Platz vor dem Haus
Männer, mit ihren Arbeiten in die Küche
zurück oder nehmen in der Nähe der
Türe auf dem Fußboden Platz, arbeiten
dort weiter und setzen die Unterhaltung
leise fort.
Mit dem Eintreten der Männer ent-
steht also eine neue Situation im Raum,
die auch in der Ziehung von Grenzen und
einem veränderten Verhalten der Frauen
zum Ausdruck kommt. Die Grenze im
Raum wird gezogen, indem die Männer
sich auf den Divan setzen und die
Frauen sich in den für sie bestimmten
Teil des Raumes zurückziehen, ihre
Kopftücher hochziehen und flüstern.
Es können so gleichzeitig und im glei-
chen Raum verschiedene nach Geschlecht
getrennte Gruppen unterschiedlichen
Tätigkeiten nachgehen. Doch ist auch
dann ihre Trennung jeweils klar ersicht-
lich.
Eine Zwischenposition nehmen die
alten Frauen (ab ca. 50 Jahren) ein. Die
Anforderungen an die klar definierte
Geschlechterrolle der Frau werden mit
zunehmendem Alter geringer, so daß
sich die Abgrenzung von Männern
lockert und eine alte Frau etwa bei den
Männern auf dem Diwan sitzt, sich mit
ihnen unterhalten und essen kann. Aller-
dings bleibt auch sie häufig ein klein
wenig abseits von ihnen.
Andere, eng mit dem Arbeitsbereich
der Frauen verknüpfte Orte sind offen
und von allen Personen einsehbar: der
Platz vor dem Haus, das Hausdach und
der Brunnen. Der Brunnen ist beliebte-
ster Treffpunkt der Frauen, da sich dort
mehr Nachbarsfrauen einfinden, und
auch ein Plausch mit denjenigen Frauen
gehalten werden kann, die drei/vier Häu-
ser entfernt wohnen, d.h. so weit, daß
man dort seltener vor der Haustüre oder
auf dem Hausdach sitzt, sich unterhält
und den täglichen Arbeiten nachgeht.
Die Ungeschütztheit dieser Orte erfor-
dert eine erhöhte Aufmerksamkeit der
Frauen. Kommen Männer in die Nähe
des Hauses oder des Brunnens, werden
die Gespräche leiser geführt, die Kleider
und das Kopftuch zurechtgezupft. Die
Atmosphäre entspannt sich, sobald die
Männer außer Hör- und Sichtweite sind.
Ganz offensichtlich vermeiden die Män-
ner aber sich untertaas in der Nähe des
Brunnenhaus
Hauses oder Brunnens aufzuhalten, da
diese Orte den Frauen wegen der notwen-
digen Verbindung mit ihren Arbeiten
vorbehalten sind. Die Frauen achten dem-
entsprechend darauf, morgens und abends,
wenn die Männer das Vieh am Brunnen
tränken, nicht dort hinzugehen.
Der Brunnen hat verschiedene Funktio-
nen, die den Arbeiten der Geschlechter
entsprechen. Eine Vermischung dieser
Bereiche wird durch eine zeitliche Ab-
grenzung verhindert. Kann diese zeitliche
Trennung in Ausnahmesituationen nicht
eingehalten werden, errichten die Frauen,
ähnlich wie im Haus, durch ein der Situa-
tion angemessenes Verhalten eine gesell-
schaftliche Grenze.
Entsprechend verhalten sich die
Frauen auch, wenn sie sich in männliches
Territorium begeben, etwa auf die Wege
im Dorf. Sie gehen dann zielstrebig, nie-
mals allein, sondern immer in Begleitung
anderer Frauen und/oder Kinder, tragen
ihre Kopftücher sehr ordentlich und un-
terhalten sich leise. Falls ihnen unterwegs
ein Mann begegnet, lassen sie ihm den Vor:
tritt. Auch hier bleiben die Grenzen der
Geschlechtertrennung eindeutig und wer-
den durch das Verhalten der Frauen deut-
lich ausgedrückt.
‘Bos oturma!”’ - Sitze nicht mit leeren
Händen herum! — d.h. ohne Arbeit, ist
ein Ausdruck, der von den Frauen im
Dorf oft zu hören ist. Keine türkische
Frau wird man ohne Beschäftigung an-
treffen: hat sie nicht gerade das Haus
zu säubern und zu ordnen, sich um die
Kinder zu kümmern, gemeinsam mit an-
deren Frauen Brot zu backen oder im Gar-
ten zu arbeiten, am Brunnen Wäsche zu
waschen, diese vor dem Haus sitzend zu
flicken, Wasser zu holen oder das Vieh zu
versorgen, trifft sie sich zu einem kleinen
Plausch mit anderen Frauen, hat dabei
aber ganz sicher ihr Häkel- oder Strick-
zeug in der Hand.
Allgemein können die Arbeiten der
Frauen als typisch häusliche Arbeiten be-
schrieben werden, die sich in unzählige,
vielfältige, aber oft wiederholten Hand-
griffen zusammensetzen und ununterbro-
chene Bewegung erfordern.Die Arbeiten
der Frauen können in die sich täglich wie-
derholenden, quasi endlosen Arbeiten
wie Kochen, Aufräumen und Sauberma-
chen, und die jahreszeitlich bedingten
aufgeteilt werden. Im Frühjahr weben die
Frauen Teppiche, bereiten den Garten vor,
im Sommer helfen sie den Männern bei
der Ernte, später konservieren sie die Pro-
dukte der Gartenernte für den Winter,
waschen die Betten und im Winter bessern
sie das Inventar des Hauses aus, handarbei-
ter: und treffen Vorbereitungen für die Ar-
beiten im Frühjahr. Es bestehen also zwei
Arbeitszyklen der Frauen: der tägliche
und der jährliche. Vor allem die täglichen
Arbeiten zeichnen sich dadurch aus, daß
sie gleichsam nie endgültig abgeschlossen
werden müssen, während die jahreszeit-
lich bedingten Tätigkeiten zu einem be-
stimmten Zeitpunkt und auf längere
Sicht beendet sind.
All diejenigen häuslichen Arbeiten,
die nicht notwendigerweise an das Haus
gebunden sind, wie Gemüse putzen und
Wäsche flicken, bewältigen die Frauen
oft außerhalb des Hauses und in Gesell-
schaft anderer Frauen. Sie tun dies unab-
hängig davon, ob bei den Arbeiten Mitar-
beit erforderlich ist oder nicht. Die Ar-
beit wird von ständigen Kommentaren
zu den Handgriffen und dem Austausch
von Neuigkeiten über Kinder, Männer,
Nachbarinnen, Krankheiten und Dorf-
ereignissen begleitet.
Eine Überschneidung der Arbeitsbe-
reiche von Männern und Frauen findet
hauptsächlich bei der Ernte und den sich
daran anschließenden Arbeiten wie dre-
schen, Weizen waschen, mahlen etc. statt.
Die Versorgung des Viehs wird je nach
Arbeitsbelastung von Männern oder
Frauen übernommen, wobei das Mel-
ken der Kühe und Schafe ausschließlich
Frauenarbeit ist.
Die beschriebenen Verhaltensweisen
von Männern und Frauen lassen sich also
entlang der von bestimmten Räumen ge-
bildeten Grenzen und der in ihnen aus-
geübten Tätigkeiten ordnen. Die dabei
auftretenden einzelnen sozialen Bezie-
hungen sind jedoch Ausdruck der zugrun-
deliegenden Sozialstruktur, die für die
Frauen durch Verwandtschaft und Nach-
barschaft definiert ist. Den beschriebe-
nen und allgemeinen Kontrast zwischen
dem von Intimität und Nähe geprägten
Verhalten der Frauen untereinander und
der Zurückhaltung und Distanz gegenüber
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