Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1979, Jg. 11, H. 43-47, [48])

len Priorität äußert: Im Rahmen der 
Durchsetzung der von der PCI mitgetra- 
genen Austerity-Politik auch auf kommu- 
naler Ebene (Aufgabe der Politik des de- 
ficit spending) tritt die bisher dominieren- 
de „Politik des öffentlichen Konsums” 
(forcierter Ausbau von sozialen Dienst- 
leistungen) gegenüber der Politik der 
Wirtschaftsförderung im engeren Sinne 
in den Hintergrund. Rationalisierung 
der Dienstleistungen, Erhöhung der Ta- 
rife und Konzentration der Mittel auf 
„Investitionen zur Unterstützung der 
produktiven Sektoren” sind die Folge. 
Damit verändert sich auch die allgemei- 
ne Funktion der Organe der Quartiers- 
demokratie: „Bestand diese Funktion 
bisher in erster Linie in Planung, Verwal- 
tung und Ausbau der Dienstleistungsein- 
richtung, so wird den Quartiersinstitu- 
tionen jetzt von der Verwaltung die Auf- 
gabe der Durchsetzung der Sparmaßnah- 
men auf Quartiersebene zugewiesen.” 
In dieser Situation brechen auch in der 
Musterstadt italienischer Ruhe und Ord- 
nung neue Konfliktfronten auf. „Der 
"Dissens’ der marginalisierten Gruppen 
(insbesondere der Studenten) formiert 
sich als gesellschaftliche Bewegung‘ — 
eine Bewegung, die allgemeinpolitisch 
eine weitere, höchst ambivalente Pro- 
filierung der PCI als „„staatstragender” 
Partei zur Folge hat und die der Stadt- 
planung neue Aufgaben aufzwingt 
(Linderung der Wohnungsnot der Stu- 
denten). 
Damit ist schon ein dritter, wichti- 
ger Punkt angedeutet: die Einordnung 
der kommunalen Planungsdebatte in 
die nationale Reformkontroverse. So 
wird z.B. die kompromißhafte Anwen- 
dung der Enteignungsmöglichkeiten des 
‚„‚legge sulla casa‘ in Bologna nur verständ: 
lich, wenn der Entstehungsprozeß dieser 
Reform auf nationaler Ebene in die Ana- 
Iyse mit einbezogen ist: als widersprüch- 
liche Antwort auf die vor allem in den 
Großstädten des Nordens (und kaum in 
Bologna) geführten Stadtkämpfe erfor- 
dert dieses Gesetz auch in seiner Anwen- 
dung einen Grad an Basismobilisierung, 
der in Bologna von vornherein nicht 
gegeben war und hier von der PCI auch 
nicht gefördert wurde. 
Die Arbeit von T. Harlander geht 
ebenfalls mehrstufig vor: Zunächst wird 
= für den deutschen Leser unerläßlich — 
die ungleiche räumliche und wirtschaft- 
liche Entwicklung Italiens seit dem II. 
Weltkrieg aufgearbeitet, wobei über bloße 
Deskription hinaus vor allem die dualis- 
Mus- und arbeitsmarkttheoretischen Er- 
klärungsansätze sowie die Diskussion der 
konfliktuellen Folgen dieser Prozesse im 
Vordergrund stehen. Auf dieser Basis kön- 
nen sodann die großen Wirtschafts- und 
Planungsdebatten der 50er und 60er Jah- 
re verfolgt werden. Interessant für die 
hiesige Diskussion um Investitionslenkung 
dürften hier insbesondere die — faktisch 
vergeblichen — Versuche sein, die ökono- 
Misch und politisch relativ sehr gewichti- 
gen „Staatsindustrien‘” zu verantwortungs- 
vollen Trägern eines rationalisierenden 
Eingriffs in die gravierenden räumlich 
Und wirtschaftlich Ungleichgewichte zu 
machen. 
Schließlich ist eine ausführliche Unter- 
suchung der politischen Abivalenz der 
italienischen Regionalismusdebatte vor- 
geschaltet, die im Ergebnis 1970 zur 
lange verzögerten Einrichtung der schon 
in der Verfassung vorgesehenen Regio- 
nen führte — eine Reform, die erst 1978 
mit einem umstrittenen, kompromißhaf- 
ten Gesetz vorläufig abgeschlossen wer- 
den konnte. Die Frage nach den Mög- 
lichkeiten einer „Demokratisierung 
durch Dezentralisierung”, einer tiefgrei- 
fenden Erneuerung des zentralistischen 
Staatsapparates von unten erweist sich 
dabei nicht nur angesichts des allgemei- 
nen Erstarkens regionalistischer Bewe- 
gungen in den meisten westeuropäischen 
Ländern von grundlegender Bedeutung, 
sondern als schlechthin konstitutiv für 
den durch die PCI vertretenen, wesent- 
lich auf die Institutionen bezogenen 
„‚italienischen Weg zum Sozialismus”. 
Im italienischen Beispiel zeigt sich, 
bezogen auf die dortige Problematik, 
welche Gefahren vom „‚strukturellen 
Konservatismus” der Institutionen für 
die Einheit und den Fortschritt der so- 
zialen Bewegung ausgehen, wenn diese 
Institutionen ihren politischen Gehalt 
nicht aus der organischen Verbindung 
mit der sozialen Basis gewinnen, son- 
dern — wie im politischen Klima des 
„Compromesso storico”” — mehr und 
mehr zum taktisch bestimmten Verhand- 
lungsgegenstand der „‚großen Politik” 
werden. 
Bezogen auf die hiesige Regionalde- 
batte wird aber auch deutlich, wie ganz 
anders die Komplexe „‚Politik- und Ver 
waltungsreform”’/Veränderung der all- 
gemeinen Wirtschaftspolitik/Regional- 
politik miteinander verknüpft werden 
können. Erst die Regionalisierung als 
wichtigste Strukturveränderung des 
italienischen Staates der Nachkriegszeit 
schuf die Voraussetzungen für den auch 
in Italien herausragenden Versuch in 
der Region Emilia-Romagna, eine um- 
fassende sozialorientierte Steuerung 
der sozialen, wirtschaftlichen und räum- 
lichen Entwicklung einzuleiten. 
Die Analyse dieses Experiments, sei- 
ner Voraussetzungen (die Stellung der 
Emilia-Romagna als „periphere Region”) 
der nach und nach entwickelten Pro- 
grammatik, der Restriktionen (antiregio- 
nalistische Politik des Zentralstaats, 
Wirtschafts- und Finanzkrise etc.), der 
In strumente (von besonderem Interesse 
hier die Rolle der Genossenschaften), 
der politischen Implikationen und bis- 
herigen Ergebnisse macht den zweiten 
Hauptteil der Arbeit aus. Ähnlich wie 
im Fall Bologna wirkt sich auch hier 
der Übergang der PCI auf nationaler 
Ebene 1975/76 zur Unterstützung und 
Propagierung einer primär wirtschafts- 
und produktivitätsorientierten Austerity: 
Politik aus: sie forciert eine Wende der 
regionalen Politik, in der das Ziel einer 
weiteren Ausweitung der sozialen Dienst- 
leistungen bzw. des sogenannten „,sozia- 
len Konsums” mehr und mehr zugunsten 
einer rigiden Spar- und Opferpolitik zu- 
rücktritt. 
Ebenso wie die entsprechende Diskus- 
sion der Bologneser urbanistischen Re- 
formkonzepte bei H. Bodenschatz scheint 
mir dieser Teil für eine gerade erst begin- 
nende Debatte über wirtschafts- und so- 
zialpolitische Alternativen in der BRD 
wichtig. Hier wird die Möglichkeit zur 
Auseinandersetzung mit einem politisch 
konsistent formulierten Reformprogramm 
geboten, das in seiner Komplexität weit 
über die bei uns zu findende zaghafte und 
allzu häufig abstrakte ‚Suche nach Alter- 
nativen” hinausgeht. Hier stehen die Am- 
bivalenzen, Widersprüchlichkeiten und 
Restriktionen einer derartigen Program- 
matik nicht (allein) als akademisch-wis- 
senschaftliche zur Diskussion, sondern 
als konkreter Ausdruck von Kräfteverhält- 
nsisen und politischen Prozessen. 
Insgesamt sind die beiden sich ergän- 
zenden (zusammen als eine Art Kompen- 
dium der italienischen Planung auf zen- 
tralstaatlicher, regionaler und kommu- 
naler Ebene verwendbaren) Arbeiten der 
großen Zahl der „„Bologna-Wallfahrer” 
(oder „Bologna-Skeptiker”) und darüber 
hinaus denjenigen sehr zu empfehlen, 
die begonnen haben, sich intensiver mit 
der urbanistischen und Planungsdiskus- 
sion im europäischen Ausland zu befas- 
sen. Aber auch als ein konkreter Beitrag 
zur Diskussion um Programmatik und 
Praxis der italienischen Variante des Eu- 
rokommunismus, die hier anhand eines 
wichtigen politischen Praxisbereichs dis 
kutiert wird, haben beide Bücher einen 
eigenständigen Wert. 
Einer weiteren Verbreitung wird frei- 
lich wieder der — auch angesichts des 
Umfangs von jeweils ca. 300 Seiten — 
hohe Preis von DM 36,—-— pro Band ent- 
gegenstehen — ein Problem, das zu ei- 
nem Stereotyp in der Rezension wenig 
auflagenstarker Bücher werden dürfte. 
Adalbert Evers 
NEUERSCHEINUNG 
„... und vor allen Dingen, dat is’ 
wahr!” Eindrücke und Erfahrun- 
gen aus der Filmarbeit mit alten 
Menschen im Ruhrgebiet. Duis- 
burg 1979, 144 S., 97 Abb., 
DM 8,—. 
Eine Filmreihe der Volkshochschule 
Duisburg schuf eine ungewöhnliche 
Möglichkeit, alte Menschen nach Le- 
bens- und Arbeitsbedingungen, ihrem 
Alltag, vor 20, 30 oder gar 40 Jahren 
zu fragen. Historische Filme aus der 
Retrospektive „Das Ruhrgebiet im 
Film”, 1978 bei den Kurzfilmtagen in 
Oberhausen erstmals vorgestellt, boten 
den Besuchern der Veranstaltung in 
fünf Duisburger Altentagesstätten An- 
knüpfungspunkte, um aus eigenem Er- 
leben über die vergangenen Jahrzehnte 
zu berichten. In ihren Erinnerungen 
wird gelebte persönliche Geschichte le- 
bendig — immer auch ein Stück Ge- 
schichte von Stadt und Region. Solche 
Geschichte(n) des Alltags im Ruhrge- 
biet dokumentiert dieser Band. 
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