chende Realitätsinterpretationen, libidi-
nöse Ansprüche und gesellschaftlich abge:
drängte Befriedigungsformen artikuliert
werden konnten. Es ist wohl so, daß ge-
rade weil sich die bürgerliche Kunst im
Zwischenbereich einer kulturellen Öffent-
lichkeit und einer auf Gesellschaft bezo-
gener Privatheit institutionalisiert hat
(sie also nicht eindeutig Privatheit oder
kulturelle Öffentlichkeit bevorzugt), daß
sie dadurch relativ offen ist für die weni-
gen in die kulturelle Produktion einge-
bundenen Erfahrungen und Bedürfnisse,
welche in den sich durchsetzenden kapi-
talistischen Produktionsprozeß nicht
ohne Rest aufgehen. D/e Kunst ist der
Ort, an dem sich noch am ehesten die ge-
sellschaftlich unterdrückten Triebansprü-
che, Phantasien, Lebensperspektiven Ööf-
fentlich artikulieren konnten, und an dem
diese selber zum Gegenstand menschlicher
Erkenntnis und auch eines genußvollen
und primär vorbegrifflichen Nachvollzu-
ges werden.
VI
Wir wären damit an dem Punkt angelangt,
WO wir mit Blick auf die Fragen und un-
gelösten Probleme, wie sie von der Avant-
garde seinerzeit aufgeworfen worden wa-
ren, uns abschließend dem Fragenkom-
plex eines zu erörternden alternativen Kul-
tur- und Kunstbegriffs zuwenden müßten.
Dabei wäre zu klären, inwieweit künstleri-
sche Produktion in dem zuvor entwickel-
ten Sinn als Teil der kulturellen in ihren
geschichtlichen Objektivationen nicht
schon selbst alternative Erfahrungsfor-
men ermöglicht und auch verarbeitet hat.
Wenn wir also für eine kritisch verfahren-
de Kunstwissenschaft nach den ihr adä-
quaten praktischen alternativen Formen
einer kulturellen Öffentlichkeit und Kul-
turarbeit fragen, dann hätten wir gewis-
sermaßen die Besonderheit gerade der
künstlerischen Produktion immer schon
mit zu reflektieren, kulturellen Alterna-
tiven Ausdruck zu verleihen oder sie gar
zu organisieren. Das hieße, daß wir kultu-
relle Produktionen begreifen lernen als
einen Ort, an dem Bedürfnisse, Hoffnun-
gen, Enttäuschungen und Deformationen
zur Anschauung gebracht werden, die
sich als Rest den durch das Kapital gesetz-
ten Internalisierungsleistungen (Normen
abstrakter Arbeit, Vereinzelung der Wahr-
nehmung, reglementiertes Zeitbewußt-
sein) widersetzen und somit partiell der
Verwertung entziehen. Doch wäre aller-
dings immer erst noch in jedem einzelnen
Fall zu klären, inwieweit wir dies tatsäch-
lich geltend machen können und wo wir
entscheidende Unterschiede zu machen
hätten. (Trifft diese Qualität kultureller Pro
duktion z.B. auch für faschistische Kunst-
produktion zu? )
Von daher stellt sich das Problem auch
und gerade für die kunstwissenschaftliche
und pädagogische Diskussion: Wie wir näm-
lich am bürgerlich autonomen Kunstwerk
Erkenntnisgehalte freisetzen, die uns etwas
erzählen von diesen gesellschaftlich unter-
drückten Sinnbedürfnissen, von den Hoff-
Nungen und Antizipationen. Dabei müßte
Freisetzen auch bedeuten diese Erkennt-
nis in den eigenen Erfahrungszusammen-
hang zu integrieren, ihn also nicht als blo-
ßes Wissen nebenherlaufen zu lassen.
Methodisch entscheidend ist dabei,
sich erst einmal zu vergewissern, unter
welchen äußeren Rahmenbedingungen
bzw. Handlungsbedingungen sich diese
meist in ihrem Ausdruck verstellten Er-
kenntnisgehalte zu einer wie auch immer
gearteten Alternative zu jeweils herrschen-
den Lebensformen vergegenständlichen
konnten. Wie sind bzw. waren die Berei-
che von Öffentlichkeit und Privatheit be-
schaffen, damit in der kulturellen Produk-
tion am ehesten das Spannungsverhältnis
der gesellschaftlichen Zwänge und der in-
dividuellen Ansprüche zum Ausdruck ge-
bracht werden konnten? Hier müßten wir
die Fragen verfolgen, inwieweit das Kunst
werk sinnliche Erfahrung ermöglicht, die
in anderen Kulturräumen nicht mehr ein-
geholt werden können, weil man sie darin
eliminiert hat. Dabei müßte weiter geklärt
werden, welche Bedeutung die historische
Aufarbeitung der künstlerischen Produktion
und Rezeption für die Einschätzung gegen-
wärtiger alternativer Kulturarbeit hätte.
Dies ist ein ganz wichtiger Gesichtspunkt,
weil darin die Bedeutung von gekannter,
erarbeiteter Geschichte entschieden wird.
Eine weitere Frage ist die nach den in-
stitutionellen Bedingungen, unter denen
die Gehalte künstlerischer Produktion über-
haupt zugänglich werden. Ob es sich dabei
um Bedingungen handelt, die es ermögli-
chen oder aber verhindern, daß diese Ge-
halte in die Lebenswirklichkeit der Men-
schen eingehen und praktisch werden — das
heißt: sie verändern.
Also: Wo wird kulturelle Produktion über-
haupt gegenständlich? Unter welchen Be-
dingungen der Wahrnehmung und der in-
haltlichen Auseinandersetzung können die
von Kunst behaupteten Wahrheitsgehalte A rn N DKHE
in einen gegenwärtigen Handlungs- und utanomie der Kunst. Zur Genese und Kriti
Errahrungszuemmenhang übergeleitet wer- BREDEKAMP TI NZ US Fear
als z .a.). Frankfurt/M.
den, so daß daraus qualitativ neue gesell- 19742
schaftliche Fähigkeiten hervorgehen? BENJAMIN, Walter: Illuminationen, Frankfurt/
Damit zeichnet sich ab, daß wir in der BEN TMANN einher /MÜLLER AICISSL.
Analyse der autonomen Kunst und ihrer Die Villa als Herrschaftsarchitektur. N Versuch
Aussagen an einen Punkt geraten werden, einer kunst- und sozialgeschichtlichen Analyse
an dem wir feststellen, daß deren Gehalte (Frankfurt/M. 1970, 19712); erscheint im
aufgrund bestimmter Blockierungen in der REKEN FSHC HIT Auflage im
Vermittlung (so z.B. im Museum, dem BÜRGER, Peter: Theorie der Avantgarde,
Kunstunterricht) nicht kritisch weiterver- Frankfurt/M. 1974
arbeitet und in Handlung weitergetragen HADJINICOLAOU, Nicos: Histoire de !l’art et
werden. KNÖDLERBUNTE N Sue ard Zum Verhältni
Hier nun setzt die Überlegung nach von Sozialgeschichte Vin de
den alternativen Formen kultureller Öffent- Anmerkung zur Logik kultureller Produktion
lichkeit und Arbeit ein. Es muß deutlich N NEE A Es für Kultur
werden, daß das alles nicht bloß ein me- ung Aısthet! e) Berlin, En
thodologisches Problem ist, etwa in dem SEEN E und Soztalisa-
Sinne, daß es sich entscheidend um ein LOOS, Adolf: Sämtliche Schriften 1. Hrsg. v.
positivistisches, ein ideologiekritisches _F. Glück. Wien/München 1962
oder marxistisches Interpretationsverfah- Me MICH : ae WIN ss „schlech-
ren handelt, Ohne dessen Bedeutung ir- rd avantgardlstischer ERST der Ar
gendwie schmälern zu wollen, muß die chitektur, in: „Links hatte noch alles sich
Frage doch weiter gefaßt werden, wenn zu enträtseln ...‘’” Walter BENJAMIN im
wir danach suchen, unter welchen organi- a DR Da LINDNER. Frankfurt/
satorisch-lebenspraktischen Bedingungen \EGT, Oskar/KLUGE, Alexander: Öffentlich-
ein Anbinden der gemeinhin blockierten keit und Erfahrung. Zur Organisationsanaly
Inhalte gelingen könnte. Weshalb gelingt se von bürgerlicher und proletarischer Öf-
das nicht in den etablierten Bereichen kul- ‚„__ fentlichkeit. Frankfurt/M. 1972
tureller Öffentlichkeit? Theorie der Avantgarde‘. Antworten auf Peter
nr x f BÜRGERs Bestimmung von Kunst und
Wie also könnten wir dazu kommen, bürgerlicher Gesellschaft. Hrsg. v. W.M.
a) das Alternativpotential der bürgerlich- LÜDKE. Frankfurt/M. 1976
autonomen Kunst in einer Weise zu verar-
beiten, daß uns eben wieder Erfahrung
damit verbindet, um b) darüber selbst
neue Formen der Kulturarbeit zu finden,
in denen die im bürgerlichen Kunstwerk
verdichtete Trennung von Kunst und Le-
ben aufgehoben wäre?
Wie lassen sich die in der künstleri-
schen Produktion aufbewahrten Ansprüche
auf kommunikative Erfahrungen nach einer
glück vollen Identität oder nach einem mi-
metischen Umgang mit der Natur — um
nur zwei wesengleiche Momente zu nen-
nen — in einer alternativen Kulturarbeit
einlösen?
Diese aus der Geschichte der künstle-
rischen Produktion zwingend sich herlei-
tenden Fragestellungen lassen sich konse-
quent nur vor dem Hintergrund einer zur
Einsicht gewordenen alternativen Form
kultureller Öffentlichkeit erörtern, Zumal
sie, die künstlerische Produktion — und
damit wären wir wieder bei unserem Aus-
gangspunkt angelangt —, in der Geschichte
bereits an einen Punkt gestoßen war, an
dem sich die Frage nach der alternativen
kulturellen Praxis und einer darin aufge-
hobenen künstlerischen gestellt hat: in der
Avantgardebewegung der ersten drei Jahr-
zehnte unseres Jahrhunderts. Damit wäre
auch ein Hinweis gegeben, daß wir wohl
den Bildersturm nicht mehr brauchen;
daß es aber nicht ausreicht, die Bilder
bloß zu interpretieren.
fi
AN