Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1979, Jg. 11, H. 43-47, [48])

Schwerpunkt 
Editorial 
Wenn ARCH* diesmal ein Schwerpunktheft der Stadtverkehrsplanung und Verkehrs- 
beruhigung widmet, dann nicht nur der kurzfristigen Aktualität wegen. 
Dazu ist das Thema auf der einen Seite viel zu wichtig, zudem weist die Diskus- 
sion um die „Qualitätsverbesserung des öffentlichen Raumes” (so die offizielle plane- 
tische Diktion ...) noch eine Vielzahl ungelöster Fragen und Probleme auf. Um die 
Aufnahme dieser teilweisen kontroversen Diskussion kann es uns mit diesem The- 
menheft nur gehen, nicht um eine „Problemlösung aus kritischer Sicht”. 
Deshalb sollen durchaus widersprüchliche Positionen vor allem in zwei grund- 
sätzlichen Problembereichen der Verkehrsberuhigungsdebatte aufgezeigt werden. 
Einmal an der Frage gesamtstädtischer Auswirkungen von wohnquartiersbezogenen 
Verkehrsberuhigungsmaßnahmen, zum Zweiten an den konkreten Fragen der Um- 
gestaltung des Straßenraumes: 
® Bedingt Verkehrsberuhigung von Wohnquartieren auf gesamtstädtischer Ebene 
zwangsläufig eine Bündelung der Verkehrsströme auf wenige Hauptachsen 
(Müller), wobei die unvermeidbaren Folgen für die räumliche Organisation des 
städtischen Lebens in Kauf genommen werden müssen oder sollte vielmehr eine 
Beruhigung und ein „Rückbau”’ auch von städtischen Hauptverkehrsstraßen 
(Monheim) integraler Bestandteil einer neu zu definierenden „alternativen Stadt- 
verkehrsplanung”” werden: Kann es in der Folge von wohnquartiersbezogenen 
Verkehrsberuhigungsmaß nahmen nur um eine räumliche Umverteilung des Kfz- 
Verkehrs gehen, oder muß eine an den sozialen Bedürfnissen der Stadtbevölke- 
rung orientierte Verkehrsplanung auf einem Bündel strategischer Maßnahmen 
— von einer Änderung der Verkehrsmittelwahl bis zu einer allgemeinen Reduzie- 
tung des Verkehrsaufkommens — aufbauen? (Monheim) 
® Kann eine spielerisch-zufällige (auf individuellen Gestaltungsvorstellungen be- 
ruhende) Aneignung des öffentlichen Raumes in einen kollektiven Planungs- 
und Gestaltungsprozeß überführt werden und im Verlauf des Prozesses Potentiale 
für alternative Gebrauchsweisen des Raumes und eine (Wieder-) Ermöglichung so- 
zialer Lebensweisen freisetzen (Bannwart)? Oder ist es nicht vielmehr so, daß 
durch eine zwar dispers vielfältig, aber konkret nur abschnittsweise monofunktio- 
nal nutzbare Straße der letzte — dann allerdings besonders fatale — Schritt auf dem 
Weg der „‚Fragmentierung aller Lebensbereiche” getan wird? Radiert die nach In- 
ternationalem Konfektionsmuster umgestaltete Wohnstraße endgültig das aus, 
„was an historischen Qualitäten auch in den herunte: gekommenen Quartieren 
durchaus noch in Spuren vorhanden ist” (Jacohy, Martin, Pächter)? 
Auch im Dossier sollen kontroverse Positionen anhand eines konkreten Fall- 
beispiels verdeutlicht werden (vgl. z.B. die Beiträge von Ganz u.a. sowie Guggen- 
thaler/Reich); die alte (aber trotzdem immer noch wichtige) Frage nach der 
Übertragbarkeit der holländischen (Kleinstadt-)Beispiele (Kahmann) wird unter 
einem neuen Blickwinkel betrachtet: Aktuelle Erfahrungen aus den Niederlanden 
lassen auch für bundesdeutsche Städte Mieterhöhungen, Verdrängung und neue 
räumlich-soziale Strukturen absehbar erscheinen (Glotz). 
Um nicht mißverstanden zu werden: 
Bei allem Unbehagen an dem offiziellen Propagandarummel über Verkehrsbe- 
ruhigung und Wohnumfeldverbesserung, bei aller berechtigten Kritik an der 
herrschenden „‚Beruhigungs-Praxis’’ sollte nicht übersehen werden, daß auf brei- 
ter Ebene erste Erfolge eines Umdenkprozesses sichtbar werden: 
Verkehrsberuhigung als (wenn bisher auch nur halbherziges und oft deklama- 
torisches) Ziel der offiziellen Städtebaupolitik und Verbesserungsmaßnahmen 
im öffentlichen Raum sind nach jahrzentelanger Vernachlässigung sicherlich 
wichtiger als stets neue und ebenso hilf- wie erfolglose Stadthauskonzepte o.ä. 
Daß über die Frage des öffentlichen Raums überhaupt wieder diskutiert wird, 
ist ein sicherlich nicht zu unterschätzender Erfolg. 
Nunmehr wird es jedoch vor allem darum gehen müssen, daß sich das Schre- 
bergartendenken des privaten Reichtums bei öffentlicher Armut und Tristesse 
nicht auch weiterhin (oder jetzt erst recht!) unseres öffentlichen Straßenraums 
bemächtigt (Jacoby/Martin/Pächter); daß in der Tat progressive Potentiale dieser 
Diskussion: die Wiederentdeckung und Wiederbelebung verschütteter sozialer 
Qualitäten des öffentlichen Raumes nicht einer kleinbürgerlichen Individualisie- 
rung und Idyllisierung unterliegen und daß der vielleicht größten Gefahr: der 
Fragmentierung der Stadt in privilegierte, verkehrsberuhigte Wohnquartiere und 
benachteiligte, stark belastete Verkehrsgebiete entschlossen entgegengetreten 
wird. 
Felix Zwoch 
Die allseitige Euphorie über die bewoh- 
nerfreundlichen Ziele der Verkehrsbe- 
ruhigung sollte nicht den nüchternen 
Blick auf die Gefahren verstellen, die 
sich aus einer allzu forschen — wenn 
auch wohlmeinenden — Herangehens- 
weise an das Problem ergeben. Denn 
die unheilige Allianz von zunächst 
durchaus berechtigten Partikularforde- 
rungen, dem kurzfristigen Erfolgszwang 
der Politiker (ein vorzeigbarer Schlager 
ist besser als langfristige Strukturverbes- 
serungen) und dem Schematismus der 
Planungsbürokratie kann durchaus mit 
Beifall von allen Seiten die Stadt wei- 
ter zerstören. Das Thema Verkehrsbe- 
ruhigung ist viel zu wichtig, als daß es 
zum Modegag verkommen darf. Gerade 
weil wir für die VB sind, sind wir enga- 
giert gegen eine verkehrte Beruhigung. 
1. VERKEHRSBERUHIGUNG -— EIN- 
SEITIGE OPTIMIERUNG DES PRI- 
VATBEREICHES ODER BEITRAG 
ZUR VERBESSERUNG DER 
STADTSTRUKTUR? 
Nach der Welle: „Rettet unsere Innen- 
städte — baut Fußgängerzonen!‘“ (das 
Ergebnis war allzu oft die Desintegra- 
tion der Innenstädte) rollt nun die 
Welle „‚verkehrsberuhigte Wohngebie- 
te‘, Nach den bisherigen Erfahrungen 
scheint Skepsis angebracht. Trotz ge- 
genseitiger Beteuerungen der Planer be- 
steht vor allem in der Praxis die Gefahr, 
daß nur ein Moment des städtischen 
Gefüges, der Durchgangs— oder 
Schleichverkehr, Anlaß von Umstruk- 
turierungsmaßnahmen wird, die zwar 
diesen Anlaß u.U. beseitigen — besser 
verlagern können, die aber gleichzeitig 
andere Qualitäten der Struktur zerstö- 
ren, die sich langfristig als problemati- 
scher erweisen könnten als der ur- 
sprüngliche Anlaß. Damit aus der Ver- 
kehrsberuhigung nicht eine verkehrte 
Beruhigung wird, müssen wir uns kurz 
mit den beiden diametral unterschiedli- 
chen Tendenzen auseinandersetzen, die 
sich hinter dem harmlosen Begriff „‚Ver- 
kehrsberuhigung‘ verbergen. 
Indem Verkehrsberuhigung dazu 
dient, bestehende Hauptverkehrsstraßen 
weiter zu belasten und von den umge- 
benden Quartieren zu isolieren, reiht 
sich dieses Vorhaben — trotz bewoh- 
nerfreundlicher Argumentation — naht- 
los ein in den allgemein herrschenden 
Trend der Hierarchisierung, Konzentra- 
tion und Monofunktionalisierunag. We-
	        

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