Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1979, Jg. 11, H. 43-47, [48])

Tagungsbericht 
Jochen Richard 
„Alternative Verkehrsplanung“ 
Zum zweiten Bürgerinitiativen-Verkehrskongreß in Mühlheim/Ruhr vom 20. bis 22.4.79 
So hat er nun stattgefunden — der zweite 
Verkehrskongreß der Bürgerinitiativen. Was 
ist so bemerkenswert, daß ein zweiter Kon- 
greß dieser Art stattfand? 
Vor ca. einem Jahr trafen sich die Ver- 
kehrs-BI’s zum ersten Mal. Die Bürgerinitia- 
tive Westtangente hatte aus der Erkenntnis 
heraus, daß nicht nur Politiker, sondern 
auch Bürgerinitiativen sich allmählich mal 
von der Kirchturmspolitik abwenden soll- 
ten, nach weiteren Bürgerinitiativen, die 
sich mit Verkehrsplanungen beschäftigen, 
recherchiert und nach Berlin eingeladen. 
So trafen sich schließlich 250 Vertre- 
ter aus BI’s mit Planern, Wissenschaftlern 
und interessierten Einzelpersonen. Insge- 
samt waren über 150 Initiativen aus dem 
Verkehrsbereich vertreten. Daß die inzwi- 
schen veröffentlichte Liste der Kontakt- 
adressen auf über 1.000 anschwoll, zeigt 
wahrlich, welch enormes Feld hier zu be- 
ackern ist. 
In Berlin wurde vier Tage lang zusam- 
mengearbeitet, man lernte sich unterein- 
ander und die Probleme des anderen ken- 
nen. Leute, die sich bisher vielfach isoliert 
und als „„Einzelkämpfer’” herumgeschlagen 
hatten, fanden hier wertvolle Anregungen 
und Erfahrungen. Es kristallisierte sich 
immer stärker die Erkenntnis heraus, daß 
durch Einzelmaßnahmen vor Ort kaum 
eine Lösung der tatsächlichen Probleme 
möglich wird; allenfalls eine Verlagerung 
vor die Tür des Nachbarn — heiliger Sankt 
Florian! 
Die Folgen des sich Kennenlernens wa- 
ren so ähnlich wie auch bei Urlaubsbe- 
kanntschaften: Man verspricht, in Kontakt 
zu bleiben, weiter zusammenzuarbeiten 
und sich wiederzutreffen. Grundlage hier- 
für sollte die während des Kongresses be- 
gonnene Arbeit in den verschiedenen Ar- 
beitsgruppen sein. Nun ja, wer weiß nicht, 
was aus solchen ‚„,‚Bekanntschaften” in der 
Regel wird: Eine Woche Euphorie und 
dann — vergessen. Was hat das mit dem 
2. Kongreß in Mühlheim zu tun? 
Allein, daß er stattfand, beweist, daß 
die versprochene Weiter- und Zusammen- 
arbeit im letzten Jahr mehr war als nur 
ein „Urlaub’’ vom Alltag der BI-Arbeit. 
Die Erfahrungsberichte über das letzte 
Jahr zeigten, wie eng sich diese Zusam- 
menarbeit teilweise gestaltete. Eine Viel- 
zahl von (z.T. gemeinsamen) Aktionen wur- 
de durchgeführt: 
® die in Berlin beschlossenen Aktionen 
zum Tag der Umwelt 1978 können mit 
120 beteiligten Bürgerinitiativen und etwa 
20.000 Teilnehmern an den Fahrradde- 
monstrationen in etwa 35 Orten als ein 
großer Erfolg angesehen werden; 
® die durch das erste Treffen bundesweit 
angeregten Initiativen (Fach tagungen 
zu bestimmten Einzelthemen und örtli- 
chen Problemen, Teilnahme an der Zwei- 
radmesse in Köln mit Symposion, „Ak- 
tion Notbremse” gegen die Tariferhöhung 
bei der Deutschen Bundesbahn) sind kaum 
alle aufzuzählen; 
® einige Arbeitsgruppen haben in der Zwi- 
schenzeit Grundinformationen erstellt, 
die nicht mehr nur von Bürgerinitiativen, 
sondern in immer stärkerem Maß auch 
von Behörden, Verwaltungen und Schulen 
angefordert werden (z.B. die „Stichworte 
und Fakten zum Straßenverkehr”, siehe 
ARCH+ 43/44); 
® in den letzten Jahren wurden gerichtli- 
che Überprüfungen von Straßenbau- 
maßnahmen zugunsten der klagenden Bür- 
gerinitiativen abgeschlossen: Eltville, Re- 
gensburg und Berlin. Etliche Entscheidun- 
gen stehen noch aus. 
Der Treff in Mühlheim konnte damit 
den Beweis antreten, daß Bürgerinitiativen 
auch über einen größeren Zeitraum konti- 
nuilerlich zusammenarbeiten — ein we- 
sentlicher Fortschritt, der zumindest teil- 
weise den ständigen Informationsvor- 
sprung der professionellen Planer zusam- 
menschrumpfen läßt und damit den Ak- 
tionsspielraum der BI’s erweitert und eine 
Chancengleichheit in der Diskussion her- 
stellen hilft. 
Doch auch Mühlheim ist kein Abschluß, 
sondern nur eine notwendige Zwischensta- 
tion. An den drei Arbeitstagen, die zur Ver- 
fügung standen, tagten die in Berlin begon- 
nenen Arbeitsgruppen, neue wurden auf- 
grund aktueller Anlässe gegründet. Wer 
interessiert ist, kann in den folgenden Ar- 
beitsgruppen (Kurztitel) mitarbeiten: 
Bürgerbeteiligung, Klagerecht, Messestand 
zur Internationalen Automobilausstellung, 
Verkehrsverbund und Sanierung der Deut- 
schen Bundesbahn, Organisation von BI’s, 
Fahrrad, Verkehrsberuhigung, Lärmschutz, 
Verband der ÖPNV-Benutzer, Bundesfern- 
straßenplanung. 
Zur Koordination der zukünftigen Wei- 
terarbeit wurde ein Organisationsmodell 
entwickelt: Ob Anfragen zum Problem 
einer BI, Weitergabe von Informationen, 
Bereitschaft zur Mitarbeit oder Adressen- 
änderung, alles soll über die Adresse 
ARBEITSKREIS VERKEHR IM BBU 
CHERUSKERSTR. 10, 
1000 BERLIN 62 
laufen. Die Informationen werden von 
hier an die Arbeitsgruppen, Kontaktstel- 
len, Fachplaner usw. weitergegeben. 
Da ein Bürgerinitiativen-Zusammen- 
schluß nur von den Initiativen der Einzel- 
nen leben kann, sollte von der genannten 
Adresse möglichst häufig Gebrauch ge- 
macht werden. Zwangsläufig kann diese 
Stelle jedoch nur Informationen auf An- 
fragen von BI’s herausgeben, wenn sie an- 
dererseits auch mit entsprechenden Infor- 
mationen versorgt wird. Also: Nicht im- 
mer nur nehmen, sondern auch mal die 
Mühe machen und über die eigene Arbeit 
und die daraus gewonnenen Erfahrungen 
berichten! 
Der bereits zur Vorbereitung des Ber- 
liner Kongresses benutzte Rundbrief soll 
wiederbelebt werden, um ein Medium zur 
gegenseitigen Information über all das zu 
haben, was für alle von Bedeutung sein 
könnte. Die Rundbriefe sollen gegen Er- 
stattung der Selbstkosten verschickt wer- 
den. Bestelladresse siehe oben! 
Im Vergleich zum letzten Jahr fiel auf, 
daß die BI:Vertreter in einem erstaunli- 
chen Maß in die Sach- und Problemdiskus- 
sion einsteigen konnten. Der Informations 
stand war wesentlich ausgeglichener und 
ermöglichte eine zielorientierte Diskus- 
sion, die nicht einer „„‚Fortbildung”‘, son- 
dern der Erörterung von Grundsatzproble- 
men diente. Die intensive, inhaltliche Ar- 
beit und die damit verbundenen Lernpro- 
zesse sollen hier nicht breitgetreten und 
zerredet werden. Daher nur die wichtig- 
sten Ergebnisse, die zum Abschluß der 
drei Tage als Forderungen formuliert wur- 
den und in etwa auch die zukünftige Wei- 
terarbeit erkennen lassen: 
® zur Fortschreitung des Bundesfernstra- 
Benbedarfsplanes im Herbst dieses Jah- 
res fordern die BI’s einen Stop der weite- 
ren Ausbauplanung, da das Autobahnnetz 
der BRD vollständig ist; 
® in Ballungsräumen sind neue Schnell- 
straßen und Stadtautobahnen weder 
notwendig noch städtebaulich vertretbar; 
® die freiwerdenden Gelder sind für Maß- 
nahmen zur Verkehrsberuhigung, für 
eine Förderung des nichtmotorisierten Ver- 
kehrs und zur Attraktivitätssteigerung des 
Öffentlichen Nahverkehrs umzulenken; 
® Verkehrsberuhigung muß flächendek- 
kend sein, um die Nachteile von Ver- 
kehrsverdrängungen in benachbarte Stra- 
ßen zu verhindern und muß auch die 
Hauptverkehrsstraßen einbeziehen; 
® für den Radfahrverkehr wird ein Sofort- 
programm von Bund und Ländern ge- 
fordert, da nach Berechnungen der BI’s 
im Innerortsbereich ca. 42.000 km Rad- 
wege fehlen; 
® in Nahverkehrs-, S- und U-Bahnzügen 
muß eine bequeme Mitnahme von 
Kinderwagen, Fahrrädern und Behinder- 
tenfahrzeuge geschaffen werden. 
Abschließend soll kritisch angemerkt 
werden, daß dieses Jahr die Teilnehmer- 
zahl geringer war als im letzten Jahr. Der 
Grund: Insbesondere BI’s aus dem süd- 
deutschen Raum waren schwach vertre- 
ten, da nur eine Woche später ein gleich- 
artiger Kongreß in Bad Boll stattfand 
— ein Koordinationsfehler, der in Zukunft 
vermieden werden sollte. 
nd
	        

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