Einheit von Mensch und Natur und seine
Versöhnung mit ihr zum Zwecke der Aus-
bildung des Menschen zum ganzen Men-
schen zu befördern — erwächst schließlich
die Fähigkeit der Kunst, daß allein noch
sie die Humanität, das wichtigste Gut
der Menschheit überhaupt, befördern
könne. Denn: Die Einheit der Sinne und
die des Geistes ist bereits dahin in einer
auf Ausdifferenzierung (sprich Arbeits-
teilung) ausgerichteten Gesellschaft, in
der der Mensch nicht mehr durch Arbeit
— wie es die Aufklärung noch vorsah —
sich vervollkommnet und in seinen Fähig-
keiten ausbildet und verwirklicht. In die-
sem Sinn verstehe ich SCHILLERS Klage,
wenn es bei ihm heißt: „Wir sehen nicht
bloß einzelne Subjekte, sondern ganze
Klassen von Menschen nur einen Teil ihrer
Anlagen entfalten, während das die übri-
gen wie bei verkrüppelten Gewächsen
kaum mit matter Spur angedeutet sind.
Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruch-
stück des Ganzen gefesselt, bildet sich der
Mensch nur als Bruchstück aus, ewig nur
das eintönige Geräusch des Rades, das er
umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die
Harmonie seines Wesens. Und anstatt die
Menschheit in der Natur auszuprägen,
wird er bloß zu einem Abdruck seines Ge-
schäfts und seiner Wissenschaft.
Das Göttliche All, von dem HEGEL we-
nig später spricht, ist bereits in die tote
mechanische Natur verwandelt worden.
Das Schöne in und an ihr ist zum Ding er-
niedrigt, wie der Tempel nur noch als
Klotz und Stein dem Menschen in der
Wahrnehmung erscheint. Doch mit der Ver-
dinglichung der Welt bildet sich analog die
Subjektivität heraus, die — so Hegel — in
Gefühlen und Gesinnungen die Schönheit
und Wahrheit aufzubewahren weiß, wel-
che der Verstand in seiner wissenschaftli-
chen Erfahrung von Natur preisgibt. Und
so wird es zur Aufgabe der Kunst, die zer
rissene Totalität wieder herzustellen, die
Partikularität der menschlichen Fähigkei-
ten zusammenzufügen. Und Kunst hat
nicht zuletzt diese hohe gesellschaftliche
Funktion erreichen können, weil sie kraft
ihrer behaupteten Autonomie aus den le-
benspraktischen Bezügen, die ja nun der
Verdinglichung anheim gegeben sind,
herausgehalten werden kann.
Daraus die Versöhnungsfunktion von
Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft ab-
zuleiten, die die Avantgarde gerade mittels
der Zertrümmerung der Autonomie der
Kunst als ideologischen Schein und Stabi-
lisierung von Herrschaft glaubte bloßlegen
zu müssen, liegt nahe. Die Avantgarde hat
dabei den Funktionszusammenhang der
Kunst zerstört, also die Institution der
Autonomie, kraft derer bürgerliche Kunst
ihre Wirkung hatte; die aber auch der bür-
gerlichen Kunst die Wirkung langfristig ver-
sagen würde, weil im „geschlossenen Kunst
werk” die Totalität der gesellschaftlichen
Wirklichkeit in der fortgeschrittenen bür-
gerlichen Gesellschaft nicht mehr wieder
gegeben werden kann. Der Vorwurf, der
der Avantgarde jedoch gemacht werden
muß, ist der: Daß sie im Grunde genom-
men dem schon brüchigen Totalitätsan-
spruch der autonomen Kunst in der bürger-
lichen Gesellschaft gefolgt ist, indem sie
V
mit eben dem gleichen Totalitätsanspruch
nunmehr die Aufhebung der autonomen
Kunst in die Gesellschaft, in die lebens-
praktischen gesellschaftlichen Zusammen-
hänge versuchte durchzusetzen. Es ist die
Totalität, mit der Kunst in der bürgerli-
chen Gesellschaft für all das stehen sollte,
was sich den Menschen in der Wirklichkeit
versagte. Diese Totalität wird im Grunde
beibehalten in den Programmen der Avant-
garde, die jetzt von seiten der Kunst all
das, was in ihr aufgehoben war, in die Le-
benspraxis überführt werden sollte. Es
fällt nicht schwer; sich vorzustellen, daß
bei einem solchen Programm die Kunst
und das, was sich in der Kunst hatte halten
können, leicht auf der Strecke blieben,
wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse
nicht derart beschaffen sind, daß es zu
einer entsprechenden Aufhebung auch kom
men kann. Aber ungeachtet dessen bleibt
überhaupt zu fragen, ob es ein kulturpoli-
tisch strategischer Gesichtspunkt sein kann
die Antizipationen, wie sie in den bürgerli-
chen Kunstwerken enthalten sein können,
ad acta zu legen. Um diese gewiß kompli-
zierte Frage ein wenig in den Griff zu be-
kommen, scheint es mir sinnvoll, auf einen
Aufsatz einzugehen, in dem unlängst Eber-
hard KNÖDLER-BUNTE versucht hat, der
bürgerlichen Kunst kritische Erkenntnis-
werte beizumessen.
KNÖDLER-BUNTE hat in diesem Aufsatz
zum Verhältnis von Sozialgeschichte und
Kunstwissenschaft so etwas wie die Logik
kultureller Produktion zu entwickeln ver-
sucht, wobei er diese im Sinne einer alter
nativen Produktion von Kultur versteht.
Aus der schon von Karl MARX beobach-
teten Universalisierungstendenz des Kapi-
tals leitet KNÖDLER-BUNTE ab, daß das
Kapital immer dort an Grenzen der ver-
wertungsbestimmten Integration stößt,
wo sich die Herstellung der lebendigen Ar-
beitskraft nicht oder nur um den Preis
schwerwiegender dysfunktionaler, oder
besser, uneffizienter Folgen verwertungs-
bestimmt organisieren läßt. Das wäre in
der familiären Sozialisation der Fall, in
der Vermittlung von qualitativen Lernpro-
zessen, schlechthin in der alltäglichen Re-
produktion. Die Internalisierungsleistung,
die den einzelnen Subjekten aufgezwun-
gen werden, können von diesen — so
KNÖDLER-BUNTES Annahme — nicht
ohne jeden Rest hingenommen werden.
Zu dieser zentralen These führt er aus, daß
die Verhaltenszumutungen abstrakter Ar-
beit in den Menschen und ihrer Lebens-
verhältnisse auf eine kulturelle Produk-
tionsweise treffen, deren Logik quersteht
zur Tauschwertproduktion. Die Produk-
tion von Phantasie, von libidinöser Beset-
zung, von produktiver Regression, von
Objektivierungsbedürfnissen und projek-
tiver antizipierender Aneignung folgt,
wobei auf Arbeiten von NEGT/KLUGE
und KROVOZA zurückgegriffen werden
kann, einer eigenen trieb- und erfahrungs:
gebundenen Logik.
Wie sieht diese Logik aber aus? Dazu
heißt es, daß sie sich im Gegensatz zu
einer eher einheitlich strukturell gerichte-
ten Logik der Durchkapitalisierung der
Produktion als Abfolge von Brüchen,
Überlagerungen, Antizipationen und Ver-
drängungen darstellt. Wir können dies
durchaus als eine Logik des Ausweichens,
des Abwehrens und des Widerstandes der
lebendigen Arbeitskraft gegen ihre Sub-
sumption unter das Kapital verstehen.
Denn nur aus der Sicht des Siegers
schreibt sich die Geschichte der kulturel-
len Produktion als die Geschichte einer
gradlinigen Ansammlung kultureller Er-
rungenschaften der Fortschritte. Diese
Geschichte „gegen den Strich zu bürsten”
hatte schon Walter Benjamin gefordert.
Das heißt, nicht in ihr das Kontinuum
rekonstruieren, sondern durch Rekon-
struktion der Brüche und Widerstände
eben dieses behauptete Kontinuum zu
sprengen.
Wollten wir nun dazu übergehen, in
diesem Sinn unsere eigenen gegenwärti-
gen Formen der kulturellen Produktion
verstehen zu lernen, selbst also den Wider
stand, den unverwerteten Rest in uns zu
bearbeiten, dann stellt sich auch für den
Kunsthistoriker die Darstellung geschicht-
licher kultureller Produktionsweisen als
ein Versuch dar, die verschütteten Brüche
die Antizipationen und Verdränungen an
die Oberfläche zu befördern. Es bedarf
des Materials, um die Geschichte der kul-
turellen Produktion zu beschreiben, um
so die eigene, gegenwärtige in ihrer Funk:
tion besser zu begreifen. Hier nun schlägt
folgendes deutlich zugunsten des Erkennt
niswertes bürgerlicher Kunst zu Buche:
Daß wir nämlich den Werken der Kunst,
die ihre ästhetische Autonomie geschicht-
lich erworben haben, zutrauen, in beson-
derer Weise geeignet zu sein (und es gewe
sen zu sein), die kulturelle Vergesellschaf:
tung der Menschen in ihrem subjektiven
Brechungen und Gebrochenheiten sicht-
bar zu machen. Dabei würde ich zunächst
die Überzeugung von KNÖDLER-BUNTE
teilen, daß die Kunst innerhalb der bürger
lichen Gesellschaft ein im Grunde genom-
men instabiles, gleichwohl aber auf un-
abweisbare Interessen fundiertes Institu-
tionssystem darstellt, innerhalb dessen
sich die im Produktionsprozeß nicht auf
gehbaren Bedürfnisse und Erfahrungen
sinnlich anschaulich objektivieren und
wie virtuell auch immer erleben lassen.
Die Kunst unterscheidet sich von anderen
Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft
dadurch, daß sie, etwa im Vergleich zur
Institution politischer Gruppen, zu Insti-
tutionen des Rechts, der Schule oder der
Familie, relativ offen strukturiert ist; daß
in ihr weitaus geringer die Ordnungssche-
mata der Disziplinierungsriten der bürger-
lichen Gesellschaft greifen als es in eben
jenen anderen genannten Institutionen der
Fall ist. Diese mangelnde Durchinstitutio-
nalisierung der Kunst macht diese nicht
von vornherein zu einem subversiven Po-
tential, daß ihr — und KNÖDLER-BUNTE
macht darauf ausdrücklich aufmerksam —
die „‚Freiheits- und Spielraumtheoretiker”
der Kunst seit SCHILLER so gerne zuge-
schrieben haben. Wohl aber ist die relativ
offene, informelle Organisationsform
der Kunst Voraussetzung und Resultat
dafür aewesen daß in der Kunst ahwei-
1