Verkehrsberuhigung - verkehrte Beruhigung?
Ernst Jacoby, Volker Martin, Karl Pächter
Verkehrsberuhigung als Teil eines städti-
schen Freiraumkonzeptes
Zu Inhalt und Strategie der Verkehrsberuhigung
gen kurzfristiger, vordergründiger Er-
folgserlebnisse wird in Kauf genommen:
® Die weitere Belastung der Straßen
da, wo sie wirklich am wenigsten zu
verkraften ist, nämlich in den Hauptver-
sorgungsachsen, die auf Grund histori-
scher Entwicklungen in der Regel in den
Hauptverkehrsstraßen liegen. Die kom-
munikativen Nahtstellen (Versorgung,
öffentl. Nahverkehr, Übergänge Nach-
barquartiere) werden zur Barriere, die
den Zusammenhang der Straßenseiten
zertrennt. Das ist nicht — wie häufig
suggeriert wird — in erster Linie eine
direkte Folge der Wohnbelastung („auf
ein paar Dezibel mehr kommt es nicht
an‘), sondern vor allem sind es die in-
direkten Folgeerscheinungen (Optimie-
rung des Verkehrsdurchflusses. Um-
orientierung der Wohnungen), die die
Barrierewirkung Schritt für Schritt vor-
fertigen, da an diesen Straßen kein
Mensch mehr wohnen, ja nicht einmal
mehr arbeiten will.
®e Die Desorientierung innerhalb der
Quartiere, die ganze Wohnviertel aus
dem städtischen Zusammenhang aus-
blendet. Wendehämmer und komplizier-
te Erschließungssysteme haben uns die
Verkehrsplaner schon immer angedient
— jetzt werden sie halt noch möbliert.
8 Die Aufgabe kontinuierlicher, kollek-
tiver Räume zugunsten zerteilter, pri-
vater Abschnitte: die Straße wird tenden-
tiell zum Hinterhof.
® Das Auflösen des Veränderungspoten-
tial, das sich aus dem Widerspruch
zwischen individuellem Nutzen und kol-
lektiver Belastung ergibt: die menschen-
feindliche Entwicklung wird kaschiert,
indem die Belastungen in den kollekti-
ven Raum höherer Ordnung verlagert
werden, dessen ursprüngliche Funktion
als öffentlicher Raum geopfert wird zu-
gunsten einer anonymen Verkehrsflä-
che, für die keiner mehr zuständig ist.
Da die o.a. Tendenzen nicht nur im
Verkehrsbereich auftreten, sondern tief-
greifenden Strukturentwicklungen (ein-
seitige Optimierungen im privaten
Wohn-— und Arbeitsbereich) parallel
laufen, ist der ständige Raubbau an
dem, was Stadt ausmacht, am Ööffentli-
chen Raum, identisch mit der Zerstö-
rung der Stadt im Sinne eines gänzlicher
Zerfalls in abgegrenzte private Idylle
und öffentliche „‚Grauzone‘‘. Die Stadt
ist mehr als die Summe ihrer Stadt —
Teile! (Vielleicht nicht im Ruhrgebiet —
auf jeden Fall aber in Berlin.)
Städtebauliche Überlequnaen., die die-
sen Tendenzen entgegenwirken wollen,
haben stets zwei Zielrichtungen gleich-
zeitig zu verfolgen:
® die Identität der räumlichen Ordnung
in Bezug auf Nutzung, Erschließung
und bauliche Gestaltung und
® die Identität und Verknüpfung der
Hierarchien örtlich, überörtlich und
gesamtstädtisch.
Jedes Problem — auch das der Ver-
kehrsberuhigung — kann also nie allein
von einer Ebene, hier der örtlichen,
analysiert und gelöst werden. Zunächst
ist der Stellenwert und die Auswirkung
der Verkehrsberuhigung innerhalb der
Gesamtstruktur zu untersuchen. Es
geht nach u.M. nicht an, an einer Stel-
le Eingriffe vorzunehmen, nur weil sie
„Machbar‘* erscheinen — ohne vorher
klare Entscheidungen getroffen zu ha-
ben, was z.B. mit den für die kommu-
nikativen Zusammenhänge der Stadt
ungleich wichtigeren Magistralen ge-
schehen soll (Autobahn und Schleich-
wege). Solange hier keine schlüssigen
Konzepte vorliegen, solange können und
dürfen nach u.M. auf der untergeordne-
ten Quartiersebene nur solche Entschei-
dungen getroffen werden, die für die
übergeordneten Strukturen keine Fest-
legung i.S. von Sachzwängen bedeuten.
Wir können also nur da ansetzen, wo
es echte Potentiale gibt, die neu ge-
nutzt werden können — auf keinen
Fall da, wo nur eine Verlagerung der
Problematik stattfindet.
Aber auch hier ist Vorsicht geboten!
Natürlich ist es sinnvoll, an diesen Stel-
ten die Funktion und Form der heutigen
Straße neu zu überdenken und zu ver-
suchen, die Straße und ihre Nutzung von
den besonderen sozialen und räumlichen
Bedingungen des jeweiligen Quartiers
her neu zu definieren. Berlin ist nicht
Delft — Wanne-—Eickel ist nicht Bo-
‘'ogna! Das klingt nach Binsenweisheit,
ist es jedoch leider nicht: allein die
Überzeugungskraft schlüssig realisierter
Beispiele verleitet wohlmeinende, aber
unkritische Zeitgenossen immer wie-
der, Maßnahmen aus anderen Zusam-
menhängen und kulturellen Umfeldern
einfach zu übertragen. Daß die Schlüs-
sigkeit der Konzepte gerade aus dem
Eingehen auf die ortsspezifischen Be-
sonderheiten entsteht, diese Tatsache
wird geflissentlich übersehen.
Bevor also Maßnahmen vorgeschla-
gen werden, hat man sich klar zu wer-
den über die strukturellen Zusammen-
hänge des historischen Block-Straßen-
systems. Der Charakter der Maßnah-
men ergibt sich dann nicht mehr zufäl-
lig („weil es an einer Stelle so schön
geht‘), sondern generell und flächig
(weil die Vernetzung und Nutzungs-
verflechtung unterschiedliche Kategori-
sierungen von Straßentypen ermög-
licht). Erst innerhalb dieser von der
grundsätzlichen Zonierung her festge-
legten Typen ist dann Spielraum für das
Zufällige und Spontane.
Es geht uns darum zu zeigen, daß
das, was auf den ersten Blick ähnlich
aussieht oder sich ähnlich bezeichnet,
geprägt ist von grundsätzlich verschie-
denen Auffassungen. Es stehen bei der
Beurteilung der Vorschläge zur Ver-
kehrsberuhigung keine beliebigen Alter-
nativen an, in denen sich die Phanta-
sie oder Kreativität der Architekten
mehr oder weniger deutlich manife-
stiert — es geht um äußerst wichtige
Entscheidungen über das Grundproblem
der Stadt: die Nutzung des öftentlichen
Raumes. Unterstützen die Vorschläge
die Tendenz zum Zerfall der Stadt in
optimierte Privatbereiche und öffentli-
che ‚‚Grauzonen‘‘ — oder sind sie ein
Beitrag zur Aufwertung dessen, was
Stadt ausmacht, eben dieses öffentli-
chen Raumes? Diese Frage entscheidet
sich nicht am Detail — und zwischen
diesen Tendenzen gibt es keinen Kom-
Dromiß
2. VERKEHRSBERUHIGUNG ALS
INTEGRALER BESTANDTEIL
EINES INNERSTÄDTISCHEN
FREIFLÄCHENKONZEPTS
Weder Immisonen, noch Gefahren des
Autoverkehrs oder Parkraumnot sind in
Kreuzberg und in vielen anderen inner-
städtischen Wohngebieten die Kernpro-
bleme, sondern Wohnungsnot, Arbeits-
losigkeit, mangelhafte Sozialeinrichtun-
gen und fehlende öffentliche Freiflä-
chen. Jedes Entwicklungskonzept hat
also vorrangig an diesen Problemen an-
zusetzen. In unserem Fall: erst aus dem
Zusammenhang mit dem Freiflächen—
Defizit ergibt sich der Stellenwert der
„Verkehrsberuhigung‘‘. Erst aus dem Zu-
sammenhang mit der Aufwertung des öf-
fentlichen Raumes und dem Abbau des
Freiflächendefizits stellt sich damit
auch die Frage einer Neustrukturierung
des Verkehrs bzw. einer Überprüfung
auf untergenutzte Verkehrsflächen, die
evt. umgenutzt werden können. An