Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1979, Jg. 11, H. 43-47, [48])

dem sie nicht verwandt ist, erwartet nicht 
nur, daß ihm seine Schwiegertochter saygi 
in der extremsten Ausprügung entgegen- 
bringt, ihm gegenüber also respektvoll 
und zurückhaltend ist, sondern auch, 
daß sie ihm absolut gehorcht und, der 
räumlichen Nähe wegen, ihn in verschie- 
denen Formen meidet, bzw. sich ihm 
gegenüber schamhaft verhält. Sie spricht 
nicht mit ihm oder in seiner Anwesen- 
heit, sondern nur auf dem Umweg über 
die Schwiegermutter. Während er sich 
im Raum aufhält, trägt sie immer das 
Kopftuch über dem Mund und hält es 
auch z.B. während des Essens so, daß 
ihr Mund für ihn nicht sichtbar ist. Sie 
hält sich nur an dem ihr angemessenen 
Ort, nahe der Türe oder dem Ofen, auf. 
Nach anderthalb bis zwei Jahren, meist 
nach der Geburt eines Kindes, beginnt 
sie, nach ihrer eigenen Entscheidung, 
diese Restriktionen zu lockern. Zum 
einen wendet sie beim Essen ihm zwar 
den Rücken zu, hält aber nicht mehr das 
Tuch vor den Mund, zum anderen be- 
ginnt sie flüsternd mit ihm zu sprechen. 
Diese Verhaltensweisen hält sie möglicher 
weise bis an sein Lebensende bei. Dies 
wird der Schwiegertochter als besonders 
respektvolles und zurückhaltendes Be- 
nehmen hoch angerechnet. Doch kann 
ein Schwiegervater auch seinerseits ein 
vertrauteres Verhältnis zu seiner Schwie- 
gertochter herstellen, indem er nicht 
mehr nur Befehle an sie richtet, sondern 
Gespräche mit ihr beginnt. 
Annähernd gleichaltrige Brüder ihres 
Mannes muß sie kurze Zeit meiden, wird 
jedoch schneller ein entspanntes Verhält- 
nis zu ihnen haben. Ist ein Bruder ihres 
Mannes sehr viel jünger, wird sie ihn wie 
einen jüngeren Bruder behandeln. 
Die Beziehung zu ihren eigenen Brü- 
dern ist, neben der Beziehung zu ihrem 
Mann, die vertrauteste, die eine Frau zu 
Männern überhaupt unterhält. Dieses 
Verhältnis bleibt auch nach der Heirat 
der Frau von großer Bedeutung. Bei 
einem Bruch mit der neuen Familie sind 
es ihre Brüder und ihr Vater, die sie er- 
neut schützen werden. Zu ihnen kehrt 
sie nach einer Scheidung zurück. Der 
Übergang von ihrer Ursprungsfamilie 
zur Familie ihres Mannes, den die patri- 
lokale Residenzregel erfordert, kann also 
unter bestimmten Umständen rückgängig 
gemacht werden. Eine Frau wird in die- 
ser Hinsicht nie ohne Männer sein. 
Die Notwendigkeit, mit der Heirat neue 
soziale Beziehungen anzuknüpfen, etwa 
mit Nachbarinnen, bleibt auch dann be- 
stehen, wenn, wie in Anatolien zuneh- 
mend üblich, Söhne sich von ihren Eltern 
nach der Heirat trennen und die Resi- 
denz neolokal wird. Die Einordnung in 
die familiäre Hierarchie kann jedoch bei 
getrennten Haushalten ohne einige der 
beschriebenen, differenzierten Verhal- 
tensregulierungen, die der alltägliche 
Umgang und die gemeinsamen Tätigkei- 
ten im selben Haus erfordern, stattfin- 
den. 
Die beschriebene Aufhebung der offe- 
nen Vertrautheit und Intimität unter 
Frauen durch die Anwesenheit von Män- 
nern maa den Eindruck erwecken. als 
sei sie das Ergebnis einer Unterwerfung 
der Frauen unter Restriktionen, die ih- 
nen von außen auferlegt werden. Dem- 
gegenüber hekamen wir, soweit wir das 
Leben der Frauen teilen konnten, den 
Eindruck vermittelt, daß, auf der Ebene 
der psychologischen Dispositionen und 
Affekte, von den Frauen die Aufhebung 
von Vermeidung und Respekt gegenüber 
Männern als in höchstem Maße bedroh- 
lich erlebt und daher, jedenfalls unter 
den derzeitigen Bedingungen in anatoli- 
schen Dörfern, nicht angestrebt wird. 
Angesichts dessen ist die Aufrechterhal 
tung von Grenzen und der Segregation 
vielleicht für uns irritierend, offenbar 
jedoch nicht für türkische Frauen. 
Zusammenfassend kann man also 
feststellen, daß die Beziehungen unter 
den Frauen grundsätzlich nach dem 
Modell der Beziehung zwischen Schwe- 
stern geformt sind, außerhalb der Fa- 
milie nur durch das relative Alter und 
zwischen den Frauen eines Haushaltes 
durch den Generationsabstand modifi- 
ziert werden. Dagegen werden die grund- 
sätzlich von Respekt und Vermeidung 
bestimmten Verhältnisse zu Männern 
im einzelnen durch Abstammung, Ge- 
schwisterschaft und Heirat mit Vertraut- 
heit gefärbt. Die geschilderte Abgren- 
zung von Räumen, ihrer Aufteilung und 
die kontexthezogene Errichtung sozialer 
Grenzen in ihnen, hat hier ihren Ur- 
sprung. Im gesellschaftlichen Gebrauch, 
der von Räumen gemacht wird, stellen 
sich soziale Abgrenzungen und Verbin- 
dungen dar und werden durch die Nut- 
zung von Räumen zugleich immer wie- 
der erneut geschaffen. 
Andrea Petersen 
Der Brunnen und das 
Backhaus 
Der Alltag von Frauen in einem anatolischen Dorf 
Ich will anhand eines Tagesablaufes den 
Alltag dreier Frauen bzw. Mädchen dar- 
stellen, um einen Eindruck zu vermitteln, 
an welchen Orten sich die Frauen aufhal- 
ten, welche Tätigkeiten sie verrichten 
und mit welchen Personen sie haupt- 
sächlich zusammentreffen. Ich habe eine 
typische Familie ausgewählt, deren weib- 
liche Mitglieder sich in drei unterschied- 
lichen Lebensstadien befinden: das unver 
heiratete Mädchen, die jungverheiratete, 
im Haus der Schwiegereltern wohnende 
Frau, und die ältere Frau, deren Mann 
Haushaltsvorstand ist und die selbst ver- 
heiratete Söhne und Schwiegertöchter 
hat. 
In dem von mir beschriebenen Haus- 
halt leben sechs Personen. Hayriye (42 J.) 
mit ihrem Mann Rifat (48 J.), die zwölf- 
jährige Tochter Leyla und der seit zwei 
Jahren verheiratete Sohn Hüseyin (22 J.) 
mit seiner zwanzigjährigen Frau Safiye 
und ihrem ein Jahr alten Sohn Altan. 
fest eingeschnürt ist, daß es nur den 
Kopf ein wenig bewegen kann, auszu- 
wickeln. Sie legt das Kind auf den Diwan, 
nimmt die innere, feuchte Lage der Tü- 
cher, in der sich feingesiebter Sand be- 
findet, aus der Wiege heraus und gibt 
die Tücher ihrer Tochter Leyla, die sie 
am Brunnen auswaschen soll. Leyla sta- 
pelt gerade die Matratzen und Decken, die 
zum Schlafen auf dem Diwan und Fuß- 
boden ausgebreitet waren, an einem 
Ende des Diwans auf. Dann geht sie mit 
den Tüchern und zwei Eimern zum Brun- 
nen. Hayriye beginnt in der Küche, das 
Frühstück vorzubereiten, macht Feuer, 
breitet ein Tuch auf der Erde aus, stellt 
den flachen Tisch, der an der Wand hängt, 
darauf, legt ein paar Kissen drumherum 
und erwärmt das Brot über dem Feuer. 
Safiye treibt inzwischen das Vieh aus dem 
Stall zum Brunnen. Leyla bringt es von 
dort zum Dorfrand und übergibt es dem 
Dorfhirten. Als sie zurückkommt, sitzen 
Hayriye und Safiye, die ihr Kind stillt, 
beim Feuer und unterhalten sich über 
Safiyes Kreuzschmerzen. „Bu günler 
gelip gecerler” ‚Diese Tage kommen 
und vergehen” —, sagt Hayriye, „hayat 
böyle” — „So ist das Leben.” 
Ihr Mann Rifat betritt die Küche, Sa- 
fiye dreht sich sofort um, nimmt das 
Kind von der Brust, zieht ihr Kopftuch 
bis über den Mund hoch und sagt kein 
Wort mehr, solange ihr Schwiegervater 
im Raum ist. Auch Hüseyin kommt da- 
zu und die Familie beginnt zu frühstücken. 
Safiye hält beim Essen einen Zipfel ihres 
Kopftuches so vors Gesicht, daß ihr 
Schwiegervater ihren Mund nicht sehen 
kann. Rifat weist seinen Sohn an, wäh- 
rend des Tages im Stall die Tür und die 
schadhaften Stellen im Dach zu reparie- 
ren und fordert seine Frau auf, ihm 
R A 2 
Safiye Hüseyin Leyla 
Altan A 
il - = verheiratet 
———J = Geschwister 
A a 
Hayriye, Safiye und Leyla stehen um 
fünf Uhr auf. Safiye begibt sich sofort 
in den Stall, um die Kühe zu melken. 
Diese Arbeit wird sie eineinhalb Stunden 
in Anspruch nehmen. Hayriye versucht 
ohne Erfolg, ihr in der Wiege liegendes 
schreiendes Enkelkind zu beruhigen. Also 
fängt sie an, das Kind aus den Tüchern, 
in die es vom Hals bis zu den Füßen so 
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