Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1979, Jg. 11, H. 43-47, [48])

Verkehrsberuhigung - verkehrte Beruhigung? 
Ernst Jacoby, Volker Martin, Karl Pächter 
Verkehrsberuhigung als Teil eines städti- 
schen Freiraumkonzeptes 
Zu Inhalt und Strategie der Verkehrsberuhigung 
gen kurzfristiger, vordergründiger Er- 
folgserlebnisse wird in Kauf genommen: 
® Die weitere Belastung der Straßen 
da, wo sie wirklich am wenigsten zu 
verkraften ist, nämlich in den Hauptver- 
sorgungsachsen, die auf Grund histori- 
scher Entwicklungen in der Regel in den 
Hauptverkehrsstraßen liegen. Die kom- 
munikativen Nahtstellen (Versorgung, 
öffentl. Nahverkehr, Übergänge Nach- 
barquartiere) werden zur Barriere, die 
den Zusammenhang der Straßenseiten 
zertrennt. Das ist nicht — wie häufig 
suggeriert wird — in erster Linie eine 
direkte Folge der Wohnbelastung („auf 
ein paar Dezibel mehr kommt es nicht 
an‘), sondern vor allem sind es die in- 
direkten Folgeerscheinungen (Optimie- 
rung des Verkehrsdurchflusses. Um- 
orientierung der Wohnungen), die die 
Barrierewirkung Schritt für Schritt vor- 
fertigen, da an diesen Straßen kein 
Mensch mehr wohnen, ja nicht einmal 
mehr arbeiten will. 
®e Die Desorientierung innerhalb der 
Quartiere, die ganze Wohnviertel aus 
dem städtischen Zusammenhang aus- 
blendet. Wendehämmer und komplizier- 
te Erschließungssysteme haben uns die 
Verkehrsplaner schon immer angedient 
— jetzt werden sie halt noch möbliert. 
8 Die Aufgabe kontinuierlicher, kollek- 
tiver Räume zugunsten zerteilter, pri- 
vater Abschnitte: die Straße wird tenden- 
tiell zum Hinterhof. 
® Das Auflösen des Veränderungspoten- 
tial, das sich aus dem Widerspruch 
zwischen individuellem Nutzen und kol- 
lektiver Belastung ergibt: die menschen- 
feindliche Entwicklung wird kaschiert, 
indem die Belastungen in den kollekti- 
ven Raum höherer Ordnung verlagert 
werden, dessen ursprüngliche Funktion 
als öffentlicher Raum geopfert wird zu- 
gunsten einer anonymen Verkehrsflä- 
che, für die keiner mehr zuständig ist. 
Da die o.a. Tendenzen nicht nur im 
Verkehrsbereich auftreten, sondern tief- 
greifenden Strukturentwicklungen (ein- 
seitige Optimierungen im privaten 
Wohn-— und Arbeitsbereich) parallel 
laufen, ist der ständige Raubbau an 
dem, was Stadt ausmacht, am Ööffentli- 
chen Raum, identisch mit der Zerstö- 
rung der Stadt im Sinne eines gänzlicher 
Zerfalls in abgegrenzte private Idylle 
und öffentliche „‚Grauzone‘‘. Die Stadt 
ist mehr als die Summe ihrer Stadt — 
Teile! (Vielleicht nicht im Ruhrgebiet — 
auf jeden Fall aber in Berlin.) 
Städtebauliche Überlequnaen., die die- 
sen Tendenzen entgegenwirken wollen, 
haben stets zwei Zielrichtungen gleich- 
zeitig zu verfolgen: 
® die Identität der räumlichen Ordnung 
in Bezug auf Nutzung, Erschließung 
und bauliche Gestaltung und 
® die Identität und Verknüpfung der 
Hierarchien örtlich, überörtlich und 
gesamtstädtisch. 
Jedes Problem — auch das der Ver- 
kehrsberuhigung — kann also nie allein 
von einer Ebene, hier der örtlichen, 
analysiert und gelöst werden. Zunächst 
ist der Stellenwert und die Auswirkung 
der Verkehrsberuhigung innerhalb der 
Gesamtstruktur zu untersuchen. Es 
geht nach u.M. nicht an, an einer Stel- 
le Eingriffe vorzunehmen, nur weil sie 
„Machbar‘* erscheinen — ohne vorher 
klare Entscheidungen getroffen zu ha- 
ben, was z.B. mit den für die kommu- 
nikativen Zusammenhänge der Stadt 
ungleich wichtigeren Magistralen ge- 
schehen soll (Autobahn und Schleich- 
wege). Solange hier keine schlüssigen 
Konzepte vorliegen, solange können und 
dürfen nach u.M. auf der untergeordne- 
ten Quartiersebene nur solche Entschei- 
dungen getroffen werden, die für die 
übergeordneten Strukturen keine Fest- 
legung i.S. von Sachzwängen bedeuten. 
Wir können also nur da ansetzen, wo 
es echte Potentiale gibt, die neu ge- 
nutzt werden können — auf keinen 
Fall da, wo nur eine Verlagerung der 
Problematik stattfindet. 
Aber auch hier ist Vorsicht geboten! 
Natürlich ist es sinnvoll, an diesen Stel- 
ten die Funktion und Form der heutigen 
Straße neu zu überdenken und zu ver- 
suchen, die Straße und ihre Nutzung von 
den besonderen sozialen und räumlichen 
Bedingungen des jeweiligen Quartiers 
her neu zu definieren. Berlin ist nicht 
Delft — Wanne-—Eickel ist nicht Bo- 
‘'ogna! Das klingt nach Binsenweisheit, 
ist es jedoch leider nicht: allein die 
Überzeugungskraft schlüssig realisierter 
Beispiele verleitet wohlmeinende, aber 
unkritische Zeitgenossen immer wie- 
der, Maßnahmen aus anderen Zusam- 
menhängen und kulturellen Umfeldern 
einfach zu übertragen. Daß die Schlüs- 
sigkeit der Konzepte gerade aus dem 
Eingehen auf die ortsspezifischen Be- 
sonderheiten entsteht, diese Tatsache 
wird geflissentlich übersehen. 
Bevor also Maßnahmen vorgeschla- 
gen werden, hat man sich klar zu wer- 
den über die strukturellen Zusammen- 
hänge des historischen Block-Straßen- 
systems. Der Charakter der Maßnah- 
men ergibt sich dann nicht mehr zufäl- 
lig („weil es an einer Stelle so schön 
geht‘), sondern generell und flächig 
(weil die Vernetzung und Nutzungs- 
verflechtung unterschiedliche Kategori- 
sierungen von Straßentypen ermög- 
licht). Erst innerhalb dieser von der 
grundsätzlichen Zonierung her festge- 
legten Typen ist dann Spielraum für das 
Zufällige und Spontane. 
Es geht uns darum zu zeigen, daß 
das, was auf den ersten Blick ähnlich 
aussieht oder sich ähnlich bezeichnet, 
geprägt ist von grundsätzlich verschie- 
denen Auffassungen. Es stehen bei der 
Beurteilung der Vorschläge zur Ver- 
kehrsberuhigung keine beliebigen Alter- 
nativen an, in denen sich die Phanta- 
sie oder Kreativität der Architekten 
mehr oder weniger deutlich manife- 
stiert — es geht um äußerst wichtige 
Entscheidungen über das Grundproblem 
der Stadt: die Nutzung des öftentlichen 
Raumes. Unterstützen die Vorschläge 
die Tendenz zum Zerfall der Stadt in 
optimierte Privatbereiche und öffentli- 
che ‚‚Grauzonen‘‘ — oder sind sie ein 
Beitrag zur Aufwertung dessen, was 
Stadt ausmacht, eben dieses öffentli- 
chen Raumes? Diese Frage entscheidet 
sich nicht am Detail — und zwischen 
diesen Tendenzen gibt es keinen Kom- 
Dromiß 
2. VERKEHRSBERUHIGUNG ALS 
INTEGRALER BESTANDTEIL 
EINES INNERSTÄDTISCHEN 
FREIFLÄCHENKONZEPTS 
Weder Immisonen, noch Gefahren des 
Autoverkehrs oder Parkraumnot sind in 
Kreuzberg und in vielen anderen inner- 
städtischen Wohngebieten die Kernpro- 
bleme, sondern Wohnungsnot, Arbeits- 
losigkeit, mangelhafte Sozialeinrichtun- 
gen und fehlende öffentliche Freiflä- 
chen. Jedes Entwicklungskonzept hat 
also vorrangig an diesen Problemen an- 
zusetzen. In unserem Fall: erst aus dem 
Zusammenhang mit dem Freiflächen— 
Defizit ergibt sich der Stellenwert der 
„Verkehrsberuhigung‘‘. Erst aus dem Zu- 
sammenhang mit der Aufwertung des öf- 
fentlichen Raumes und dem Abbau des 
Freiflächendefizits stellt sich damit 
auch die Frage einer Neustrukturierung 
des Verkehrs bzw. einer Überprüfung 
auf untergenutzte Verkehrsflächen, die 
evt. umgenutzt werden können. An
	        

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