Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1979, Jg. 11, H. 43-47, [48])

Werner Schiffauer 
Die Darstellung räumlicher 
und sozialer Grenzen im 
Gastritual 
Der Fremde, der einen anatolischen Bauern 
besucht, zieht beim Betreten des Hauses 
seine Schuhe aus und begibt sich zum 
„oda”, dem Zimmer, in dem Gäste emp- 
fangen werden. Er tritt ein und grüßt die 
anwesenden Männer: „‚Se/amülaleykum”, 
sie antworten: ‘,a/leykum selam”. Der 
Gastgeber erhebt sich, gibt dem Gast die 
Hand: „Hos geldin” — „Du kommst zur 
Freude” und der Gast antwortet: „Hos 
bulduk” — ‚‚\ch habe die Freude gefun- 
den”.1 Auch die anderen Gäste haben 
sich erhoben und bieten dem Fremden 
einen Platz auf dem Divan an, der seiner 
Stellung entspricht. Die besten Plätze 
sind Eckplätze an der Wand. So gruppie- 
ren sich die Männer mit dem Kommen 
jedes neuen Gastes um, und ihre Sitzord- 
nung gibt ihre Rangordnung nach Alter 
und Einfluß wieder, dem Fremden aller- 
dings wird ein besonderer Platz zugestan- 
den. Wenn alle wieder Platz genommen 
haben, beginnt eine neue Runde der Be- 
grüßung. Nacheinander richtet sich jeder 
der Männer leicht auf, legt die Hand ans 
Herz und grüßt den Fremden: „„‚Merhaba, 
Ali Bey”, und dieser antwortet: ‚„‚Merhaba 
Yusuf Bey”. Der Gastgeber bietet ihm 
nun Kölnisch Wasser an, der Gast läßt 
es sich in die hohle Hand träufeln und 
verteilt es über Stirne, Haare und Nacken. 
Bonbons und Zigaretten werden angebo- 
ten. Etwas später wird Tee gereicht, 
auch hier bekommt der höchste Gast als 
erster, dann die anderen entsprechend ih- 
rer Bedeutung. Die Regel verlangt vom 
Gast nach zwei Gläsern den Löffel quer 
über das Glas zu legen und damit zu sym- 
bolisieren, daß es genug sei. 
Dann wird das Essen gebracht. Die 
Männer setzen sich um ein Tuch auf dem 
Boden, bedecken mit ihm die Füße. Der 
Haushaltsvorstand verteilt Brot und stellt 
nacheinander die Schüsseln mit dem Es- 
sen in die Mitte des Tuchs. Der Besuch 
endet damit, daß der Gast um die Erlaub- 
nis bittet, gehen zu dürfen. Der Gastge- 
ber begleitet ihn bis zur Tür des Hauses, 
einen Dorffremden bis zur Dorgrenze. 
Dort verabschiedet sich der Gast mit: 
„Allah ismarladyk” — ‚„‚Gott befohlen” 
und der Gastgeber wünscht ihm: „‚Güle, 
güle”, daß alles lachend. mit Lachen sich 
vollende. 
Das Gastritual dient der Bewältigung 
des Problems, das die Anwesenheit eines 
Fremden im eigenen Bereich schafft, 
eines Problems, das seine Ursache in der 
strikten Trennung hat, die die bäuerliche 
türkische Kultur zwischen dem Bereich 
Innen, dem Bereich der Familie (aile), 
räumlich dem des Hauses, und dem Be- 
reich Außen, dem Bereich der umma, der 
Gemeinde der Gläubigen trifft. Diese 
Trennung der Bereiche wird im Begriff 
der Ehre (namus) gedacht. Die Ehre eines 
Mannes wird befleckt. wenn jemand die 
Grenzen seiner Sphäre verletzt, sich den 
Frauen des Hauses nähert oder jemanden 
der zum Haus gehört, angreift. Die Ehre 
gebietet dann das Einstehen füreinander, 
die Vergeltung. 
Die Bedeutung dieses Ehrbegriffs er- 
schließt sich, wenn man die Stellung der 
Familie im Dorf betrachtet. 
Sie ist dort eine von anderen Familien 
weitgehend unabhängige Produktions- 
und Konsumtionsgemeinschaft, die Be- 
ziehungen in ihr sind dauerhaft, von Soli- 
darität und Autorität geprägt. Im Gegen- 
satz dazu sind die Beziehungen nach 
Außen ständig im Fluß, man achtet auf 
Gleichheit und strikte Reziprozität. Den 
ganz Fremden kann man betrügen und 
muß damit rechnen, von ihm betrogen zu 
werden. Die staatlichen Instanzen sind 
schwach repräsentiert, nur bei seiner Fa- 
milie findet der Einzelne Schutz und Rück 
halt. Der Ehrbegriff beschreibt diese Er- 
Fahrung einer Gesellschaft, die auf dem 
Prinzip der Gegenseitigkeit beruht, in der 
das Einstehen für die eigene Gruppe le- 
bensnotwendig ist. 
Der Bereich des Innen, der Familie, ist 
also klar von dem Außen geschieden. 
Wenn die Grenze verletzt wird, sagt man: 
Die Ehre ist „befleckt” (/ekelenmis), be- 
nutzt also die Metapher des Schmutzes, 
um das Überschreiten der Bereiche, ihr 
Verwischen auszudrücken. Auch Schmutz 
ist Ja ein Verwischen von Grenzen, der 
Staub auf der Straße stört uns nicht, so- 
lange er dort bleibt und nicht in die Kü- 
che getragen wird, d.h. solange die Berei- 
che säuberlich geschieden sind.2 
Daß die Aufnahme des Fremden in den 
eigenen Bereich ein Problem ist, wird 
eutlich. Auch der Gast überschreitet die 
Grenze von Außen nach Innen. Er ist der 
Fremde im eigenen Haus, im eigenen Be- 
reich, er befindet sich an einem Ort, wo 
er im Grunde nicht hingehört, eine Eigen- 
schaft, die er mit dem Schmutz teilt. Rei- 
nigungsriten sind nötig. Der Gast zieht 
beim Betreten des Hauses die Schuhe aus, 
mit denen er tatsächlich und metapho- 
risch das Haus beschmutzen würde. Er 
bekommt Kölnisch Wasser auf die Hand 
geträufelt und reinigt sich Stirne, Nacken 
und Haare. Die eigentümliche Affinität 
von Schmutz und Sakralem,3 die beide 
jenseits der menschlichen Ordnung liegen, 
mag begründen, daß diese Riten religiösen 
Riten ähneln, dem Ausziehen der Schuhe 
beim Betreten der Moschee und den 
Waschungen vor dem Gebet. Sie mag 
auch begründen, warum Gastfreundschaft 
als heilig gilt.4 
Die Reinigungsrituale drücken einer- 
seits die Grenze zwischen Außen und In- 
nen aus, andererseits wird die Grenze je- 
desmal, wenn das Ritual praktiziert wird, 
wieder ausgedrückt und neu errichtet. 
Das Ritual bestimmt den Bereich des Hau- 
ses als einen besonderen, abgeschiedenen 
Bereich. Es ist auffallend, wie schnell ge- 
rade diese Aspekte des Gastrituals im 
städtischen Kontext beliebig werden, 
zum Brauch werden, den man zwar prak- 
tizieren, ebensogut aber auch fallen las- 
sen kann. 
Tatsächlich verliert im städtischen Kon- 
text das Außen, das Fremde viel von sei- 
ner Bedrohlichkeit. Dem Fremden steht 
man nicht mehr in einer von Gegenseitig- 
keit bestimmten Beziehung gegenüber, 
sondern ist mit ihm durch Klassensitua- 
tion und funktionale Abhängigkeit ver- 
bunden. Damit wird die Schärfe der 
Grenze hinfällig und Reinigungsrituale 
nich tmehr unbedingt erforderlich. 
Die asymmetrischen Begrüßungsfor- 
meln definieren eindeutig die Situation, 
stellen klar, wer Gastgeber und wer Gast 
ist. Die Regel verlangt, daß diejenigen, 
die zu einer Gruppe hinzustoßen, zuerst 
grüßen, unabhängig von ihrem Alter und 
Rang. Sie grüßen: „Selam aleykum”, man 
antwortet: „A/eykum selam”, und ein 
zweites Mal wird die respektive Position 
geklärt, wenn der Gastgeber sagt: „„Hos 
geldin” — ‚„‚Du kommst zur Freude” und 
sie antworten: „Hos bulduk” — ‚Wir ha- 
ben die Freude gefunden”. 
Die Bedeutung dieser Formeln wurde 
mir in einer Situation klar, die nicht so 
eindeutig durch den räumlichen Kontext 
definiert war, wie die oben beschriebene. 
Ich hatte Gäste in dem von mir im Dorf 
gemieteten Haus eingeladen und empfing 
sie, wie es vom Gastgeber verlangt wird, 
mit: „Hos geldin”. — Sie zögerten und 
antworteten dann, statt mit „„Hos bulduk” 
— „Ich habe die Freude gefunden”, mit 
einer Wiederholung der ersten Phrase, sag- 
ten: „Auch du kommst zur Freude’ und 
brachten damit zum Ausdruck, daß nicht 
sie, sondern ich der eigentliche Gast des 
Dorfes sei. Auch im Restaurant wird: 
streng darauf geachtet, wer der Gastgeber 
und wer der Gast ist. Diese Unterschei- 
dung ist bedeutsam, denn im Gastritual 
wird die egalitäre, immer aber auch von 
Konflikt bedrohte Beziehung zweier Män- 
ner temporär umgewandelt in die unglei- 
che Beziehung von Gastgeber und Gast, 
in der Konflikte ausgeschlossen sind. 
Der Gastgeber darf bewirten, er bringt 
den Gast in seine Schuld (/borc) und ge- 
winnt an Ansehen (seref). Beziehungen 
zwischen Gleichen werden geschlossen 
durch temporäre Ungleichheit. Den Tee, 
die Zigaretten oder das Essen eines Man- 
nes abzulehnen, hieße eine Beziehung zu 
ihm abzulehnen.6 „Man kann sein Essen 
nicht berühren”, sagt man über jemand, 
zu dem man jeden Kontakt abgebrochen 
hat. Es wird darauf geachtet, daß jedem 
Besuch ein Gegenbesuch folgt. so daß je- 
der Gastgeber ist. 7 
Wenn der Gast auch dem Gastgeber 
verpflichtet ist, so wird ihm doch gleich- 
zeitig Achtung eingeräumt. Die Stellung 
des Gastes ist bestimmt von einer grund- 
sätzlichen Ambivalenz. Sie ist weder 
gleich, er läßt sich ja bewirten und 
steht damit in Schuld, noch ist er un- 
gleich, wie etwa die Beziehung zwischen 
Vater und Sohn ungleich ist. Die Ambi- 
valenz wird auch ausgedrückt, indem 
sowohl asymmetrische Bearüßungsfor- 
AN
	        

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