Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1979, Jg. 11, H. 43-47, [48])

heit; und es geht niemand auf die Straße, 
um diese negative Freiheit festlich zu be- 
gehen. Sie ist ein Zustand, an den man 
sich gewöhnt hat, ebenso wie man sich 
daran gewöhnt hat, daß in der Bundesre- 
publik niemand verhungert. Man könnte 
darauf hinweisen, daß auch dies beileibe 
kein selbstverständlicher Zustand ist; aber 
auch das wird uns nicht veranlassen, auf 
die Straße zu gehen und ein Fest der Satt- 
heit zu veranstalten. Das Bundesfest der 
Französischen Revolution am 14. Juli 
1790 war etwas anderes. Wenn damals 
die Bürger von Paris zu Hunderten auf dem 
Marsfeld Erdarbeiten gemacht haben, um 
die Tribünen für das erste Nationalfest zu 
bauen, dann wußten sie, warum sie das 
taten. Das Volk hatte sich befreit. Das 
Unglück hat es gewollt, daß das deutsche 
Volk im Jahre 1945 befreit wurde, und 
zwar vom Feinde, als das Volk ihm nicht 
länger Widerstand leisten konnte. Das ist 
eine sehr andere Grundbedingung. 
Dabei gibt es in Europa Staatsfeste, 
die einen Inhalt haben. Ich spreche nicht 
von dem jährlichen Bundesfest des 14. 
Juli, dessen Inhalt mittlerweile historisch 
geworden ist. Aber ich habe in London 
die Krönung der Königin gesehen; und 
glaubt es oder nicht: das war ein Volks- 
fest, weil in England, auf jeden Fall da- 
mals noch, die Monarchie etwas war, das 
von keinem ernsthaft bezweifelt wurde: 
ein Rest von Form, der geblieben war, 
der noch festlich begangen werden konn- 
te. 
Reste von Formen: Bloch spricht von 
Volksfesten, jedoch, daß sie sich an kirch- 
liche Feste anschließen: Der Karneval zum 
Beispiel. Auch solche Feste sind, seit 
Bloch schrieb, immer inhaltloser geworden 
immer künstlicher, weil die Anlässe immer 
schemenhafter geworden sind. 
Was ist eigentlich Anlaß zu einem Fest? 
Der Staat ist bemüht, neue Anlässe zu de- 
kretieren, den 20. Juli etwa oder den 17. 
Juni. Wurden diese Anlässe jemals gefühlt? 
Kommt es vollends zu Stadtfesten, so sind 
die Anlässe selten. Die Gründung der Stadt 
kann man nur alle fünfzig Jahre feiern. 
Die Quartierfeste endlich, oder die Stra- 
Benfeste haben gar keinen Anlaß. Das Quar 
tier ist da, die Straße ist da, und die Bürger 
werden aufgefordert, so zu tun, als ob sie 
das nahe angehe. Das sind Feste des Als 
Ob. „Und nun macht mal schön alle mit!” 
Ein Fest muß aber einen Anlaß haben, 
es muß sich auf ein Ereignis beziehen, das 
sehr wichtig ist. Klaus Duntze hat auf 
jenem Treffen in Loccum eine Geschichte 
erzählt, aus der hervorgeht, welcher Art 
der Anlaß zu einem Fest ist. Es ist die 
Legende von dem Tischlermeister, dem der 
König befohlen hat, einen ganz unmöglich 
großen Auftrag auszuführen, und zwar in 
einer Nacht. Würde er ihn am nächsten 
Morgen nicht abliefern, so müsse er ster- 
ben. Der Mann hatte Gottvertrauen. Statt 
die Nacht durch zu jammern, lud er seine 
Freunde ein, und sie aßen und tranken 
fröhlich bis zum Morgen. Früh um Fünf 
klopfte es dreimal an die Türe, der Meister 
empfahl Gott seine Seele und öffnete. 
Draußen stand, wie erwartet, der Bote des 
Königs. Er sagte: „Meister, der König ist 
tot. Mach ihm einen Sara!” 
Was der Meister in dieser Nacht mit sei- 
nen Freunden getrieben hat, ist noch kein 
Fest; aber es kann daraus eins werden. 
Denn sicher werden die gleichen Freunde 
im Jahre darauf wieder zusammenkom- 
men, und im nächsten Jahr wieder; und da 
werden dann vielleicht schon allen Teilneh- 
mern Hobelspäne zur Erinnerung gereicht 
werden. Nehmen nun die Kinder diese Ge- 
denkfeier auf, so werden sich die Hobelspä- 
ne in Marzipanflocken verwandelt haben, 
und der Sarg des Königs — ein Schmuck- 
kästlein — wird eine Rolle zu spielen be- 
ginnen in einem Ritus, der sich festigt. An- 
laß aber für das Fest ist eine Errettung aus 
höchster Not, also ein existenzieller Anlaß, 
und das, was dieser Rettung vorangeht, was 
sie sozusagen garantiert: das Gottvertrauen 
des Meisters, seine Hoffnung. 
Sind aber diese beiden, die tödliche Be- 
drohung und die Hoffnung, die sie hat 
vorübergehen lassen, sind diese beiden nicht 
oft, vielleicht immer Anlaß zum Fest? Ist 
das Weihnachtsfest etwas anderes? Es 
heißt ja nicht ohne Grund: We/t /ag in Ban- 
den, Christ ist erstanden. Eine tödliche 
Bedrohung, durch die prophetische Hoff- 
nung überwunden, liegt diesem Fest zu- 
grunde. Und ist es mit dem 14. Juli an- 
ders? Nicht nur standen die Truppen des 
Königs bereit, die Revolution in Paris zu 
ersticken; der Vorgang selbst, symbolisch 
wie er ist — denn die Bastille hatte keiner- 
lei strategische Bedeutung — bezeichnet 
das Heraustreten des Volkes aus der töd- 
lichen Umklammerung der Despotie. So 
jedenfalls fühlte man das, damals und wei- 
ter, die Kette der Generationen herab. 
Man tanzt immer noch am 14. Juli in den 
Straßen von Paris, obwohl der Anlaß zu 
diesem Fest nachgerade historisch gewor- 
den ist. 
In Paris. Im vorigen Oktober war ich 
erstaunt, allenthalben in der alten Stadt 
Gruppen zu finden, die musizierten. Beson 
ders das Centre Georges Pompidou, jene 
sehr fragwürdige permanente Kunstaus- 
stellung, hatte das Volk sich angeeignet. 
Auf dem abschüssigen Platz, vor dem Cen- 
tre, promenierte man, musizierte man, da 
gab es Feuerfresser und andere Gaukler. 
Das Volk von Paris hatte sich spontan 
des Platzes und der umgebenden Gassen 
bemächtigt. Die Stadt hat das nicht ange 
ordnet, allenfalls hat sie die Gelegenheit 
zum Feiern bereitgestellt mit all den kau 
zigen Plastiken, die da herumstehen, be- 
sonders aber durch die große Glaswand 
des Centre selbst, durch die man von 
außen die Menschen im Hause sieht und 
von innen die vielen, die sich da draußen, 
vor dem Hause, herumtreiben. Wir können 
mit Gewißheit sagen, daß das Volk von 
Berlin sich des Kongreßzentrums nicht 
bemächtigen wird. Es wird es — besten- 
falls — anstaunen. Vielleicht ist es ein we- 
nig weit hergeholt, wenn man das Lebens- 
gefühl der Pariser mit der latenten Be- 
drohung in Verbindung bringen will, der 
Paris ausgesetzt ist. Sie spricht sich im 
Wappen der Stadt aus, ein Schiff, das auf 
stürmischen Wogen segelt. Die Unter- 
schrift heißt: Fluctuat nec mergitur: Das 
Schiff der Stadt wird auf den Wogen um- 
hergetrieben, aber es wird nicht sinken. 
Ein seltsames Stadtwappen. Andere Städ- 
Pi 
N 
te zeigen in ihrem Wappen Sicherheit: das 
feste Tor, den starken Turm. Das Pariser 
Wappen spricht von der permanenten Be- 
drohung. 
Ein Fest ist also auch dies: Abrechnung 
mit der Welt, wie sie ist; und sie ist tödlich; 
ihre Überwindung durch die Hoffnung und. 
endlich, ihre Überwindung in der Tat. Da- 
rum kann der Staat, die Stadt, das Quartier 
bei allem guten Willen keinen Anlaß zum 
Fest bieten. Mehr und mehr Menschen, 
junge Menschen besonders, kehren solchen 
vorgegebenen Anlässen den Rücken, su- 
chen Gegenanlässe, Gegenformen. Gibt 
es dann ein Gelingen, so wird es ein Fest 
geben. Heute kennen wir davon allenfalls 
den Vorgeschmack. 
Feste dürfen wir aus den Kreisen derer erwar: 
ten, die benachteiligt sind und sich selbst helfen 
wollen. Man spricht von Alternativen. Aber wir 
haben ja in dem Colloquium ‚‚Stadtgestalt und 
kulturelle Identität” in diesem Hause, an das 
unsere Veranstaltung anschließt, von Werner 
Durth gehört, wie gespalten die Benachteiligten 
sind, wie disparat einstweilen noch ihre Versu- 
che. Klaus Duntze wird uns einen dieser Versu- 
che ins Gedächtnis rufen, die Aktion Pumpsta- 
tion und Feuerwache im Bezirk 36 von Kreuz- 
berg. Das war ein fröhlich-geselliger, beinahe 
ein festlicher Akt der Selbsthilfe und des Pro- 
testes und man hatte den Eindruck, daß er bei 
den Leuten aus dem Quartier einige Zustim- 
mung fand; aber die Sache wurde eben kein 
— noch so kleiner — Bastillensturm, die ‚,Trup- 
pen des Königs” haben sie mit einem unverhält- 
nismäßigen Aufwand an Macht erstickt. Was 
sich aber hier als Anlaß zu einem Anlaß, als 
Vorfest gezeigt hat, davon wird Klaus Duntze 
uns erzählen. 
A"
	        

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.