Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1979, Jg. 11, H. 43-47, [48])

meln als auch symmetrische — das Mer- 
haba — ausgetauscht werden. 
Wenn der Gast das Haus betritt, wer- 
den die Grenzen, die zwischen dem In- 
nen und Außen gezogen sind, im Haus 
selber wieder errichtet. Je fremder der 
Gast, desto höher ist der Rang, der ihm 
eingeräumt wird, desto rigider wird aber 
auch die Grenze im Haus gezogen. Am 
deutlichsten ist dies am Essen beobacht- 
bar. Der Fremde wird ausschließlich im 
„oda” empfangen, dem öffentlichen, 
männlichen Teil des Hauses. Er bekommt 
die Frauen, die sich in die Küche, den 
weiblichen Teil, zurückziehen und dort 
das Essen zubereiten, kaum zu Gesicht. 
Allenfalls wird er kurz von der Frau des 
Haushaltsvorstandes begrüßt, undenkbar 
aber ist, daß er die jungen Frauen, die 
Töchter und Schwiegertöchter sieht oder 
gar mit ihnen spricht. Wenn die Frauen 
mit dem Bereiten des Essens fertig sind, 
bringen sie es nur bis zur Schwelle des 
Gastzimmers, dort nimmt es der Sohn in 
Empfang. Ebenso wie die Grenzen der 
Bereiche von Mann und Frau akzentuiert 
werden, wird der Unterschied von Vater 
und Sohn betont. Es ist ungehörig, für 
den Sohn zu sprechen, wenn der Gast an- 
wesend ist, er gehorcht schweigend den 
Befehlen des Vaters. Wenn ein Fremder 
das Haus betritt, betont die Familie also 
die Unterschiede zwischen den Geschlech 
tern und Generationen, betont, daß die 
Beziehungen in ihr von Achtung (saygi) 
und Scham (utanc) bestimmt sind. Sie 
stellt sich — auch hier wird die Metapher 
gebraucht — als ‚„‚saubere”’ Familie dar, in 
der jeder seinen Bereich kennt, die Un- 
terschiede zwischen den Positionen nicht 
verwischt sind. Je fremder der Gast ist, 
desto notwendiger sind, wie wir gehört 
haben, Reinigungsrituale, desto notwen- 
diger ist auch die Wahrung der Grenze 
im Haus. 
Es war aufschlußreich zu beobachten, 
wie sich im Verlauf meines fünfmonati- 
gen Aufenthalts im Dorf der Status des 
völlig Fremden verlor. Mit der Zeit wurde 
der bevorzugte Platz in der Ecke des Di- 
van anderen eingeräumt, denen er nach 
Alter und Rang mehr zustand. Gleich- 
zeitig wurden die Grenzen im Haus des 
Gastgebers weniger betont. Die Frauen 
kamen ins Zimmer, stellten selber das 
Essen ab. Ältere Frauen gesellten sich ge- 
legentlich zu den Unterhaltungen, wenn 
sie auch immer noch außerhalb des Krei- 
ses der Männer saßen. Schließlich wurde 
ich sogar wie ein Verwandter in der Kü- 
che empfangen, der Domäne der Frau. 
Je vertrauter der Gast, desto weniger 
bedrohlich ist sein Überschreiten der 
Grenzen, desto weniger bedarf es auch 
der Wiedererrichtung der Grenzen inner- 
halb des Hauses. 
In dem Referat versuchte ich zu zei- 
gen, wie in einem alltäglichen Ritual die 
Grenzen zwischen Außen und Innen, 
dem Bereich der Gemeinde und dem des 
Hauses, der Familie, besonders der Frau 
ausgedrückt, damit aber immer wieder 
bestätigt und neu errichtet werden. Im 
Ritual wird dargestellt, daß der Raum 
des Hauses ein eigenständiger Bereich ist, 
In dem spezifische Regeln gelten. Im 
städtischen Kontext erhalten die Rituale 
mit der Aufhebung der rigiden Trennung 
von Innen und Außen den Charakter des 
Beliebigen. Man wird aufgefordert, die 
Schuhe anzubehalten, die asymmetrischen 
Begrüßungsformeln gelten als bäuerlich 
und antiquiert, sie werden durch symme- 
trische ersetzt. Innerhalb des Hauses ver- 
wischen sich die Grenzen von Küche 
und Gastzimmer. 
3) DOUGLAS, M., Pur ity ... a.a.0.5. 7 ff. 
4) Wiederholt begründeten die Bauern die 
Gastfreundschaft mıt dem zekat, dem ri- 
tuell! vorgeschriebenen Jahresalmosen, also 
einer religiösen Pflicht. PITT—-RIVERS, J. 
"The fate of Shechem or The Politics of Sex, 
Essays in the Anthropology of the Mediterra 
nean’, Cambridge 1977, S. 99 ff. diskutiert 
ausführlich den Zusammenhang von Gast- 
Freundschaft und Sakralem. 
PITT-RIVERS, J., The Fate ..., a.a.0. S.102 
Vgl.: SAHLINS, M.D., ’On the Sociology 
of Primitive Exchange’, in: BANTON, M. 
(Hrsg.), ’/The Relevance of Models for Social 
Anthropology,‘ ASA Monograph 1, London 
1965. 
Vgl. auch BOURDIEUS Analysen zum 
‚Spiel von Herausforderungen und Erwide- 
rung von Herausforderung‘ in: BOURDIEU, 
P., ’Entwurf einer Theorie der Praxis’, Ffm 
1976, 5. 15 ff. wie auch seiner Untersuchung 
des „symbolischen Kapıtals’’ ebda, S. 335 ff. 
Anmerkungen 
1) Diese Begrüßung wird auch dann vollzogen 
wenn Gastgeber und Gast sich schon außer 
halb des Hauses getroffen und gemeinsam 
das Haus betreten haben. 
Vgl.: DOUGLAS, M., ”Purity and Danger 
An analysis of the concepts of pollution 
and taboo’, London 1966, S. 2. 
7) 
Andrea Petersen 
Mögliche Auswirkungen 
der Migration 
Ich möchte noch einige Vermutungen 
darüber anfügen, in welcher Weise sich 
die sozialen Beziehungen und die Arbeits- 
situation türkischer Frauen im Verlauf 
der Emigration verändern könnten. 
* Türkische Bäuerinnen verbringen in 
der Regel ihr ganzes Leben in ein und 
demselben Dorf und innerhalb dieses 
Dorfes vor allem in zwei Häusern, dem 
ihrer Eltern und dem ihres Mannes. Dem 
entsprechend ist die Zahl der Personen, 
mit denen sie ein Leben lang fast jeden 
Tag umgehen, begrenzt. Die wenigen 
Männer, zu denen sie Beziehungen ha- 
ben, sind ihr Ehemann, Verwandte oder 
Angehörige desselben Haushaltes. Der 
Kreis von Frauen, mit denen sie arbeiten 
und reden, ist etwas größer; er umfaßt 
außer den Angehörigen ihres Haushaltes 
die Frauen in der Nachbarschaft. Mit 
der Heirat wird die Frau in den Haushalt 
ihres Mannes aufgenommen. Ihre Bezie- 
hungen erleben damit eine grundsätzli- 
che Umgestaltung. Sie verläßt den Kreis 
ihres Elternhauses und wird im Kreis der 
Frauen des neuen Haushaltes aufge- 
nommen. 
In der BRD verändert sich die Situa- 
tion. Hier leben die Frauen meist nur 
mit ihrem Mann und ihren Kindern, von 
denen einige oft in der Türkei bei Ver- 
wandten zurückbleiben oder nur kürzere 
Zeit hier mit ihren Eltern verbringen. 
Die Kontakte zu der weiteren Verwandt- 
schaft und den ehemaligen Nachbarin- 
nen sind unterbrochen. Die Vielzahl der 
von Frauen verrichteten häuslichen Ar- 
beiten reduziert sich, da Lebensmittel 
und Kleidung gekauft werden und Strom 
und fließend Wasser die Hausarbeit er- 
leichtern. Zudem verringert sich die Zahl 
der Personen, die zu versorgen sind. Die 
verbliebenen Hausarbeiten werden von 
den Frauen meist einzeln, d.h. nicht mehr 
im Zusammenhang mit anderen Frauen 
verrichtet. Dabei könnte die Befreiung 
yon einer Vielzahl oft sehr mühseliger Ar- 
beiten durchaus entlastend sein, ginge sie 
nicht mit einer Entleerung des Hauses von 
vielfältigen und differenzierten sozialen 
Beziehungen einher. 
Im Bereich außerhalb des Hauses sind 
die Veränderungen noch entscheidender. 
Gab es im Dorf in der Öffentlichkeit Orte, 
die den Frauen vorbehalten oder wenig- 
stens zugänglich waren, so beginnt hier die 
Öffentlichkeit — und damit die Sphäre der 
Männer — bereits an der Wohnungstür. Da 
es hier keine Geschlechtertrennung gibt 
und damit in der Öffentlichkeit keine ge- 
trennten Räume vorgesehen sind, sind die 
Frauen viel mehr als in der Türkei ans 
Haus gebunden, wenn sie die Grenze zu 
fremden Männern aufrecht erhalten wol- 
len. Auch die Arbeit außerhalb des Hau- 
ses bietet kaum Möglichkeiten zu Kontak 
ten. Nur in seltenen Fällen können am 
Arbeitsplatz oder auf dem Weg dorthin 
dauerhafte Beziehungen zu anderen türki 
schen Frauen angeknüpft werden. Aber 
selbst in diesen Fällen ist es kaum mög- 
lich, daß die Frauen einander besuchen. 
Gewichtiger als die großen räumlichen 
Entfernungen zwischen den Wohnungen 
und die wenige Zeit, die den Frauen auf- 
grund der Doppelbelastung bleibt, dürfte 
sein, daß sie — anders als die Männer — 
nicht allein fremde Familien besuchen 
können, da sie leicht in den Ruf der Un- 
ehrenhaftiakeit kämen. 
Der untrennbare Zusammenhang von 
Arbeit und Interaktion im anatolischen 
Dorf ist in Deutschland aufgehoben. Die 
Arbeitsbedingungen in der Fabrik oder 
an anderen Arbeitsplätzen schließen eine 
Kommunikation weitgehend aus, und die 
Hausarbeit wird isoliert verrichtet. Neben 
den Kindern bleibt für die Frauen oft 
nur der Ehemann als Gesprächspartner 
und Bezugsperson. Damit werden die 
Beziehungen zu ihm zunehmend wichtig. 
Die eingeschränkte Kommunikation mit 
anderen Frauen mag ein wesentlicher Aus- 
löser von Heimweh und psvchischen Stö- 
rungen sein.
	        

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.