Michael Müller
Bürgerliche Kulturgeschichte:
Ein toter Hund?
oder: Geschichte als Bestandteil einer alternativen Kultur
Dem Beitrag liegt das Manuskript eines Vortrags zugrunde, der am 26.10.78 in Nijmegen/NL gehalten wurde
Von der Autonomie der Kunst und der
Avantgarde zu handeln heißt, es mit den
zentralen Bestimmungsformen der Bedeu-
tung künstlerischer Produktionen in der
bürgerlichen Gesellschaft zu tun zu haben.
Es sind Bestimmungsformen, die sich nicht
ergänzen, auch nicht bruchlos ineinander
übergehen und sich ablösen. In ihren kul-
turpolitischen Programmen und Zielsetzun
gen stehen sie einander unversöhnlich ge-
genüber. Für die Autonomie der Kunst
ist charakteristisch — wobei ich notwen-
digerweise verkürze —, daß ihr histori-
scher Begründungszusammenhang, näm-
lich die Loslösung bzw. Freisetzung der
Kunst von den lebenspraktischen Zwän-
gen und Notwendigkeiten in der Realität,
als ein gewordener Zustand nicht mehr
zur Erscheinung gebracht wird. Wenn
Adorno sagt, daß überhaupt keine Auto-
nomie in der Kunst ohne Verdeckung der
Arbeit sich denken ließe, dann ist es genau
das, was sich in der Autonomie als Bestim-
mungsform nicht mehr als deren gesell-
schaftliche Bedingtheit wiederfindet. In-
dem dieser Zusammenhang geleugnet wird,
entwickelt die Autonomie sich zum We-
sen von Kunst schlechthin. Kunst /st auto-
nom — sie mußte es nicht erst werden.
An dieser ideologischen Verzerrung
setzte bekanntlich im Verlauf der ersten
drei Jahrzehnte unseres Jahrhunderts die
Kritik der Avantgarden ein. Diese Avant-
garden beziehen — bei aller Differenz un-
tereinander, worauf ich aber nicht weiter
eingehen werde — im wesentlichen Front
gegen den autonomen Status von Kunst.
Und wenn auch zuerst nicht gegen jede
Kunst, so doch — wie Adolf LOOS 1910
in einem Essay — gegen Teilbereiche von
ihr. In seinem Fall ist es die Architektur,
die er von der Kunst in ihrem tradierten
Sinn befreit sehen wollte. Architektur soll
te den Anspruch aufgeben, Kunst zu sein.
weil sie so den lebenspraktischen Interes-
sen, denen Architektur zu dienen hätte,
sich nur immer weiter entfremdet.
Einen Eindruck von den Absichten der
Avantgarde, wie ich sie in solcher Aussage
und solchem Anspruch für noch nicht abge
golten halte, gibt Walter BENJAMIN in
dem 1933 verfaßten Essay Erfahrung und
Armut: „Allzu lange lag der Akzent auf
dem Schöpferischen. So schöpferisch ist
nur, wer Auftrag und Kontrolle meidet.
Die aufgegebene kontrollierte Arbeit — ihr
Vorbild: die politische und die technische
hat Schmutz und Abfall, greift zerstörend
in den Stoff ein, verhält sich abnutzend
zum Geleisteten, kritisch zu ihren Bedin-
gungen und ist in alledem das Gegenstück
zu der des Dilettanten, der im Schaffen
schwelgt. Dessen Werk ist harmlos und
rein; das Meisterliche verzehrend und
reinigend. Und darum steht der Unmensch
als der reale Bote realeren Humanismus
unter uns. Es ist der Überwinder der Pha-
se. Er solidarisiert sich nicht mit der
schlanken Tanne, sondern mit dem Hobel,
der sich verzehrt. Nicht mit dem edlen
Erz, sondern mit dem Schmelzofen, der
es läutert. Der Durchschnitts-Europäer
hat sein Leben mit der Technik nicht zu
vereinen vermocht, weil er am Fetisch
schöpferischen Daseins festhielt. Man
muß schon Loos im Kampfe mit dem
Drachen Ornament verfolgt, muß das
stellare Esperanto Scheerbartscher Ge-
schöpfe vernommen oder Klees Neuen
Engel, welcher die Menschen lieber befrei-
te, indem er ihnen nähme, als beglückte,
indem er ihnen gäbe, gesichtet haben, um
eine Humanität zu fassen, die sich an der
Zerstörung bewährt.”
Die Avantgarde, wie sie BENJAMIN
schon unter dem Eindruck des Faschismus
in ihrer Programmatik noch einmal zu be-
stimmen versucht hat, bereitet einer Sache
ein Ende, deren vermeintliche Humanität
sich im autonomen Status von Kunst ver-
zehrt und zugleich diesen dafür schamlos
ausgebeutet hatte. Außerdem zeigt sich in
der Abkehr von der Autonomie deren
historische Gewordenheit, welche nun auf
ihren Punkt gebracht werden kann: Kunst
soll praktisch werden; das Leben mit der
Kunst versöhnt und zentrale Positionen
der bourgeoisen Kunstauffassung zerstört
werden. Die Befreiung liegt dabei weniger
im Geben, der Entwicklung neuer Werte,
sondern in der Reduzierung aufs Nötigste,
Angeknüpft wird bekanntlich am schlech-
ten Neuen und nicht am hergebrachten
guten Alten. Darin war sich BENJAMIN
mit BRECHT einig.
«7
Bevor wir aber näher auf diesen Bruch der
Avantgarde mit der bürgerlichen Kunstge-
schichte und ihrer Institution Kunst ein-
gehen, sollten und müßten wir fragen, was
uns heute noch an dieser mittlerweile gut
ein halbes Jahrhundert zurückliegenden
Kontroverse interessieren kann. Wo liegt
die Aktualität der Auseinandersetzung be-
gründet?
Im Gegensatz zu früheren Arbeiten, in
denen ich mich mit der Genese der autono-
men Kunst und der Einschätzung der Avant:
gardebewegung in der Architektur befaßt
habe, habe ich mich diesmal, da das Thema
ja in Verbindung steht mit der übergreifen-
den Thematik des Symposions zur ‚Kunst-
geschichte als Kritik”, von praktischen
Überlegungen leiten lassen. Dies schien mir
hier geboten, weil der Hinweis auf Kr/tik
ja insgeheim doch auch das praktische
Eingreifen oder sagen wir besser, die
Möglichkeiten des praktischen Eingreifens
der Kunstgeschichte, respektive des Kunst:
historikers und der von ihm bearbeiteten
Inhalte meint.
Bei meinen Überlegungen war mir ein
erster Ausgangspunkt, daß wir eigentlich
Klarheit darüber haben müßten, unter wel
chen praktischen Lebensbedingungen wir
die wichtige Vermittlung der, wie auch
immer gewonnenen, kritischen kunstwis-
senschaftlichen Inhalte betreiben. Inwie-
weit, so frage ich, kann die wissenschaftli-
che Erarbeitung von Inhalten gegenüber
ihrer praktischen Vermittlung gleichgültig
bleiben, und inwieweit darf sie es sein, um
sich nicht ihrer Wirkungen zu berauben?
... €$ sind die Bedeutung von Kritik und
deren Folge, welche hier sich aufs Engste
mit der Auseinandersetzung der Avant-
garde mit der bürgerlichen Kunst berühren.
Ein anderer Gesichtspunkt kommt hin-
zu, der die Notwendigkeit von Kritik heute
beeinflußt. Es ist das wachsende Interesse,
Formen alternativer Kulturarbeit zu ent-
wickeln, also Praxis zu haben für das Ein-
bringen von Kritik, und nicht die Kritik
bloß gegen eine bestehende Praxis zu ent-
wickeln und sie allein von dieser bestehen-
den Praxis aus zu rechtfertigen. Darin sehe
ich einen großen Unterschied zu der Zeit,
da Nicos HADJINICOLAOU’s Buch ge-
schrieben wurde, oder da ich selbst an
der ‘Villa als Herrschaftsarchitektur’ gear-
beitet habe.
Man könnte — mit Einschränkungen
natürlich — von diesen Arbeiten wohl als
von Bilderstürmereien sprechen, die eine
andere Praxis wollten, aber noch sehr un-
sicher waren, wie diese etwas mit einer
eigenständigen Rolle der Kunst respektive
Kunstgeschichte zu tun hätte. Gegenwärtig
geht es darum, praktische Verhältnisse her-
zustellen, um zu einem produktiven Verar-
beiten und Lernen auch kunstwissenschaft:
licher Inhalte zu kommen. Dabei ist es pa-
radox, daß es damals schwieriger war, sich
konkrete Vorstellungen zu machen von
diesen praktischen Verhältnissen, gleich-
wohl aber war die Hoffnung auf das mög-
liche Durchsetzen eben solcher prakti-
schen Verhältnisse größer. Heute gibt es
Teilbereiche, in denen sich eine alternati-
ve Praxis, wenn auch noch partikular, ver-
wirklichen ließe, gleichwohl sind die Hoff-
nungen darauf, daß dies gesamtgesell-
schaftlich einzulösen wäre, weitaus ger in-
ger als zur Zeit der Studentenrevolte.
Um auf unser Thema zurück zukom-
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