Bernd Uhde
Ein Sechs-Wochen-Dorf im
Großstadtbauch - Ein Bericht
„Ich muß schon sagen, ich bin hier un-
heimlich abgefahren, hab’ noch nie in so
einem Dorf gelebt, ich war zwar mal auf
‘nem Bauernhof auf dem Land, ’nem ziem-
lich großen, aber das is’ Ja nix gegen das
hier! Hier haben wir ein ganzes Dorf, hier
hast du Dein eigenes Bierhaus, Ernährungs-
haus, hast sogar ein Krankenhaus, hier un-
sere Gesundheitsschnecke, großes Zelt,
Biogasklo, hör mal — is’ doch alles da!”
Ein Dorf, mitten in Berlin. Auf der ei-
nen Seite umgeben von den funktionalen
Rückseiten der Messehallen und der
Deutschlandhalle, auf der anderen Seite
von den dazugehörenden Parkplätzen und
dem schmalen Waldstreifen entlang der S-
Bahn. Auf einem leeren Platz — ca.
20.000 qm groß — bauten im Sommer
1978 Mitglieder verschiedener ‚‚Alternativ-
gruppen” aus Berlin und Westdeutschland
für die Dauer von 6 Wochen ein Dorf, ein
Dorf, in dem gelebt und gearbeitet wurde,
welches aber gleichzeitig eine Ausstellung
sein sollte, in der sich der Besucher über
die Arbeit und die Forderungen der Grup-
pen informieren konnte.
Der erste Eindruck stiftete Verwirrung.
Da war mitten in einer funktionalen Um-
gebung etwas entstanden, was weder nach
dem sonst an dieser Stelle befindlichen
Zirkus noch nach dem Rummelplatz aus-
sah. Am Anfang war da nichts weiter als
ein riesiger Schrotthaufen. Rund 200 ak-
tive Alternativler hatten sich in Selbstver-
antwortung und ohne nennenswerte Un-
terstützung von außen daran gemacht, aus
Abfallmaterial — alten Brettern, Türen,
Baumstämmen, Paletten und allem, was
danach aussah, als sei es zum Bauen ge-
eignet — ein Dorf nach ihren Vorstellun
gen aufzubauen.
„Wir halten es für wahrscheinlich, daß
ein Teil der Besucher spätestens am Ein-
gang, vor Betreten des Festivalgeländes,
zurückgeschreckt wurde und sich lieber
wieder davonmachte. Für viele war das
hier sicher schon vom Äußeren her zu
fremd. Man muß dazu sagen, daß wir ur-
sprünglich auch den Anspruch hatten,
aus Abfallmaterial ‚schöne‘ Bauten ent
stehen zu lassen, doch das schafften wir
nicht aus Zeit- und Geldgründen und
auch, weil es uns am Können fehlte.”
Keinem der Aktiven war anfänglich
richtig klar, wie das Dorf eigentlich mal
aussehen sollte. Es wurde viel darüber
diskutiert, es wurden Pläne gemacht und
wieder verworfen. Dann hatten die betei-
ligten Architekten einen Rohentwurf vor-
gelegt, der an ein Runddorf erinnerte. In
der Mitte sollte der Dorfplatz entstehen
und drum herum sollten die einzelnen
Teilbereiche der Ausstellung wie Energie
Ernährung, Gesundheit, Landwirtschaft
etc. angesiedelt werden. In der Praxis sah
es dann so aus, daß auf dem leeren Platz
kleine Schilder aufgestellt wurden an den
Stellen, wo einmal die Häuser stehen soll
ten. Dann wurde — zunächst schleppend.
vor der Eröffnung jedoch mit viel Ein-
satz drauflosgebaut, mitbauen konnte,
wer wollte. Die Berliner Bevölkerung
wurde zur tatkräftigen Unterstützung
aufgefordert, aber im wesentlichen blieb
man unter sich, da es selbst für die von
Anfang an Beteiligten schwierig war, An-
schluß zum Bauprozeß zu finden.
Die Bauzeit betrug knapp eineinhalb
Monate. An den Wochentagen war meist
wenig los; es fehlte an allen Ecken und
Enden, es gab kein Werkzeug, kein über-
schaubares Material, keine Pläne, wie
man eigentlich bauen sollte. An den Wo:
chenenden war jedoch immer mehr los,
da hatten — oder nahmen sich — mehr
Leute Zeit. Überall war reges Treiben, es
wurde gehämmert, gesägt, gegraben, ob-
wohl die meisten keine Ahnung hatten,
wie man ein Haus baut, das 6 Wochen
lang Besuchermassen aushalten mußte,
wetterfest sein sollte, für Aktivitäten ver:
schiedenster Art geeignet sein und zu-
dem noch von der Baupolizei abgenom-
men werden mußte.
„Der Aufbau lief unheimlich schwer an,
da jeder sich nebenbei um vieles küm-
mern mußte und viele von uns ja auch
arbeiten gingen. So waren in den ersten
2 Wochen immer die gleichen Leute auf
dem Platz. Sie sortierten hauptsächlich
das ankommende Material, zogen verro-
stete Nägel und Schrauben aus dem Holz
oder zerlegten die verschiedenen Gegen-
stände in Einzelteile. Zwar kamen ab und
zu noch andere Leute hinzu, die mithel-
fen wollten, dann aber doch meistens
wieder von dannen zogen, weil es eben
so trost/os aussah.”
Mit der Zeit entstanden Gruppen, die