Tagungsbericht
Jochen Richard
„Alternative Verkehrsplanung“
Zum zweiten Bürgerinitiativen-Verkehrskongreß in Mühlheim/Ruhr vom 20. bis 22.4.79
So hat er nun stattgefunden — der zweite
Verkehrskongreß der Bürgerinitiativen. Was
ist so bemerkenswert, daß ein zweiter Kon-
greß dieser Art stattfand?
Vor ca. einem Jahr trafen sich die Ver-
kehrs-BI’s zum ersten Mal. Die Bürgerinitia-
tive Westtangente hatte aus der Erkenntnis
heraus, daß nicht nur Politiker, sondern
auch Bürgerinitiativen sich allmählich mal
von der Kirchturmspolitik abwenden soll-
ten, nach weiteren Bürgerinitiativen, die
sich mit Verkehrsplanungen beschäftigen,
recherchiert und nach Berlin eingeladen.
So trafen sich schließlich 250 Vertre-
ter aus BI’s mit Planern, Wissenschaftlern
und interessierten Einzelpersonen. Insge-
samt waren über 150 Initiativen aus dem
Verkehrsbereich vertreten. Daß die inzwi-
schen veröffentlichte Liste der Kontakt-
adressen auf über 1.000 anschwoll, zeigt
wahrlich, welch enormes Feld hier zu be-
ackern ist.
In Berlin wurde vier Tage lang zusam-
mengearbeitet, man lernte sich unterein-
ander und die Probleme des anderen ken-
nen. Leute, die sich bisher vielfach isoliert
und als „„Einzelkämpfer’” herumgeschlagen
hatten, fanden hier wertvolle Anregungen
und Erfahrungen. Es kristallisierte sich
immer stärker die Erkenntnis heraus, daß
durch Einzelmaßnahmen vor Ort kaum
eine Lösung der tatsächlichen Probleme
möglich wird; allenfalls eine Verlagerung
vor die Tür des Nachbarn — heiliger Sankt
Florian!
Die Folgen des sich Kennenlernens wa-
ren so ähnlich wie auch bei Urlaubsbe-
kanntschaften: Man verspricht, in Kontakt
zu bleiben, weiter zusammenzuarbeiten
und sich wiederzutreffen. Grundlage hier-
für sollte die während des Kongresses be-
gonnene Arbeit in den verschiedenen Ar-
beitsgruppen sein. Nun ja, wer weiß nicht,
was aus solchen ‚„,‚Bekanntschaften” in der
Regel wird: Eine Woche Euphorie und
dann — vergessen. Was hat das mit dem
2. Kongreß in Mühlheim zu tun?
Allein, daß er stattfand, beweist, daß
die versprochene Weiter- und Zusammen-
arbeit im letzten Jahr mehr war als nur
ein „Urlaub’’ vom Alltag der BI-Arbeit.
Die Erfahrungsberichte über das letzte
Jahr zeigten, wie eng sich diese Zusam-
menarbeit teilweise gestaltete. Eine Viel-
zahl von (z.T. gemeinsamen) Aktionen wur-
de durchgeführt:
® die in Berlin beschlossenen Aktionen
zum Tag der Umwelt 1978 können mit
120 beteiligten Bürgerinitiativen und etwa
20.000 Teilnehmern an den Fahrradde-
monstrationen in etwa 35 Orten als ein
großer Erfolg angesehen werden;
® die durch das erste Treffen bundesweit
angeregten Initiativen (Fach tagungen
zu bestimmten Einzelthemen und örtli-
chen Problemen, Teilnahme an der Zwei-
radmesse in Köln mit Symposion, „Ak-
tion Notbremse” gegen die Tariferhöhung
bei der Deutschen Bundesbahn) sind kaum
alle aufzuzählen;
® einige Arbeitsgruppen haben in der Zwi-
schenzeit Grundinformationen erstellt,
die nicht mehr nur von Bürgerinitiativen,
sondern in immer stärkerem Maß auch
von Behörden, Verwaltungen und Schulen
angefordert werden (z.B. die „Stichworte
und Fakten zum Straßenverkehr”, siehe
ARCH+ 43/44);
® in den letzten Jahren wurden gerichtli-
che Überprüfungen von Straßenbau-
maßnahmen zugunsten der klagenden Bür-
gerinitiativen abgeschlossen: Eltville, Re-
gensburg und Berlin. Etliche Entscheidun-
gen stehen noch aus.
Der Treff in Mühlheim konnte damit
den Beweis antreten, daß Bürgerinitiativen
auch über einen größeren Zeitraum konti-
nuilerlich zusammenarbeiten — ein we-
sentlicher Fortschritt, der zumindest teil-
weise den ständigen Informationsvor-
sprung der professionellen Planer zusam-
menschrumpfen läßt und damit den Ak-
tionsspielraum der BI’s erweitert und eine
Chancengleichheit in der Diskussion her-
stellen hilft.
Doch auch Mühlheim ist kein Abschluß,
sondern nur eine notwendige Zwischensta-
tion. An den drei Arbeitstagen, die zur Ver-
fügung standen, tagten die in Berlin begon-
nenen Arbeitsgruppen, neue wurden auf-
grund aktueller Anlässe gegründet. Wer
interessiert ist, kann in den folgenden Ar-
beitsgruppen (Kurztitel) mitarbeiten:
Bürgerbeteiligung, Klagerecht, Messestand
zur Internationalen Automobilausstellung,
Verkehrsverbund und Sanierung der Deut-
schen Bundesbahn, Organisation von BI’s,
Fahrrad, Verkehrsberuhigung, Lärmschutz,
Verband der ÖPNV-Benutzer, Bundesfern-
straßenplanung.
Zur Koordination der zukünftigen Wei-
terarbeit wurde ein Organisationsmodell
entwickelt: Ob Anfragen zum Problem
einer BI, Weitergabe von Informationen,
Bereitschaft zur Mitarbeit oder Adressen-
änderung, alles soll über die Adresse
ARBEITSKREIS VERKEHR IM BBU
CHERUSKERSTR. 10,
1000 BERLIN 62
laufen. Die Informationen werden von
hier an die Arbeitsgruppen, Kontaktstel-
len, Fachplaner usw. weitergegeben.
Da ein Bürgerinitiativen-Zusammen-
schluß nur von den Initiativen der Einzel-
nen leben kann, sollte von der genannten
Adresse möglichst häufig Gebrauch ge-
macht werden. Zwangsläufig kann diese
Stelle jedoch nur Informationen auf An-
fragen von BI’s herausgeben, wenn sie an-
dererseits auch mit entsprechenden Infor-
mationen versorgt wird. Also: Nicht im-
mer nur nehmen, sondern auch mal die
Mühe machen und über die eigene Arbeit
und die daraus gewonnenen Erfahrungen
berichten!
Der bereits zur Vorbereitung des Ber-
liner Kongresses benutzte Rundbrief soll
wiederbelebt werden, um ein Medium zur
gegenseitigen Information über all das zu
haben, was für alle von Bedeutung sein
könnte. Die Rundbriefe sollen gegen Er-
stattung der Selbstkosten verschickt wer-
den. Bestelladresse siehe oben!
Im Vergleich zum letzten Jahr fiel auf,
daß die BI:Vertreter in einem erstaunli-
chen Maß in die Sach- und Problemdiskus-
sion einsteigen konnten. Der Informations
stand war wesentlich ausgeglichener und
ermöglichte eine zielorientierte Diskus-
sion, die nicht einer „„‚Fortbildung”‘, son-
dern der Erörterung von Grundsatzproble-
men diente. Die intensive, inhaltliche Ar-
beit und die damit verbundenen Lernpro-
zesse sollen hier nicht breitgetreten und
zerredet werden. Daher nur die wichtig-
sten Ergebnisse, die zum Abschluß der
drei Tage als Forderungen formuliert wur-
den und in etwa auch die zukünftige Wei-
terarbeit erkennen lassen:
® zur Fortschreitung des Bundesfernstra-
Benbedarfsplanes im Herbst dieses Jah-
res fordern die BI’s einen Stop der weite-
ren Ausbauplanung, da das Autobahnnetz
der BRD vollständig ist;
® in Ballungsräumen sind neue Schnell-
straßen und Stadtautobahnen weder
notwendig noch städtebaulich vertretbar;
® die freiwerdenden Gelder sind für Maß-
nahmen zur Verkehrsberuhigung, für
eine Förderung des nichtmotorisierten Ver-
kehrs und zur Attraktivitätssteigerung des
Öffentlichen Nahverkehrs umzulenken;
® Verkehrsberuhigung muß flächendek-
kend sein, um die Nachteile von Ver-
kehrsverdrängungen in benachbarte Stra-
ßen zu verhindern und muß auch die
Hauptverkehrsstraßen einbeziehen;
® für den Radfahrverkehr wird ein Sofort-
programm von Bund und Ländern ge-
fordert, da nach Berechnungen der BI’s
im Innerortsbereich ca. 42.000 km Rad-
wege fehlen;
® in Nahverkehrs-, S- und U-Bahnzügen
muß eine bequeme Mitnahme von
Kinderwagen, Fahrrädern und Behinder-
tenfahrzeuge geschaffen werden.
Abschließend soll kritisch angemerkt
werden, daß dieses Jahr die Teilnehmer-
zahl geringer war als im letzten Jahr. Der
Grund: Insbesondere BI’s aus dem süd-
deutschen Raum waren schwach vertre-
ten, da nur eine Woche später ein gleich-
artiger Kongreß in Bad Boll stattfand
— ein Koordinationsfehler, der in Zukunft
vermieden werden sollte.
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