Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1979, Jg. 11, H. 43-47, [48])

chende Realitätsinterpretationen, libidi- 
nöse Ansprüche und gesellschaftlich abge: 
drängte Befriedigungsformen artikuliert 
werden konnten. Es ist wohl so, daß ge- 
rade weil sich die bürgerliche Kunst im 
Zwischenbereich einer kulturellen Öffent- 
lichkeit und einer auf Gesellschaft bezo- 
gener Privatheit institutionalisiert hat 
(sie also nicht eindeutig Privatheit oder 
kulturelle Öffentlichkeit bevorzugt), daß 
sie dadurch relativ offen ist für die weni- 
gen in die kulturelle Produktion einge- 
bundenen Erfahrungen und Bedürfnisse, 
welche in den sich durchsetzenden kapi- 
talistischen Produktionsprozeß nicht 
ohne Rest aufgehen. D/e Kunst ist der 
Ort, an dem sich noch am ehesten die ge- 
sellschaftlich unterdrückten Triebansprü- 
che, Phantasien, Lebensperspektiven Ööf- 
fentlich artikulieren konnten, und an dem 
diese selber zum Gegenstand menschlicher 
Erkenntnis und auch eines genußvollen 
und primär vorbegrifflichen Nachvollzu- 
ges werden. 
VI 
Wir wären damit an dem Punkt angelangt, 
WO wir mit Blick auf die Fragen und un- 
gelösten Probleme, wie sie von der Avant- 
garde seinerzeit aufgeworfen worden wa- 
ren, uns abschließend dem Fragenkom- 
plex eines zu erörternden alternativen Kul- 
tur- und Kunstbegriffs zuwenden müßten. 
Dabei wäre zu klären, inwieweit künstleri- 
sche Produktion in dem zuvor entwickel- 
ten Sinn als Teil der kulturellen in ihren 
geschichtlichen Objektivationen nicht 
schon selbst alternative Erfahrungsfor- 
men ermöglicht und auch verarbeitet hat. 
Wenn wir also für eine kritisch verfahren- 
de Kunstwissenschaft nach den ihr adä- 
quaten praktischen alternativen Formen 
einer kulturellen Öffentlichkeit und Kul- 
turarbeit fragen, dann hätten wir gewis- 
sermaßen die Besonderheit gerade der 
künstlerischen Produktion immer schon 
mit zu reflektieren, kulturellen Alterna- 
tiven Ausdruck zu verleihen oder sie gar 
zu organisieren. Das hieße, daß wir kultu- 
relle Produktionen begreifen lernen als 
einen Ort, an dem Bedürfnisse, Hoffnun- 
gen, Enttäuschungen und Deformationen 
zur Anschauung gebracht werden, die 
sich als Rest den durch das Kapital gesetz- 
ten Internalisierungsleistungen (Normen 
abstrakter Arbeit, Vereinzelung der Wahr- 
nehmung, reglementiertes Zeitbewußt- 
sein) widersetzen und somit partiell der 
Verwertung entziehen. Doch wäre aller- 
dings immer erst noch in jedem einzelnen 
Fall zu klären, inwieweit wir dies tatsäch- 
lich geltend machen können und wo wir 
entscheidende Unterschiede zu machen 
hätten. (Trifft diese Qualität kultureller Pro 
duktion z.B. auch für faschistische Kunst- 
produktion zu? ) 
Von daher stellt sich das Problem auch 
und gerade für die kunstwissenschaftliche 
und pädagogische Diskussion: Wie wir näm- 
lich am bürgerlich autonomen Kunstwerk 
Erkenntnisgehalte freisetzen, die uns etwas 
erzählen von diesen gesellschaftlich unter- 
drückten Sinnbedürfnissen, von den Hoff- 
Nungen und Antizipationen. Dabei müßte 
Freisetzen auch bedeuten diese Erkennt- 
nis in den eigenen Erfahrungszusammen- 
hang zu integrieren, ihn also nicht als blo- 
ßes Wissen nebenherlaufen zu lassen. 
Methodisch entscheidend ist dabei, 
sich erst einmal zu vergewissern, unter 
welchen äußeren Rahmenbedingungen 
bzw. Handlungsbedingungen sich diese 
meist in ihrem Ausdruck verstellten Er- 
kenntnisgehalte zu einer wie auch immer 
gearteten Alternative zu jeweils herrschen- 
den Lebensformen vergegenständlichen 
konnten. Wie sind bzw. waren die Berei- 
che von Öffentlichkeit und Privatheit be- 
schaffen, damit in der kulturellen Produk- 
tion am ehesten das Spannungsverhältnis 
der gesellschaftlichen Zwänge und der in- 
dividuellen Ansprüche zum Ausdruck ge- 
bracht werden konnten? Hier müßten wir 
die Fragen verfolgen, inwieweit das Kunst 
werk sinnliche Erfahrung ermöglicht, die 
in anderen Kulturräumen nicht mehr ein- 
geholt werden können, weil man sie darin 
eliminiert hat. Dabei müßte weiter geklärt 
werden, welche Bedeutung die historische 
Aufarbeitung der künstlerischen Produktion 
und Rezeption für die Einschätzung gegen- 
wärtiger alternativer Kulturarbeit hätte. 
Dies ist ein ganz wichtiger Gesichtspunkt, 
weil darin die Bedeutung von gekannter, 
erarbeiteter Geschichte entschieden wird. 
Eine weitere Frage ist die nach den in- 
stitutionellen Bedingungen, unter denen 
die Gehalte künstlerischer Produktion über- 
haupt zugänglich werden. Ob es sich dabei 
um Bedingungen handelt, die es ermögli- 
chen oder aber verhindern, daß diese Ge- 
halte in die Lebenswirklichkeit der Men- 
schen eingehen und praktisch werden — das 
heißt: sie verändern. 
Also: Wo wird kulturelle Produktion über- 
haupt gegenständlich? Unter welchen Be- 
dingungen der Wahrnehmung und der in- 
haltlichen Auseinandersetzung können die 
von Kunst behaupteten Wahrheitsgehalte A rn N DKHE 
in einen gegenwärtigen Handlungs- und utanomie der Kunst. Zur Genese und Kriti 
 Errahrungszuemmenhang übergeleitet wer- BREDEKAMP TI NZ US Fear 
als z .a.). Frankfurt/M. 
den, so daß daraus qualitativ neue gesell- 19742 
schaftliche Fähigkeiten hervorgehen? BENJAMIN, Walter: Illuminationen, Frankfurt/ 
Damit zeichnet sich ab, daß wir in der BEN TMANN einher /MÜLLER AICISSL. 
Analyse der autonomen Kunst und ihrer Die Villa als Herrschaftsarchitektur. N Versuch 
Aussagen an einen Punkt geraten werden, einer kunst- und sozialgeschichtlichen Analyse 
an dem wir feststellen, daß deren Gehalte (Frankfurt/M. 1970, 19712); erscheint im 
aufgrund bestimmter Blockierungen in der REKEN FSHC HIT Auflage im 
Vermittlung (so z.B. im Museum, dem BÜRGER, Peter: Theorie der Avantgarde, 
Kunstunterricht) nicht kritisch weiterver- Frankfurt/M. 1974 
arbeitet und in Handlung weitergetragen HADJINICOLAOU, Nicos: Histoire de !l’art et 
werden. KNÖDLERBUNTE N Sue ard Zum Verhältni 
Hier nun setzt die Überlegung nach von Sozialgeschichte Vin de 
den alternativen Formen kultureller Öffent- Anmerkung zur Logik kultureller Produktion 
lichkeit und Arbeit ein. Es muß deutlich N NEE A Es für Kultur 
werden, daß das alles nicht bloß ein me- ung Aısthet! e) Berlin, En 
thodologisches Problem ist, etwa in dem SEEN E und Soztalisa- 
Sinne, daß es sich entscheidend um ein LOOS, Adolf: Sämtliche Schriften 1. Hrsg. v. 
positivistisches, ein ideologiekritisches _F. Glück. Wien/München 1962 
oder marxistisches Interpretationsverfah- Me MICH : ae WIN ss „schlech- 
ren handelt, Ohne dessen Bedeutung ir- rd avantgardlstischer ERST der Ar 
gendwie schmälern zu wollen, muß die chitektur, in: „Links hatte noch alles sich 
Frage doch weiter gefaßt werden, wenn zu enträtseln ...‘’” Walter BENJAMIN im 
wir danach suchen, unter welchen organi- a DR Da LINDNER. Frankfurt/ 
satorisch-lebenspraktischen Bedingungen \EGT, Oskar/KLUGE, Alexander: Öffentlich- 
ein Anbinden der gemeinhin blockierten keit und Erfahrung. Zur Organisationsanaly 
Inhalte gelingen könnte. Weshalb gelingt se von bürgerlicher und proletarischer Öf- 
das nicht in den etablierten Bereichen kul- ‚„__ fentlichkeit. Frankfurt/M. 1972 
tureller Öffentlichkeit? Theorie der Avantgarde‘. Antworten auf Peter 
nr x f BÜRGERs Bestimmung von Kunst und 
Wie also könnten wir dazu kommen, bürgerlicher Gesellschaft. Hrsg. v. W.M. 
a) das Alternativpotential der bürgerlich- LÜDKE. Frankfurt/M. 1976 
autonomen Kunst in einer Weise zu verar- 
beiten, daß uns eben wieder Erfahrung 
damit verbindet, um b) darüber selbst 
neue Formen der Kulturarbeit zu finden, 
in denen die im bürgerlichen Kunstwerk 
verdichtete Trennung von Kunst und Le- 
ben aufgehoben wäre? 
Wie lassen sich die in der künstleri- 
schen Produktion aufbewahrten Ansprüche 
auf kommunikative Erfahrungen nach einer 
glück vollen Identität oder nach einem mi- 
metischen Umgang mit der Natur — um 
nur zwei wesengleiche Momente zu nen- 
nen — in einer alternativen Kulturarbeit 
einlösen? 
Diese aus der Geschichte der künstle- 
rischen Produktion zwingend sich herlei- 
tenden Fragestellungen lassen sich konse- 
quent nur vor dem Hintergrund einer zur 
Einsicht gewordenen alternativen Form 
kultureller Öffentlichkeit erörtern, Zumal 
sie, die künstlerische Produktion — und 
damit wären wir wieder bei unserem Aus- 
gangspunkt angelangt —, in der Geschichte 
bereits an einen Punkt gestoßen war, an 
dem sich die Frage nach der alternativen 
kulturellen Praxis und einer darin aufge- 
hobenen künstlerischen gestellt hat: in der 
Avantgardebewegung der ersten drei Jahr- 
zehnte unseres Jahrhunderts. Damit wäre 
auch ein Hinweis gegeben, daß wir wohl 
den Bildersturm nicht mehr brauchen; 
daß es aber nicht ausreicht, die Bilder 
bloß zu interpretieren. 
fi 
AN
	        

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