Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1979, Jg. 11, H. 43-47, [48])

sierung und Differenzierung ging der mul 
multifunktionale Charakter der Straße 
mehr und mehr verloren; ihre Bedeu- 
tung als Kontakt—, Kommunikations—, 
Informations— und Lernort nahm zuneh- 
mend ab. Die Straße wurde vorrangig 
der Transportfunktion unterworfen 
und verlor allmählich ihre Qualität als 
‚öffentlicher Raum’. 
Auf das ursprüngliche Bedürfnis nach 
Betätigung im öffentlichen Raum und 
deren sozialpsychologische Bedeutung 
weisen verschiedene Untersuchungen 
und Analysen zum Kinderspiel im Frei- 
en hin. Kinder erforschen und entdecken 
ihre Umwelt schrittweise und lernen mit 
zunehmendem Alter einen immer grö- 
ßerwerdenden Bereich um die Wohnung 
kennen. Besonders für jüngere Kinder ist 
die Nähe der Wohnung bedeutsam, da hier 
hier Bekanntheit und Vertrautheit das 
Gefühl von Schutz und Sicherheit ver- 
mitteln. So ist es auch nicht verwunder- 
lich, daß auf gefährlichen und trostlosen 
Straßen, auf schmalen Bürgersteigen 
und in phantasielosen Hauseingängen 
immer noch spielende Kinder zu beob- 
achten sind. 
Der wohnungsnahe Raum, das Wohn- 
umfeld ist für Kinder ein entscheiden- 
der Sozialisationsbereich. Wenn Kinder 
auf der Straße spielen, gehen sie auf 
Entdeckungsreise. Sie richten ihre spon- 
tane Neugier auf Dinge und Ereignisse, 
die um sie herum geschehen. Sie neh- 
men fragend und unbefangen ihre Um- 
welt wahr. Spielerisch setzen sie sich 
mit dem Erlebten auseinander, indem 
sie die Tätigkeiten der Erwachsenen 
nachahmen. so gehen sie beispielsweise 
zum Einkaufen, fahren zur Arbeit oder 
fegen die Straße. In solchen aktiven 
Spielen lernen sie, meistens gemeinsam 
mit anderen Kindern, ihre soziale Um- 
welt zu begreifen. Ebenso reagieren 
Kinder auf optische, haptische und au- 
ditive Reize, die sie in gestalterisches 
und produktives Spiel umsetzen. 
Diese knappen Ausführungen über 
das kindliche Bedürfnis, den Bereich 
um die Wohnung spielend zu erforschen 
und das Umfeld in seiner Vieldimensio- 
nalität zu beobachten, zu entdecken und 
sich anzueignen, geben Hinweise auf die 
Notwendigkeit, Straßenraum wieder mul- 
tifunktional zu beleben. 
Die totale Ausgliederung verschiedener 
Funktionen in Kinderspielplätze, Fuß- 
gängerbereiche und Ruhezonen, kann 
keine befriedigende Lösung des Pro- 
blems darstellen. Eine Straße jedoch, 
die durch ihre Gestaltung zum einen 
wieder sicherer wird und zum anderen 
mit vielfältigem Reiz- und Anregungs- 
potential ausgestattet ist, kann zum 
Erlebnis- und Begegnungsraum für 
Menschen verschiedener Alters-, Her- 
kunfts-, Berufs- und Interessengruppen 
werden. 
Zunächst muß allerdings der Aufenthalt 
auf der Straße nicht länger durch das 
Auto und seine ihm eigene Schnellig- 
keit bestimmt werden, sondern durch 
die Dimension der Kinder und der' Fuß- 
gänger, damit Straße nicht Gefahrenzo- 
ne bleibt, sondern Lebensbereich wird. 
In einer solchen Straße eröffnen sich 
Chancen für verschiedene Grade von 
Kontakten mit Menschen, die im glei- 
chen kleinräumigen Gebiet wohnen, er- 
geben sich Möglichkeiten zu ambivalen- 
ten Beziehungen, die weder die Merk- 
male privater Zurückgezogenheit tragen, 
noch sich durch anonyme Unverbind- 
lichkeit auszeichnen. 
Wenn die Straße wieder ein sicherer 
Bereich wird, wenn sich Vertrautheit 
und Identifikation mit diesem Raum 
einstellen, so kann der Straßenraum 
wieder zum Erlebnis—, Erfahrungs— 
und Lernfeld werden. 
DIE FOLGEN DER ENTWICKLUNG 
Nun soll auf die Folgen einer Verkehrs- 
planung eingegangen werden, bei der 
der Konflikt zwischen Kinderspielmög- 
lichkeiten und dem Kfz— Verkehr ein- 
deutig zu Lasten der Kinder entschie- 
den worden ist. In den letzten 25 Jah- 
ren verunglückten in der Bundesrepublik 
bei Verkehrsunfällen 1,36 Mio. Kinder, 
davon starben 36.000 Kinder sofort, 
20.000 an den Unfallfolgen; der Rest 
bleibt zum Teil lebenslang körperlich 
und geistig behindert und psychisch 
traumatisiert. Gemessen an der Unfall- 
rate nimmt die Bundesrepublik im in- 
ternationalen Vergleich einen Spitzen- 
platz ein. Das Unfallrisiko für Kinder 
wird von Jahr zu Jahr größer. 
Bei Straßenverkehrsunfällen 1976 
als Fußgänger oder Radfahrer verun- 
glückte Kinder im Alter unter 15 Jah- 
ren (bezogen auf 100.000 Kinder die- 
ser Altersgruppe) 
Inzwischen haben wir uns daran ge- 
wöhnt, mit dieser Art ‚„‚Dauer—Kata- 
strophe” zu leben. Vor allem sind es 
die Kinder und die alten Menschen, die 
Foto: Wolfgang Krolow. Aus dem Fotoband „Kinder in Kreuzberg” 
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