Werner Schiffauer
Die Darstellung räumlicher
und sozialer Grenzen im
Gastritual
Der Fremde, der einen anatolischen Bauern
besucht, zieht beim Betreten des Hauses
seine Schuhe aus und begibt sich zum
„oda”, dem Zimmer, in dem Gäste emp-
fangen werden. Er tritt ein und grüßt die
anwesenden Männer: „‚Se/amülaleykum”,
sie antworten: ‘,a/leykum selam”. Der
Gastgeber erhebt sich, gibt dem Gast die
Hand: „Hos geldin” — „Du kommst zur
Freude” und der Gast antwortet: „Hos
bulduk” — ‚‚\ch habe die Freude gefun-
den”.1 Auch die anderen Gäste haben
sich erhoben und bieten dem Fremden
einen Platz auf dem Divan an, der seiner
Stellung entspricht. Die besten Plätze
sind Eckplätze an der Wand. So gruppie-
ren sich die Männer mit dem Kommen
jedes neuen Gastes um, und ihre Sitzord-
nung gibt ihre Rangordnung nach Alter
und Einfluß wieder, dem Fremden aller-
dings wird ein besonderer Platz zugestan-
den. Wenn alle wieder Platz genommen
haben, beginnt eine neue Runde der Be-
grüßung. Nacheinander richtet sich jeder
der Männer leicht auf, legt die Hand ans
Herz und grüßt den Fremden: „„‚Merhaba,
Ali Bey”, und dieser antwortet: ‚„‚Merhaba
Yusuf Bey”. Der Gastgeber bietet ihm
nun Kölnisch Wasser an, der Gast läßt
es sich in die hohle Hand träufeln und
verteilt es über Stirne, Haare und Nacken.
Bonbons und Zigaretten werden angebo-
ten. Etwas später wird Tee gereicht,
auch hier bekommt der höchste Gast als
erster, dann die anderen entsprechend ih-
rer Bedeutung. Die Regel verlangt vom
Gast nach zwei Gläsern den Löffel quer
über das Glas zu legen und damit zu sym-
bolisieren, daß es genug sei.
Dann wird das Essen gebracht. Die
Männer setzen sich um ein Tuch auf dem
Boden, bedecken mit ihm die Füße. Der
Haushaltsvorstand verteilt Brot und stellt
nacheinander die Schüsseln mit dem Es-
sen in die Mitte des Tuchs. Der Besuch
endet damit, daß der Gast um die Erlaub-
nis bittet, gehen zu dürfen. Der Gastge-
ber begleitet ihn bis zur Tür des Hauses,
einen Dorffremden bis zur Dorgrenze.
Dort verabschiedet sich der Gast mit:
„Allah ismarladyk” — ‚„‚Gott befohlen”
und der Gastgeber wünscht ihm: „‚Güle,
güle”, daß alles lachend. mit Lachen sich
vollende.
Das Gastritual dient der Bewältigung
des Problems, das die Anwesenheit eines
Fremden im eigenen Bereich schafft,
eines Problems, das seine Ursache in der
strikten Trennung hat, die die bäuerliche
türkische Kultur zwischen dem Bereich
Innen, dem Bereich der Familie (aile),
räumlich dem des Hauses, und dem Be-
reich Außen, dem Bereich der umma, der
Gemeinde der Gläubigen trifft. Diese
Trennung der Bereiche wird im Begriff
der Ehre (namus) gedacht. Die Ehre eines
Mannes wird befleckt. wenn jemand die
Grenzen seiner Sphäre verletzt, sich den
Frauen des Hauses nähert oder jemanden
der zum Haus gehört, angreift. Die Ehre
gebietet dann das Einstehen füreinander,
die Vergeltung.
Die Bedeutung dieses Ehrbegriffs er-
schließt sich, wenn man die Stellung der
Familie im Dorf betrachtet.
Sie ist dort eine von anderen Familien
weitgehend unabhängige Produktions-
und Konsumtionsgemeinschaft, die Be-
ziehungen in ihr sind dauerhaft, von Soli-
darität und Autorität geprägt. Im Gegen-
satz dazu sind die Beziehungen nach
Außen ständig im Fluß, man achtet auf
Gleichheit und strikte Reziprozität. Den
ganz Fremden kann man betrügen und
muß damit rechnen, von ihm betrogen zu
werden. Die staatlichen Instanzen sind
schwach repräsentiert, nur bei seiner Fa-
milie findet der Einzelne Schutz und Rück
halt. Der Ehrbegriff beschreibt diese Er-
Fahrung einer Gesellschaft, die auf dem
Prinzip der Gegenseitigkeit beruht, in der
das Einstehen für die eigene Gruppe le-
bensnotwendig ist.
Der Bereich des Innen, der Familie, ist
also klar von dem Außen geschieden.
Wenn die Grenze verletzt wird, sagt man:
Die Ehre ist „befleckt” (/ekelenmis), be-
nutzt also die Metapher des Schmutzes,
um das Überschreiten der Bereiche, ihr
Verwischen auszudrücken. Auch Schmutz
ist Ja ein Verwischen von Grenzen, der
Staub auf der Straße stört uns nicht, so-
lange er dort bleibt und nicht in die Kü-
che getragen wird, d.h. solange die Berei-
che säuberlich geschieden sind.2
Daß die Aufnahme des Fremden in den
eigenen Bereich ein Problem ist, wird
eutlich. Auch der Gast überschreitet die
Grenze von Außen nach Innen. Er ist der
Fremde im eigenen Haus, im eigenen Be-
reich, er befindet sich an einem Ort, wo
er im Grunde nicht hingehört, eine Eigen-
schaft, die er mit dem Schmutz teilt. Rei-
nigungsriten sind nötig. Der Gast zieht
beim Betreten des Hauses die Schuhe aus,
mit denen er tatsächlich und metapho-
risch das Haus beschmutzen würde. Er
bekommt Kölnisch Wasser auf die Hand
geträufelt und reinigt sich Stirne, Nacken
und Haare. Die eigentümliche Affinität
von Schmutz und Sakralem,3 die beide
jenseits der menschlichen Ordnung liegen,
mag begründen, daß diese Riten religiösen
Riten ähneln, dem Ausziehen der Schuhe
beim Betreten der Moschee und den
Waschungen vor dem Gebet. Sie mag
auch begründen, warum Gastfreundschaft
als heilig gilt.4
Die Reinigungsrituale drücken einer-
seits die Grenze zwischen Außen und In-
nen aus, andererseits wird die Grenze je-
desmal, wenn das Ritual praktiziert wird,
wieder ausgedrückt und neu errichtet.
Das Ritual bestimmt den Bereich des Hau-
ses als einen besonderen, abgeschiedenen
Bereich. Es ist auffallend, wie schnell ge-
rade diese Aspekte des Gastrituals im
städtischen Kontext beliebig werden,
zum Brauch werden, den man zwar prak-
tizieren, ebensogut aber auch fallen las-
sen kann.
Tatsächlich verliert im städtischen Kon-
text das Außen, das Fremde viel von sei-
ner Bedrohlichkeit. Dem Fremden steht
man nicht mehr in einer von Gegenseitig-
keit bestimmten Beziehung gegenüber,
sondern ist mit ihm durch Klassensitua-
tion und funktionale Abhängigkeit ver-
bunden. Damit wird die Schärfe der
Grenze hinfällig und Reinigungsrituale
nich tmehr unbedingt erforderlich.
Die asymmetrischen Begrüßungsfor-
meln definieren eindeutig die Situation,
stellen klar, wer Gastgeber und wer Gast
ist. Die Regel verlangt, daß diejenigen,
die zu einer Gruppe hinzustoßen, zuerst
grüßen, unabhängig von ihrem Alter und
Rang. Sie grüßen: „Selam aleykum”, man
antwortet: „A/eykum selam”, und ein
zweites Mal wird die respektive Position
geklärt, wenn der Gastgeber sagt: „„Hos
geldin” — ‚„‚Du kommst zur Freude” und
sie antworten: „Hos bulduk” — ‚Wir ha-
ben die Freude gefunden”.
Die Bedeutung dieser Formeln wurde
mir in einer Situation klar, die nicht so
eindeutig durch den räumlichen Kontext
definiert war, wie die oben beschriebene.
Ich hatte Gäste in dem von mir im Dorf
gemieteten Haus eingeladen und empfing
sie, wie es vom Gastgeber verlangt wird,
mit: „Hos geldin”. — Sie zögerten und
antworteten dann, statt mit „„Hos bulduk”
— „Ich habe die Freude gefunden”, mit
einer Wiederholung der ersten Phrase, sag-
ten: „Auch du kommst zur Freude’ und
brachten damit zum Ausdruck, daß nicht
sie, sondern ich der eigentliche Gast des
Dorfes sei. Auch im Restaurant wird:
streng darauf geachtet, wer der Gastgeber
und wer der Gast ist. Diese Unterschei-
dung ist bedeutsam, denn im Gastritual
wird die egalitäre, immer aber auch von
Konflikt bedrohte Beziehung zweier Män-
ner temporär umgewandelt in die unglei-
che Beziehung von Gastgeber und Gast,
in der Konflikte ausgeschlossen sind.
Der Gastgeber darf bewirten, er bringt
den Gast in seine Schuld (/borc) und ge-
winnt an Ansehen (seref). Beziehungen
zwischen Gleichen werden geschlossen
durch temporäre Ungleichheit. Den Tee,
die Zigaretten oder das Essen eines Man-
nes abzulehnen, hieße eine Beziehung zu
ihm abzulehnen.6 „Man kann sein Essen
nicht berühren”, sagt man über jemand,
zu dem man jeden Kontakt abgebrochen
hat. Es wird darauf geachtet, daß jedem
Besuch ein Gegenbesuch folgt. so daß je-
der Gastgeber ist. 7
Wenn der Gast auch dem Gastgeber
verpflichtet ist, so wird ihm doch gleich-
zeitig Achtung eingeräumt. Die Stellung
des Gastes ist bestimmt von einer grund-
sätzlichen Ambivalenz. Sie ist weder
gleich, er läßt sich ja bewirten und
steht damit in Schuld, noch ist er un-
gleich, wie etwa die Beziehung zwischen
Vater und Sohn ungleich ist. Die Ambi-
valenz wird auch ausgedrückt, indem
sowohl asymmetrische Bearüßungsfor-
AN