Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1979, Jg. 11, H. 43-47, [48])

Bernd Uhde 
Ein Sechs-Wochen-Dorf im 
Großstadtbauch - Ein Bericht 
„Ich muß schon sagen, ich bin hier un- 
heimlich abgefahren, hab’ noch nie in so 
einem Dorf gelebt, ich war zwar mal auf 
‘nem Bauernhof auf dem Land, ’nem ziem- 
lich großen, aber das is’ Ja nix gegen das 
hier! Hier haben wir ein ganzes Dorf, hier 
hast du Dein eigenes Bierhaus, Ernährungs- 
haus, hast sogar ein Krankenhaus, hier un- 
sere Gesundheitsschnecke, großes Zelt, 
Biogasklo, hör mal — is’ doch alles da!” 
Ein Dorf, mitten in Berlin. Auf der ei- 
nen Seite umgeben von den funktionalen 
Rückseiten der Messehallen und der 
Deutschlandhalle, auf der anderen Seite 
von den dazugehörenden Parkplätzen und 
dem schmalen Waldstreifen entlang der S- 
Bahn. Auf einem leeren Platz — ca. 
20.000 qm groß — bauten im Sommer 
1978 Mitglieder verschiedener ‚‚Alternativ- 
gruppen” aus Berlin und Westdeutschland 
für die Dauer von 6 Wochen ein Dorf, ein 
Dorf, in dem gelebt und gearbeitet wurde, 
welches aber gleichzeitig eine Ausstellung 
sein sollte, in der sich der Besucher über 
die Arbeit und die Forderungen der Grup- 
pen informieren konnte. 
Der erste Eindruck stiftete Verwirrung. 
Da war mitten in einer funktionalen Um- 
gebung etwas entstanden, was weder nach 
dem sonst an dieser Stelle befindlichen 
Zirkus noch nach dem Rummelplatz aus- 
sah. Am Anfang war da nichts weiter als 
ein riesiger Schrotthaufen. Rund 200 ak- 
tive Alternativler hatten sich in Selbstver- 
antwortung und ohne nennenswerte Un- 
terstützung von außen daran gemacht, aus 
Abfallmaterial — alten Brettern, Türen, 
Baumstämmen, Paletten und allem, was 
danach aussah, als sei es zum Bauen ge- 
eignet — ein Dorf nach ihren Vorstellun 
gen aufzubauen. 
„Wir halten es für wahrscheinlich, daß 
ein Teil der Besucher spätestens am Ein- 
gang, vor Betreten des Festivalgeländes, 
zurückgeschreckt wurde und sich lieber 
wieder davonmachte. Für viele war das 
hier sicher schon vom Äußeren her zu 
fremd. Man muß dazu sagen, daß wir ur- 
sprünglich auch den Anspruch hatten, 
aus Abfallmaterial ‚schöne‘ Bauten ent 
stehen zu lassen, doch das schafften wir 
nicht aus Zeit- und Geldgründen und 
auch, weil es uns am Können fehlte.” 
Keinem der Aktiven war anfänglich 
richtig klar, wie das Dorf eigentlich mal 
aussehen sollte. Es wurde viel darüber 
diskutiert, es wurden Pläne gemacht und 
wieder verworfen. Dann hatten die betei- 
ligten Architekten einen Rohentwurf vor- 
gelegt, der an ein Runddorf erinnerte. In 
der Mitte sollte der Dorfplatz entstehen 
und drum herum sollten die einzelnen 
Teilbereiche der Ausstellung wie Energie 
Ernährung, Gesundheit, Landwirtschaft 
etc. angesiedelt werden. In der Praxis sah 
es dann so aus, daß auf dem leeren Platz 
kleine Schilder aufgestellt wurden an den 
Stellen, wo einmal die Häuser stehen soll 
ten. Dann wurde — zunächst schleppend. 
vor der Eröffnung jedoch mit viel Ein- 
satz drauflosgebaut, mitbauen konnte, 
wer wollte. Die Berliner Bevölkerung 
wurde zur tatkräftigen Unterstützung 
aufgefordert, aber im wesentlichen blieb 
man unter sich, da es selbst für die von 
Anfang an Beteiligten schwierig war, An- 
schluß zum Bauprozeß zu finden. 
Die Bauzeit betrug knapp eineinhalb 
Monate. An den Wochentagen war meist 
wenig los; es fehlte an allen Ecken und 
Enden, es gab kein Werkzeug, kein über- 
schaubares Material, keine Pläne, wie 
man eigentlich bauen sollte. An den Wo: 
chenenden war jedoch immer mehr los, 
da hatten — oder nahmen sich — mehr 
Leute Zeit. Überall war reges Treiben, es 
wurde gehämmert, gesägt, gegraben, ob- 
wohl die meisten keine Ahnung hatten, 
wie man ein Haus baut, das 6 Wochen 
lang Besuchermassen aushalten mußte, 
wetterfest sein sollte, für Aktivitäten ver: 
schiedenster Art geeignet sein und zu- 
dem noch von der Baupolizei abgenom- 
men werden mußte. 
„Der Aufbau lief unheimlich schwer an, 
da jeder sich nebenbei um vieles küm- 
mern mußte und viele von uns ja auch 
arbeiten gingen. So waren in den ersten 
2 Wochen immer die gleichen Leute auf 
dem Platz. Sie sortierten hauptsächlich 
das ankommende Material, zogen verro- 
stete Nägel und Schrauben aus dem Holz 
oder zerlegten die verschiedenen Gegen- 
stände in Einzelteile. Zwar kamen ab und 
zu noch andere Leute hinzu, die mithel- 
fen wollten, dann aber doch meistens 
wieder von dannen zogen, weil es eben 
so trost/os aussah.” 
Mit der Zeit entstanden Gruppen, die
	        

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