dem sie nicht verwandt ist, erwartet nicht
nur, daß ihm seine Schwiegertochter saygi
in der extremsten Ausprügung entgegen-
bringt, ihm gegenüber also respektvoll
und zurückhaltend ist, sondern auch,
daß sie ihm absolut gehorcht und, der
räumlichen Nähe wegen, ihn in verschie-
denen Formen meidet, bzw. sich ihm
gegenüber schamhaft verhält. Sie spricht
nicht mit ihm oder in seiner Anwesen-
heit, sondern nur auf dem Umweg über
die Schwiegermutter. Während er sich
im Raum aufhält, trägt sie immer das
Kopftuch über dem Mund und hält es
auch z.B. während des Essens so, daß
ihr Mund für ihn nicht sichtbar ist. Sie
hält sich nur an dem ihr angemessenen
Ort, nahe der Türe oder dem Ofen, auf.
Nach anderthalb bis zwei Jahren, meist
nach der Geburt eines Kindes, beginnt
sie, nach ihrer eigenen Entscheidung,
diese Restriktionen zu lockern. Zum
einen wendet sie beim Essen ihm zwar
den Rücken zu, hält aber nicht mehr das
Tuch vor den Mund, zum anderen be-
ginnt sie flüsternd mit ihm zu sprechen.
Diese Verhaltensweisen hält sie möglicher
weise bis an sein Lebensende bei. Dies
wird der Schwiegertochter als besonders
respektvolles und zurückhaltendes Be-
nehmen hoch angerechnet. Doch kann
ein Schwiegervater auch seinerseits ein
vertrauteres Verhältnis zu seiner Schwie-
gertochter herstellen, indem er nicht
mehr nur Befehle an sie richtet, sondern
Gespräche mit ihr beginnt.
Annähernd gleichaltrige Brüder ihres
Mannes muß sie kurze Zeit meiden, wird
jedoch schneller ein entspanntes Verhält-
nis zu ihnen haben. Ist ein Bruder ihres
Mannes sehr viel jünger, wird sie ihn wie
einen jüngeren Bruder behandeln.
Die Beziehung zu ihren eigenen Brü-
dern ist, neben der Beziehung zu ihrem
Mann, die vertrauteste, die eine Frau zu
Männern überhaupt unterhält. Dieses
Verhältnis bleibt auch nach der Heirat
der Frau von großer Bedeutung. Bei
einem Bruch mit der neuen Familie sind
es ihre Brüder und ihr Vater, die sie er-
neut schützen werden. Zu ihnen kehrt
sie nach einer Scheidung zurück. Der
Übergang von ihrer Ursprungsfamilie
zur Familie ihres Mannes, den die patri-
lokale Residenzregel erfordert, kann also
unter bestimmten Umständen rückgängig
gemacht werden. Eine Frau wird in die-
ser Hinsicht nie ohne Männer sein.
Die Notwendigkeit, mit der Heirat neue
soziale Beziehungen anzuknüpfen, etwa
mit Nachbarinnen, bleibt auch dann be-
stehen, wenn, wie in Anatolien zuneh-
mend üblich, Söhne sich von ihren Eltern
nach der Heirat trennen und die Resi-
denz neolokal wird. Die Einordnung in
die familiäre Hierarchie kann jedoch bei
getrennten Haushalten ohne einige der
beschriebenen, differenzierten Verhal-
tensregulierungen, die der alltägliche
Umgang und die gemeinsamen Tätigkei-
ten im selben Haus erfordern, stattfin-
den.
Die beschriebene Aufhebung der offe-
nen Vertrautheit und Intimität unter
Frauen durch die Anwesenheit von Män-
nern maa den Eindruck erwecken. als
sei sie das Ergebnis einer Unterwerfung
der Frauen unter Restriktionen, die ih-
nen von außen auferlegt werden. Dem-
gegenüber hekamen wir, soweit wir das
Leben der Frauen teilen konnten, den
Eindruck vermittelt, daß, auf der Ebene
der psychologischen Dispositionen und
Affekte, von den Frauen die Aufhebung
von Vermeidung und Respekt gegenüber
Männern als in höchstem Maße bedroh-
lich erlebt und daher, jedenfalls unter
den derzeitigen Bedingungen in anatoli-
schen Dörfern, nicht angestrebt wird.
Angesichts dessen ist die Aufrechterhal
tung von Grenzen und der Segregation
vielleicht für uns irritierend, offenbar
jedoch nicht für türkische Frauen.
Zusammenfassend kann man also
feststellen, daß die Beziehungen unter
den Frauen grundsätzlich nach dem
Modell der Beziehung zwischen Schwe-
stern geformt sind, außerhalb der Fa-
milie nur durch das relative Alter und
zwischen den Frauen eines Haushaltes
durch den Generationsabstand modifi-
ziert werden. Dagegen werden die grund-
sätzlich von Respekt und Vermeidung
bestimmten Verhältnisse zu Männern
im einzelnen durch Abstammung, Ge-
schwisterschaft und Heirat mit Vertraut-
heit gefärbt. Die geschilderte Abgren-
zung von Räumen, ihrer Aufteilung und
die kontexthezogene Errichtung sozialer
Grenzen in ihnen, hat hier ihren Ur-
sprung. Im gesellschaftlichen Gebrauch,
der von Räumen gemacht wird, stellen
sich soziale Abgrenzungen und Verbin-
dungen dar und werden durch die Nut-
zung von Räumen zugleich immer wie-
der erneut geschaffen.
Andrea Petersen
Der Brunnen und das
Backhaus
Der Alltag von Frauen in einem anatolischen Dorf
Ich will anhand eines Tagesablaufes den
Alltag dreier Frauen bzw. Mädchen dar-
stellen, um einen Eindruck zu vermitteln,
an welchen Orten sich die Frauen aufhal-
ten, welche Tätigkeiten sie verrichten
und mit welchen Personen sie haupt-
sächlich zusammentreffen. Ich habe eine
typische Familie ausgewählt, deren weib-
liche Mitglieder sich in drei unterschied-
lichen Lebensstadien befinden: das unver
heiratete Mädchen, die jungverheiratete,
im Haus der Schwiegereltern wohnende
Frau, und die ältere Frau, deren Mann
Haushaltsvorstand ist und die selbst ver-
heiratete Söhne und Schwiegertöchter
hat.
In dem von mir beschriebenen Haus-
halt leben sechs Personen. Hayriye (42 J.)
mit ihrem Mann Rifat (48 J.), die zwölf-
jährige Tochter Leyla und der seit zwei
Jahren verheiratete Sohn Hüseyin (22 J.)
mit seiner zwanzigjährigen Frau Safiye
und ihrem ein Jahr alten Sohn Altan.
fest eingeschnürt ist, daß es nur den
Kopf ein wenig bewegen kann, auszu-
wickeln. Sie legt das Kind auf den Diwan,
nimmt die innere, feuchte Lage der Tü-
cher, in der sich feingesiebter Sand be-
findet, aus der Wiege heraus und gibt
die Tücher ihrer Tochter Leyla, die sie
am Brunnen auswaschen soll. Leyla sta-
pelt gerade die Matratzen und Decken, die
zum Schlafen auf dem Diwan und Fuß-
boden ausgebreitet waren, an einem
Ende des Diwans auf. Dann geht sie mit
den Tüchern und zwei Eimern zum Brun-
nen. Hayriye beginnt in der Küche, das
Frühstück vorzubereiten, macht Feuer,
breitet ein Tuch auf der Erde aus, stellt
den flachen Tisch, der an der Wand hängt,
darauf, legt ein paar Kissen drumherum
und erwärmt das Brot über dem Feuer.
Safiye treibt inzwischen das Vieh aus dem
Stall zum Brunnen. Leyla bringt es von
dort zum Dorfrand und übergibt es dem
Dorfhirten. Als sie zurückkommt, sitzen
Hayriye und Safiye, die ihr Kind stillt,
beim Feuer und unterhalten sich über
Safiyes Kreuzschmerzen. „Bu günler
gelip gecerler” ‚Diese Tage kommen
und vergehen” —, sagt Hayriye, „hayat
böyle” — „So ist das Leben.”
Ihr Mann Rifat betritt die Küche, Sa-
fiye dreht sich sofort um, nimmt das
Kind von der Brust, zieht ihr Kopftuch
bis über den Mund hoch und sagt kein
Wort mehr, solange ihr Schwiegervater
im Raum ist. Auch Hüseyin kommt da-
zu und die Familie beginnt zu frühstücken.
Safiye hält beim Essen einen Zipfel ihres
Kopftuches so vors Gesicht, daß ihr
Schwiegervater ihren Mund nicht sehen
kann. Rifat weist seinen Sohn an, wäh-
rend des Tages im Stall die Tür und die
schadhaften Stellen im Dach zu reparie-
ren und fordert seine Frau auf, ihm
R A 2
Safiye Hüseyin Leyla
Altan A
il - = verheiratet
———J = Geschwister
A a
Hayriye, Safiye und Leyla stehen um
fünf Uhr auf. Safiye begibt sich sofort
in den Stall, um die Kühe zu melken.
Diese Arbeit wird sie eineinhalb Stunden
in Anspruch nehmen. Hayriye versucht
ohne Erfolg, ihr in der Wiege liegendes
schreiendes Enkelkind zu beruhigen. Also
fängt sie an, das Kind aus den Tüchern,
in die es vom Hals bis zu den Füßen so
2Q