen 
Entwurfsverständnisses ausgemacht werden 
das morphologisch-typisierende Entwurfs- 
verständnis, das auf J.N.L. Durand zurück- 
geht; auch dieser Ansatz war “autoritär””, 
stand doch zumindest in Frankreich die 
Autorität des Staates dahinter. Wiewohl wir 
auch in den Zwanziger Jahren Weiterent- 
wicklungen dieses morphologisch-typisie- 
renden Entwurfsverständnisses vorfinden, 
wollen wir es hier nicht weiter berücksichti- 
gen. Vgl. ausführlich hierzu: Leonhard Bene- 
volo: Geschichte der Modernen Architektur, 
79; und Carlo Aymonino: I! significato della 
Citta, 1976/77 — 81. 
Wir wollen uns hier auf die holländischen 
Konstruktivisten, die sich im und um die 10) 
“de Stijl-Gruppe” scharten beschränken und 
die russischen Konstruktivisten nicht be- 
rücksichtigen, obwohl sich gerade bei ihnen 
wichtige Verbindungen zwischen wissen- 
schaftlicher Methodik und sozialistischer 11) 
Programmatik finden, während die holländi- 
schen Konstruktivisten eher unpolitisch z.T 
antisozialistisch eingestellt waren. Wir be- 
zeichnen hier den Ansatz der Konstrukti- 
visten als ‘kooperativ’’, wiewohl sie ihren 
Ansatz selber immer als ‘’kollektiv’” bezeich- 
nen. Der Unterschied zwischen ‘“kooperativ”’ 
und “kollektiv”” kann uns jedoch hier nicht 
nebensächlich sein: 
wenn ‘kooperativ”’ die gleichgeordnete Zu- 
sammenarbeit zwischen Fachleuten, Ex- 
perten bezeichnet, die gemeinsam an einem 
Produkt, Entwurf oder Konzept arbeiten, 
dann kann dieses ‘kooperative Zusammen- 
arbeiten” noch immer nach außen hin auto- 
ritär organisiert sein: etwa gegenüber den 
Herstellern des Produktes oder den Nutzern. 12) 
Unter “kollektiv”’ soll daher ein Arbeitszu- 
sammenhang verstanden werden, in den vor 
allem die Nutzer des Produktes u.U. auch 
die Hersteller einbezogen sind; und zwar als 13) 
aktiv am Prozeß Mitwirkende; dieses ‘kol- 14) 
lektive Zusammenarbeiten” kann folglich 
nicht autoritär organisiert sein — auch 
wenn sich einzelne innerhalb des Zusam- 
a 
menhangs autoritär verhalten mögen. 
vgl. hierzu u.a. Jost Hermand, 1977, 12-20 
hierzu gibt es Hinweise bei Sullivan, Wright, 
Bruno Taut, Erich Mendelsohn u.a.; und 
mündliche Berichte über das Arbeiten mit 
Ernst May und Walter Gropius. 
In seiner “Abhandlung über die Methode des 
richtigen. Vernunftsgebrauchs”’ beschreibt 
Rene Descartes vier Regeln, die er bei sei- 
ner Arbeit als Mathematiker. befolgt: 
“Die erste war, niemals etwas als wahr 
anzunehmen, wenn ich nicht ganz sicher 
und klar erkenne, daß es wirklich ‚wahr ist . 
Die zweite: jede schwierige Frage, die 
ich untersuchen würde, in soviel Einzelfragen 
zu zerlegen, daß eine bequemere Lösung 
möglich wird. (Die Analyse, d.V.) 
Die dritte: bei Erforschung der Wahr- 
heit alle meine Gedanken stets in eine gewis- 
se Ordnung zu bringen: mit dem Einfach- 
sten und Faßlichsten zu beginnen, um all- 
mählich, gleichsam stufenweise, zur Erkennt- 
nis des Schwierigeren und Verwickelteren zu 
gelangen und auch solche Dinge, die nicht von 
selbst in einem solchen Folgeverhältnis ste- 
hen, doch in eine gewisse Ordnung zu brin- 
gen. (Die Synthese, d.V.) 
Und die letz te: Sowohl bei Erfor- 
schung des Wesens einer Sache als auch bei 
Betrachtung aller einzelnen Schwierigkeiten 
so vollständig Aufzählungen und umfasssende 
Übersichten zu geben, daß ich sicher wäre 
nichts auszulassen.” Descartes (1638) 1851, 
30-1 - 
Descartes merkt zu diesen Regeln an: „Diese 
vier Regeln, so wahr sie auch sind, werden 
gewiß nicht imstande sein irgend einen 
Menschen zu tieferen Erkenntnissen zu füh- 
ren. Sie können nicht ohne weiteres von je- 
dem mit Erfolg benutzt werden” 31), 
Zur Bedeutung des Begriffs „„Konstruktivis- 
mus” vgl. Tendenzen der Zwanziger Jahre, 
1977, 1/77-8); wir verwenden den Begriff 
‚„‚Konstuktivismus” ebenfalls als einen Sam- 
melbegriff zumal gerade die hiermit bezeich: 
nete Bewegung nicht umhin konnte, sich al- 
le Nase lang einen neuen ‚, . . . . ismus’’ an 
die Fahne zu heften. 
vgl. hierzu u.a. den Brief von J.J.F. Oud an 
Adolf Behne, in dem er sich über van Does- 
burg mockiert; in: Tendenzen der Zwanzi- 
ger Jahre, Bauwelt 33/77, 1092 
vgl. ausführlicher zu der Bedeutung Cor van 
Eesterens für eine „moderne” versachlichte 
Auffassung von Stadtplanung: Manfred 
Bock in Tendenzen der Zwanziger Jahre, 
1977, 1/37-9 
Zu den wenigen Vertretern eines versach- 
lichten Urbanismus zählt u.a. Anton Hoenig, 
Stadtplaner bei der Stadt Köln, der als einer 
der ersten systematische Stadtforschung be- 
trieb, die Elemente der Stadtentwicklung 
analysierte und ihre Beziehung in mathema- 
tischen Modellen faßte. Bezeichnend ist, daß 
die wichtigen Grundlagenarbeiten Hoenigs 
verdrängt wurden und vergessen waren, als 
in den 60er Jahren in der Bundesrepublik 
solche Arbeiten sich auf breiterer Ebene zu 
entwickeln begannen. Auch darin zeigt sich 
die Natur des „programmatischen Vor- 
griffs’‘, der sich gegen die baukünstlerische 
Auffassung von Städtebau nicht halten 
konnte. Vgl. Hoenig, 1928, 197-9; und 
231-5. 2 
vgl. u.a. zu dieser Auseinandersetzung ZW!" 
schen den beiden Vertretern unterschiedli- 
cher Entwurfs- (und Planungs-) Verständnis- 
se M. Steinmann, 1972, 32-45. 
vgl.hierzu Das Neue Frankfurt, (7/1927)1977 
vgl. hierzu den feinen Unterschied zwischen 
der Vorstellung von Gropius: „Das Wesen’ 
des (Architekten)berufes ist nicht das eines 
Technikers, sondern das eines zusammenfas-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.