Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1979, Jg. 11, H. 43-47, [48])

Einheit von Mensch und Natur und seine 
Versöhnung mit ihr zum Zwecke der Aus- 
bildung des Menschen zum ganzen Men- 
schen zu befördern — erwächst schließlich 
die Fähigkeit der Kunst, daß allein noch 
sie die Humanität, das wichtigste Gut 
der Menschheit überhaupt, befördern 
könne. Denn: Die Einheit der Sinne und 
die des Geistes ist bereits dahin in einer 
auf Ausdifferenzierung (sprich Arbeits- 
teilung) ausgerichteten Gesellschaft, in 
der der Mensch nicht mehr durch Arbeit 
— wie es die Aufklärung noch vorsah — 
sich vervollkommnet und in seinen Fähig- 
keiten ausbildet und verwirklicht. In die- 
sem Sinn verstehe ich SCHILLERS Klage, 
wenn es bei ihm heißt: „Wir sehen nicht 
bloß einzelne Subjekte, sondern ganze 
Klassen von Menschen nur einen Teil ihrer 
Anlagen entfalten, während das die übri- 
gen wie bei verkrüppelten Gewächsen 
kaum mit matter Spur angedeutet sind. 
Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruch- 
stück des Ganzen gefesselt, bildet sich der 
Mensch nur als Bruchstück aus, ewig nur 
das eintönige Geräusch des Rades, das er 
umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die 
Harmonie seines Wesens. Und anstatt die 
Menschheit in der Natur auszuprägen, 
wird er bloß zu einem Abdruck seines Ge- 
schäfts und seiner Wissenschaft. 
Das Göttliche All, von dem HEGEL we- 
nig später spricht, ist bereits in die tote 
mechanische Natur verwandelt worden. 
Das Schöne in und an ihr ist zum Ding er- 
niedrigt, wie der Tempel nur noch als 
Klotz und Stein dem Menschen in der 
Wahrnehmung erscheint. Doch mit der Ver- 
dinglichung der Welt bildet sich analog die 
Subjektivität heraus, die — so Hegel — in 
Gefühlen und Gesinnungen die Schönheit 
und Wahrheit aufzubewahren weiß, wel- 
che der Verstand in seiner wissenschaftli- 
chen Erfahrung von Natur preisgibt. Und 
so wird es zur Aufgabe der Kunst, die zer 
rissene Totalität wieder herzustellen, die 
Partikularität der menschlichen Fähigkei- 
ten zusammenzufügen. Und Kunst hat 
nicht zuletzt diese hohe gesellschaftliche 
Funktion erreichen können, weil sie kraft 
ihrer behaupteten Autonomie aus den le- 
benspraktischen Bezügen, die ja nun der 
Verdinglichung anheim gegeben sind, 
herausgehalten werden kann. 
Daraus die Versöhnungsfunktion von 
Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft ab- 
zuleiten, die die Avantgarde gerade mittels 
der Zertrümmerung der Autonomie der 
Kunst als ideologischen Schein und Stabi- 
lisierung von Herrschaft glaubte bloßlegen 
zu müssen, liegt nahe. Die Avantgarde hat 
dabei den Funktionszusammenhang der 
Kunst zerstört, also die Institution der 
Autonomie, kraft derer bürgerliche Kunst 
ihre Wirkung hatte; die aber auch der bür- 
gerlichen Kunst die Wirkung langfristig ver- 
sagen würde, weil im „geschlossenen Kunst 
werk” die Totalität der gesellschaftlichen 
Wirklichkeit in der fortgeschrittenen bür- 
gerlichen Gesellschaft nicht mehr wieder 
gegeben werden kann. Der Vorwurf, der 
der Avantgarde jedoch gemacht werden 
muß, ist der: Daß sie im Grunde genom- 
men dem schon brüchigen Totalitätsan- 
spruch der autonomen Kunst in der bürger- 
lichen Gesellschaft gefolgt ist, indem sie 
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mit eben dem gleichen Totalitätsanspruch 
nunmehr die Aufhebung der autonomen 
Kunst in die Gesellschaft, in die lebens- 
praktischen gesellschaftlichen Zusammen- 
hänge versuchte durchzusetzen. Es ist die 
Totalität, mit der Kunst in der bürgerli- 
chen Gesellschaft für all das stehen sollte, 
was sich den Menschen in der Wirklichkeit 
versagte. Diese Totalität wird im Grunde 
beibehalten in den Programmen der Avant- 
garde, die jetzt von seiten der Kunst all 
das, was in ihr aufgehoben war, in die Le- 
benspraxis überführt werden sollte. Es 
fällt nicht schwer; sich vorzustellen, daß 
bei einem solchen Programm die Kunst 
und das, was sich in der Kunst hatte halten 
können, leicht auf der Strecke blieben, 
wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse 
nicht derart beschaffen sind, daß es zu 
einer entsprechenden Aufhebung auch kom 
men kann. Aber ungeachtet dessen bleibt 
überhaupt zu fragen, ob es ein kulturpoli- 
tisch strategischer Gesichtspunkt sein kann 
die Antizipationen, wie sie in den bürgerli- 
chen Kunstwerken enthalten sein können, 
ad acta zu legen. Um diese gewiß kompli- 
zierte Frage ein wenig in den Griff zu be- 
kommen, scheint es mir sinnvoll, auf einen 
Aufsatz einzugehen, in dem unlängst Eber- 
hard KNÖDLER-BUNTE versucht hat, der 
bürgerlichen Kunst kritische Erkenntnis- 
werte beizumessen. 
KNÖDLER-BUNTE hat in diesem Aufsatz 
zum Verhältnis von Sozialgeschichte und 
Kunstwissenschaft so etwas wie die Logik 
kultureller Produktion zu entwickeln ver- 
sucht, wobei er diese im Sinne einer alter 
nativen Produktion von Kultur versteht. 
Aus der schon von Karl MARX beobach- 
teten Universalisierungstendenz des Kapi- 
tals leitet KNÖDLER-BUNTE ab, daß das 
Kapital immer dort an Grenzen der ver- 
wertungsbestimmten Integration stößt, 
wo sich die Herstellung der lebendigen Ar- 
beitskraft nicht oder nur um den Preis 
schwerwiegender dysfunktionaler, oder 
besser, uneffizienter Folgen verwertungs- 
bestimmt organisieren läßt. Das wäre in 
der familiären Sozialisation der Fall, in 
der Vermittlung von qualitativen Lernpro- 
zessen, schlechthin in der alltäglichen Re- 
produktion. Die Internalisierungsleistung, 
die den einzelnen Subjekten aufgezwun- 
gen werden, können von diesen — so 
KNÖDLER-BUNTES Annahme — nicht 
ohne jeden Rest hingenommen werden. 
Zu dieser zentralen These führt er aus, daß 
die Verhaltenszumutungen abstrakter Ar- 
beit in den Menschen und ihrer Lebens- 
verhältnisse auf eine kulturelle Produk- 
tionsweise treffen, deren Logik quersteht 
zur Tauschwertproduktion. Die Produk- 
tion von Phantasie, von libidinöser Beset- 
zung, von produktiver Regression, von 
Objektivierungsbedürfnissen und projek- 
tiver antizipierender Aneignung folgt, 
wobei auf Arbeiten von NEGT/KLUGE 
und KROVOZA zurückgegriffen werden 
kann, einer eigenen trieb- und erfahrungs: 
gebundenen Logik. 
Wie sieht diese Logik aber aus? Dazu 
heißt es, daß sie sich im Gegensatz zu 
einer eher einheitlich strukturell gerichte- 
ten Logik der Durchkapitalisierung der 
Produktion als Abfolge von Brüchen, 
Überlagerungen, Antizipationen und Ver- 
drängungen darstellt. Wir können dies 
durchaus als eine Logik des Ausweichens, 
des Abwehrens und des Widerstandes der 
lebendigen Arbeitskraft gegen ihre Sub- 
sumption unter das Kapital verstehen. 
Denn nur aus der Sicht des Siegers 
schreibt sich die Geschichte der kulturel- 
len Produktion als die Geschichte einer 
gradlinigen Ansammlung kultureller Er- 
rungenschaften der Fortschritte. Diese 
Geschichte „gegen den Strich zu bürsten” 
hatte schon Walter Benjamin gefordert. 
Das heißt, nicht in ihr das Kontinuum 
rekonstruieren, sondern durch Rekon- 
struktion der Brüche und Widerstände 
eben dieses behauptete Kontinuum zu 
sprengen. 
Wollten wir nun dazu übergehen, in 
diesem Sinn unsere eigenen gegenwärti- 
gen Formen der kulturellen Produktion 
verstehen zu lernen, selbst also den Wider 
stand, den unverwerteten Rest in uns zu 
bearbeiten, dann stellt sich auch für den 
Kunsthistoriker die Darstellung geschicht- 
licher kultureller Produktionsweisen als 
ein Versuch dar, die verschütteten Brüche 
die Antizipationen und Verdränungen an 
die Oberfläche zu befördern. Es bedarf 
des Materials, um die Geschichte der kul- 
turellen Produktion zu beschreiben, um 
so die eigene, gegenwärtige in ihrer Funk: 
tion besser zu begreifen. Hier nun schlägt 
folgendes deutlich zugunsten des Erkennt 
niswertes bürgerlicher Kunst zu Buche: 
Daß wir nämlich den Werken der Kunst, 
die ihre ästhetische Autonomie geschicht- 
lich erworben haben, zutrauen, in beson- 
derer Weise geeignet zu sein (und es gewe 
sen zu sein), die kulturelle Vergesellschaf: 
tung der Menschen in ihrem subjektiven 
Brechungen und Gebrochenheiten sicht- 
bar zu machen. Dabei würde ich zunächst 
die Überzeugung von KNÖDLER-BUNTE 
teilen, daß die Kunst innerhalb der bürger 
lichen Gesellschaft ein im Grunde genom- 
men instabiles, gleichwohl aber auf un- 
abweisbare Interessen fundiertes Institu- 
tionssystem darstellt, innerhalb dessen 
sich die im Produktionsprozeß nicht auf 
gehbaren Bedürfnisse und Erfahrungen 
sinnlich anschaulich objektivieren und 
wie virtuell auch immer erleben lassen. 
Die Kunst unterscheidet sich von anderen 
Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft 
dadurch, daß sie, etwa im Vergleich zur 
Institution politischer Gruppen, zu Insti- 
tutionen des Rechts, der Schule oder der 
Familie, relativ offen strukturiert ist; daß 
in ihr weitaus geringer die Ordnungssche- 
mata der Disziplinierungsriten der bürger- 
lichen Gesellschaft greifen als es in eben 
jenen anderen genannten Institutionen der 
Fall ist. Diese mangelnde Durchinstitutio- 
nalisierung der Kunst macht diese nicht 
von vornherein zu einem subversiven Po- 
tential, daß ihr — und KNÖDLER-BUNTE 
macht darauf ausdrücklich aufmerksam — 
die „‚Freiheits- und Spielraumtheoretiker” 
der Kunst seit SCHILLER so gerne zuge- 
schrieben haben. Wohl aber ist die relativ 
offene, informelle Organisationsform 
der Kunst Voraussetzung und Resultat 
dafür aewesen daß in der Kunst ahwei- 
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