Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1979, Jg. 11, H. 43-47, [48])

Zur aktuellen Diskussion um Stadtentwicklung 
= = 8 = = 3 
Suburbanisierung für alle? Drei Kritiken ... 
... Zu Häußermann/Siebel: „Krise der Stadt - Krise der Stadt?“ (Leviathan 4/78) bzw. „Die Stadt im traditionellen 
Sinne hat aufgehört zu existieren“ (Frankfurter Rundschau 15.11.78). 
Unter dem Titel „Die Stadt im traditionellen Sinn hat aufgehört zu existieren” erschien 
am 15.11.1978 ein Artikel in der Frankfurter Rundschau, in dem H. Häußermann und 
W. Siebel Thesen zur gegenwärtigen Stadtentwicklung und -politik zur Diskussion stell- 
ten. Wenig später wurde dieser Text in der sozialwissenschaftlichen Zeitschrift LE VIA- 
THAN als Editorial zu Heft 4/78 veröffentlicht, in dem nach einer Reihe von Diskussio- 
nen und Arbeitssitzungen einer Gruppe von Wissenschaftlern und Planern Forschungs- 
ergebnisse und -perspektiven zum Themenschwerpunkt ‚,Soziologie der Stadt” zusam- 
mengestellt wurden. Insbesondere das Editorial gab dabei Anlaß, die Diskussion fort- 
zusetzen und zu erweitern, um in einer ebenso deutlichen wie solidarischen Kritik die 
Versuche zur Einschätzung gegenwärtiger Entwicklungstendenzen und möglicher Alter- 
nativen zu konkretisieren. 
Eberhard v. Einem, Manfred Konukiewitz, Wulf Tessin 
Die Kernstadt - ein Randproblem? 
Im Rahmen der aktuellen ‘Stadtflucht’- gelegte Problemanalyse und die daraus ge- 
Diskussion haben H. Häußermann und zogenen strategischen Konsequenzen einer 
W. Siebel ein stadtentwicklungspolitisches Kritik zu unterziehen, die hier — zugege- 
Konzept vorgelegt, das den Anspruch einer benermaßen pointiert — auf einige zentra- 
sozial orientierten Alternative zur herr- le Punkte beschränkt bleiben muß. 
schenden Stadtentwicklungspraxis erhebt 1. Die Darstellung der gängigen Auffassun- 
und das im wesentlichen zwei Zielkompo- gen zu Ursachen, Folgen und Problem- 
nenten enthält: lösungsstrategien hinsichtlich der großstäd: 
® Die Suburbanisierungstendenzen und tischen Erosion ist u.E. weitgehend zutref- 
(vermeintlichen? ) Auflösungserschei- fend wiedergegeben. Allerdings wird aus 
nungen der Großstädte sollen nicht abge: den Ausführungen nicht immer deutlich, 
schwächt, sondern, wenn auch geplant, inwieweit die Autoren die referierte Pro- 
unterstützt werden. Auch denjenigen, belmsicht teilen, in welchen Punkten sie 
die sich bisher den Auszug aus der Kern- anderer Ansicht sind und wie /hre Ein- 
stadt nicht leisten konnten, soll die Ab- schätzung der Krisenhaftigkeit städtischer 
wanderung ermöglicht werden. Gefordert Entwicklungen ist. Anders ausgedrückt: 
wird deshalb nicht nur eine soziale, son- Handelt es sich bei der ‘Krise der Stadt’ 
dern auch räumliche Umverteilungspoli- wirklich nur um eine ‘ideologische Ver- 
tik. „Die Mittel, die gegenwärtig voraus- drehung‘ oder um eine real existierende 
sehbar nutzlos dafür verpulvert werden, Krise? 
expandierende Betriebe und einkommens- : Versucht man das Problemverständ- 
starke Haushalte ( in der Kernstadt, d. nis der Autoren zu rekonstruieren, so 
Verf.) zu halten, sollten dafür verwendet Scheint sich das Problem der Kernstädte 
werden, die Abwanderung auch der stag- bei ihnen vor allem auf die Vernichtung 
nierenden Betriebe und auch der ökono- relativ preisgünstiger Altbauwohnungen 
misch schwachen Bevölkerung zu för- durch Modernisierung im Rahmen der 
dern.” (S. 481) neueren Strategien zur Stadtfluchtbe- 
8 Die innerstädtischen Wohnquartiere kämpfung zu reduzieren. So ernst dieser 
mit großem Altbaubestand sollen für Aspekt zu nehmen ist, so übersieht ein 
die einkommensschwachen Bevölkerungs: solches Problemverständnis doch eine 
schichten „gesichert’” und auf ein „„ange- ganze Reihe anderer Krisensymptome 
messenes Ausstattungsniveau”” gehoben städtischen Alltags wie Mietquote im So 
werden, ohne daß die billigen Wohnungen Zialen Wohnungsbau, steigende Umwelt- 
durch Mieterhöhungen im Zuge z.T. öf- belastungen, Infrastrukturdefizite, ‘Un- 
fentlich geförderter Wohnungsmoderni- wirtlichkeit der Städte‘, ‘Verkehrsstress’ 
sierungen an einkommensstärkere Haushal- vor allem aber Slumbildungstendenzen 
te verloren gehen. (S. 481) und Marginalisierungsprozesse, die bei 
Angesichts der bisher üblichen etatisti-  Häußermann/Siebel z.T. zwar gestreift 
schen Definitionen des zur Debatte ste- werden, konzeptionell aber so gut wie 
henden Problems (infrastrukturell-fiskali- Ohne Folgen bleiben; der etatistisch ver- 
sche Auswirkungen der Stadtflucht als kürzten gängigen Problemsicht entspricht 
zentrale Nachteile für die Kernstadt) ist u.E. bei Häußermann/Siebel eine eben- 
es wichtig und zu begrüßen, daß Häußer- falls, wenn auch nun ‘sozial’ verkürzte 
mann/Siebel diesen eine soziale, verteilungs- Einschätzung der sog. ‘Krise der Stadt’ 
politisch sensible Perspektive gegenüber- 2. Zudem scheinen die Autoren anzu- 
stellen wollen. Gerade wegen der grund- nehmen, daß die aus der politischen 
sätzlichen Übereinstimmung mit diesem Diskussion referierten (und von ihnen 
Ansatz erscheint es uns wichtig, die vor- abgelehnten) Strategien zur Abschwä- 
chung der Abwanderung bereits über- 
wiegende oder sogar durchgängige Stadt- 
entwicklungspraxis sind. Unser Eindruck 
ist freilich vielmehr der, daß neben (eher 
schleppend anlaufenden) kernstadtbezo- 
genen Maßnahmen (Modernisierung, Wohn- 
umfeldverbesserung, Einfamilienhausför- 
derung in der Kernstadt) weiterhin solche 
Maßnahmen vorherrschen, die den Regio- 
nalisierungsprozeß der Stadt (eigentlich 
ganz im Sinne der Autoren) eher begün- 
stigen (Bausparförderung, &S 7b EStG, 
Straßenausbau, Fehlen einer effektiven 
Bauentwicklungskontrolle in den Umland- 
gemeinden). 
Die Kritik der Autoren an der heutigen 
Praxis der Stadtentwicklungspolitik greift 
also insofern zu kurz, als deren tatsächli- 
che Widersprüchlichkeit nicht wirklich 
perzipiert wird, ja, eine genauere Analyse 
könnte u.U. erbringen, daß die räumliche 
Dezentralisierung, um die es den Autoren 
geht, weitgehend herrschende Praxis ist 
und vor allem auch bleiben wird, auch 
wenn die Stadtplanungsdiskussion z.Zt. 
andere Akzente setzen sollte, hier muß 
man u.E. sehr deutlich trennen zwischen 
dem, was tatsächlich abläuft und der ‘ver- 
balen Verbrämung’ auf Tagungen und ge- 
duldigem Papier. Die Autoren geben also 
— wenn auch mit gewissen Einschränkun- 
gen — im Grunde dem, was wahrschein- 
lich ohnehin nicht aufzuhalten ist, nur die 
„sozialen Weihen”. 
3. Erstaunlich ist daher, wie leicht es den 
Autoren zu fallen scheint, bei einem 
dermaßen nebulös gelassenen gesellschaft- 
lichen Adressatenkreis (wer ist eigentlich 
angesprochen: die Arbeiterklasse, Unter- 
privilegierte, Randgruppen, Bewohner der 
‘depressed areas’? ) Redistributionseffekte 
einer real ablaufenden bzw. intendierten 
Politik festzustellen: Sanierung und Mo- 
dernisierung führen zwar in der Tat zu 
Mietsteigerungen und Verdrängungsprozes- 
sen, aber ist damit bereits das letzte ver- 
teilungspolitische Urteil gefällt? Unseres 
Erachtens kann z.B. von einer genere/len 
Verschlechterung der Lebenslage durch 
Umsetzung nicht gesprochen werden. Und 
die vermeintlichen Vorteile einer polyzen- 
trischen Struktur der Verdichtungsräume? 
Zumindestens doch ncht auszuschließende 
negative Effekte wie vermutlich ‘ausgedünn; 
te infrastrukturelle Versorgung‘, erhöhte 
Mobilitätskosten, ‘Privatisierung‘ des ge- 
sellschaftlichen Lebens usf. werden gar 
nicht erst thematisiert. Überhaupt scheint 
uns eine bestimmte räumliche Siedlungs- 
struktur (ob nun polyzentrisch oder nicht) 
für sich genommen von vergleichsweise ge- 
ringer bzw. sehr vermittelter redistributiver 
Bedeutung zu sein. Es ist also nicht recht 
einzusehen, warum die Autoren ‚ihre So- 
zialorientierte Alternative so ena mit einer 
AR
	        

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