Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1979, Jg. 11, H. 43-47, [48])

Michael Müller 
Bürgerliche Kulturgeschichte: 
Ein toter Hund? 
oder: Geschichte als Bestandteil einer alternativen Kultur 
Dem Beitrag liegt das Manuskript eines Vortrags zugrunde, der am 26.10.78 in Nijmegen/NL gehalten wurde 
Von der Autonomie der Kunst und der 
Avantgarde zu handeln heißt, es mit den 
zentralen Bestimmungsformen der Bedeu- 
tung künstlerischer Produktionen in der 
bürgerlichen Gesellschaft zu tun zu haben. 
Es sind Bestimmungsformen, die sich nicht 
ergänzen, auch nicht bruchlos ineinander 
übergehen und sich ablösen. In ihren kul- 
turpolitischen Programmen und Zielsetzun 
gen stehen sie einander unversöhnlich ge- 
genüber. Für die Autonomie der Kunst 
ist charakteristisch — wobei ich notwen- 
digerweise verkürze —, daß ihr histori- 
scher Begründungszusammenhang, näm- 
lich die Loslösung bzw. Freisetzung der 
Kunst von den lebenspraktischen Zwän- 
gen und Notwendigkeiten in der Realität, 
als ein gewordener Zustand nicht mehr 
zur Erscheinung gebracht wird. Wenn 
Adorno sagt, daß überhaupt keine Auto- 
nomie in der Kunst ohne Verdeckung der 
Arbeit sich denken ließe, dann ist es genau 
das, was sich in der Autonomie als Bestim- 
mungsform nicht mehr als deren gesell- 
schaftliche Bedingtheit wiederfindet. In- 
dem dieser Zusammenhang geleugnet wird, 
entwickelt die Autonomie sich zum We- 
sen von Kunst schlechthin. Kunst /st auto- 
nom — sie mußte es nicht erst werden. 
An dieser ideologischen Verzerrung 
setzte bekanntlich im Verlauf der ersten 
drei Jahrzehnte unseres Jahrhunderts die 
Kritik der Avantgarden ein. Diese Avant- 
garden beziehen — bei aller Differenz un- 
tereinander, worauf ich aber nicht weiter 
eingehen werde — im wesentlichen Front 
gegen den autonomen Status von Kunst. 
Und wenn auch zuerst nicht gegen jede 
Kunst, so doch — wie Adolf LOOS 1910 
in einem Essay — gegen Teilbereiche von 
ihr. In seinem Fall ist es die Architektur, 
die er von der Kunst in ihrem tradierten 
Sinn befreit sehen wollte. Architektur soll 
te den Anspruch aufgeben, Kunst zu sein. 
weil sie so den lebenspraktischen Interes- 
sen, denen Architektur zu dienen hätte, 
sich nur immer weiter entfremdet. 
Einen Eindruck von den Absichten der 
Avantgarde, wie ich sie in solcher Aussage 
und solchem Anspruch für noch nicht abge 
golten halte, gibt Walter BENJAMIN in 
dem 1933 verfaßten Essay Erfahrung und 
Armut: „Allzu lange lag der Akzent auf 
dem Schöpferischen. So schöpferisch ist 
nur, wer Auftrag und Kontrolle meidet. 
Die aufgegebene kontrollierte Arbeit — ihr 
Vorbild: die politische und die technische 
hat Schmutz und Abfall, greift zerstörend 
in den Stoff ein, verhält sich abnutzend 
zum Geleisteten, kritisch zu ihren Bedin- 
gungen und ist in alledem das Gegenstück 
zu der des Dilettanten, der im Schaffen 
schwelgt. Dessen Werk ist harmlos und 
rein; das Meisterliche verzehrend und 
reinigend. Und darum steht der Unmensch 
als der reale Bote realeren Humanismus 
unter uns. Es ist der Überwinder der Pha- 
se. Er solidarisiert sich nicht mit der 
schlanken Tanne, sondern mit dem Hobel, 
der sich verzehrt. Nicht mit dem edlen 
Erz, sondern mit dem Schmelzofen, der 
es läutert. Der Durchschnitts-Europäer 
hat sein Leben mit der Technik nicht zu 
vereinen vermocht, weil er am Fetisch 
schöpferischen Daseins festhielt. Man 
muß schon Loos im Kampfe mit dem 
Drachen Ornament verfolgt, muß das 
stellare Esperanto Scheerbartscher Ge- 
schöpfe vernommen oder Klees Neuen 
Engel, welcher die Menschen lieber befrei- 
te, indem er ihnen nähme, als beglückte, 
indem er ihnen gäbe, gesichtet haben, um 
eine Humanität zu fassen, die sich an der 
Zerstörung bewährt.” 
Die Avantgarde, wie sie BENJAMIN 
schon unter dem Eindruck des Faschismus 
in ihrer Programmatik noch einmal zu be- 
stimmen versucht hat, bereitet einer Sache 
ein Ende, deren vermeintliche Humanität 
sich im autonomen Status von Kunst ver- 
zehrt und zugleich diesen dafür schamlos 
ausgebeutet hatte. Außerdem zeigt sich in 
der Abkehr von der Autonomie deren 
historische Gewordenheit, welche nun auf 
ihren Punkt gebracht werden kann: Kunst 
soll praktisch werden; das Leben mit der 
Kunst versöhnt und zentrale Positionen 
der bourgeoisen Kunstauffassung zerstört 
werden. Die Befreiung liegt dabei weniger 
im Geben, der Entwicklung neuer Werte, 
sondern in der Reduzierung aufs Nötigste, 
Angeknüpft wird bekanntlich am schlech- 
ten Neuen und nicht am hergebrachten 
guten Alten. Darin war sich BENJAMIN 
mit BRECHT einig. 
«7 
Bevor wir aber näher auf diesen Bruch der 
Avantgarde mit der bürgerlichen Kunstge- 
schichte und ihrer Institution Kunst ein- 
gehen, sollten und müßten wir fragen, was 
uns heute noch an dieser mittlerweile gut 
ein halbes Jahrhundert zurückliegenden 
Kontroverse interessieren kann. Wo liegt 
die Aktualität der Auseinandersetzung be- 
gründet? 
Im Gegensatz zu früheren Arbeiten, in 
denen ich mich mit der Genese der autono- 
men Kunst und der Einschätzung der Avant: 
gardebewegung in der Architektur befaßt 
habe, habe ich mich diesmal, da das Thema 
ja in Verbindung steht mit der übergreifen- 
den Thematik des Symposions zur ‚Kunst- 
geschichte als Kritik”, von praktischen 
Überlegungen leiten lassen. Dies schien mir 
hier geboten, weil der Hinweis auf Kr/tik 
ja insgeheim doch auch das praktische 
Eingreifen oder sagen wir besser, die 
Möglichkeiten des praktischen Eingreifens 
der Kunstgeschichte, respektive des Kunst: 
historikers und der von ihm bearbeiteten 
Inhalte meint. 
Bei meinen Überlegungen war mir ein 
erster Ausgangspunkt, daß wir eigentlich 
Klarheit darüber haben müßten, unter wel 
chen praktischen Lebensbedingungen wir 
die wichtige Vermittlung der, wie auch 
immer gewonnenen, kritischen kunstwis- 
senschaftlichen Inhalte betreiben. Inwie- 
weit, so frage ich, kann die wissenschaftli- 
che Erarbeitung von Inhalten gegenüber 
ihrer praktischen Vermittlung gleichgültig 
bleiben, und inwieweit darf sie es sein, um 
sich nicht ihrer Wirkungen zu berauben? 
... €$ sind die Bedeutung von Kritik und 
deren Folge, welche hier sich aufs Engste 
mit der Auseinandersetzung der Avant- 
garde mit der bürgerlichen Kunst berühren. 
Ein anderer Gesichtspunkt kommt hin- 
zu, der die Notwendigkeit von Kritik heute 
beeinflußt. Es ist das wachsende Interesse, 
Formen alternativer Kulturarbeit zu ent- 
wickeln, also Praxis zu haben für das Ein- 
bringen von Kritik, und nicht die Kritik 
bloß gegen eine bestehende Praxis zu ent- 
wickeln und sie allein von dieser bestehen- 
den Praxis aus zu rechtfertigen. Darin sehe 
ich einen großen Unterschied zu der Zeit, 
da Nicos HADJINICOLAOU’s Buch ge- 
schrieben wurde, oder da ich selbst an 
der ‘Villa als Herrschaftsarchitektur’ gear- 
beitet habe. 
Man könnte — mit Einschränkungen 
natürlich — von diesen Arbeiten wohl als 
von Bilderstürmereien sprechen, die eine 
andere Praxis wollten, aber noch sehr un- 
sicher waren, wie diese etwas mit einer 
eigenständigen Rolle der Kunst respektive 
Kunstgeschichte zu tun hätte. Gegenwärtig 
geht es darum, praktische Verhältnisse her- 
zustellen, um zu einem produktiven Verar- 
beiten und Lernen auch kunstwissenschaft: 
licher Inhalte zu kommen. Dabei ist es pa- 
radox, daß es damals schwieriger war, sich 
konkrete Vorstellungen zu machen von 
diesen praktischen Verhältnissen, gleich- 
wohl aber war die Hoffnung auf das mög- 
liche Durchsetzen eben solcher prakti- 
schen Verhältnisse größer. Heute gibt es 
Teilbereiche, in denen sich eine alternati- 
ve Praxis, wenn auch noch partikular, ver- 
wirklichen ließe, gleichwohl sind die Hoff- 
nungen darauf, daß dies gesamtgesell- 
schaftlich einzulösen wäre, weitaus ger in- 
ger als zur Zeit der Studentenrevolte. 
Um auf unser Thema zurück zukom- 
®
	        

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