sierung und Differenzierung ging der mul
multifunktionale Charakter der Straße
mehr und mehr verloren; ihre Bedeu-
tung als Kontakt—, Kommunikations—,
Informations— und Lernort nahm zuneh-
mend ab. Die Straße wurde vorrangig
der Transportfunktion unterworfen
und verlor allmählich ihre Qualität als
‚öffentlicher Raum’.
Auf das ursprüngliche Bedürfnis nach
Betätigung im öffentlichen Raum und
deren sozialpsychologische Bedeutung
weisen verschiedene Untersuchungen
und Analysen zum Kinderspiel im Frei-
en hin. Kinder erforschen und entdecken
ihre Umwelt schrittweise und lernen mit
zunehmendem Alter einen immer grö-
ßerwerdenden Bereich um die Wohnung
kennen. Besonders für jüngere Kinder ist
die Nähe der Wohnung bedeutsam, da hier
hier Bekanntheit und Vertrautheit das
Gefühl von Schutz und Sicherheit ver-
mitteln. So ist es auch nicht verwunder-
lich, daß auf gefährlichen und trostlosen
Straßen, auf schmalen Bürgersteigen
und in phantasielosen Hauseingängen
immer noch spielende Kinder zu beob-
achten sind.
Der wohnungsnahe Raum, das Wohn-
umfeld ist für Kinder ein entscheiden-
der Sozialisationsbereich. Wenn Kinder
auf der Straße spielen, gehen sie auf
Entdeckungsreise. Sie richten ihre spon-
tane Neugier auf Dinge und Ereignisse,
die um sie herum geschehen. Sie neh-
men fragend und unbefangen ihre Um-
welt wahr. Spielerisch setzen sie sich
mit dem Erlebten auseinander, indem
sie die Tätigkeiten der Erwachsenen
nachahmen. so gehen sie beispielsweise
zum Einkaufen, fahren zur Arbeit oder
fegen die Straße. In solchen aktiven
Spielen lernen sie, meistens gemeinsam
mit anderen Kindern, ihre soziale Um-
welt zu begreifen. Ebenso reagieren
Kinder auf optische, haptische und au-
ditive Reize, die sie in gestalterisches
und produktives Spiel umsetzen.
Diese knappen Ausführungen über
das kindliche Bedürfnis, den Bereich
um die Wohnung spielend zu erforschen
und das Umfeld in seiner Vieldimensio-
nalität zu beobachten, zu entdecken und
sich anzueignen, geben Hinweise auf die
Notwendigkeit, Straßenraum wieder mul-
tifunktional zu beleben.
Die totale Ausgliederung verschiedener
Funktionen in Kinderspielplätze, Fuß-
gängerbereiche und Ruhezonen, kann
keine befriedigende Lösung des Pro-
blems darstellen. Eine Straße jedoch,
die durch ihre Gestaltung zum einen
wieder sicherer wird und zum anderen
mit vielfältigem Reiz- und Anregungs-
potential ausgestattet ist, kann zum
Erlebnis- und Begegnungsraum für
Menschen verschiedener Alters-, Her-
kunfts-, Berufs- und Interessengruppen
werden.
Zunächst muß allerdings der Aufenthalt
auf der Straße nicht länger durch das
Auto und seine ihm eigene Schnellig-
keit bestimmt werden, sondern durch
die Dimension der Kinder und der' Fuß-
gänger, damit Straße nicht Gefahrenzo-
ne bleibt, sondern Lebensbereich wird.
In einer solchen Straße eröffnen sich
Chancen für verschiedene Grade von
Kontakten mit Menschen, die im glei-
chen kleinräumigen Gebiet wohnen, er-
geben sich Möglichkeiten zu ambivalen-
ten Beziehungen, die weder die Merk-
male privater Zurückgezogenheit tragen,
noch sich durch anonyme Unverbind-
lichkeit auszeichnen.
Wenn die Straße wieder ein sicherer
Bereich wird, wenn sich Vertrautheit
und Identifikation mit diesem Raum
einstellen, so kann der Straßenraum
wieder zum Erlebnis—, Erfahrungs—
und Lernfeld werden.
DIE FOLGEN DER ENTWICKLUNG
Nun soll auf die Folgen einer Verkehrs-
planung eingegangen werden, bei der
der Konflikt zwischen Kinderspielmög-
lichkeiten und dem Kfz— Verkehr ein-
deutig zu Lasten der Kinder entschie-
den worden ist. In den letzten 25 Jah-
ren verunglückten in der Bundesrepublik
bei Verkehrsunfällen 1,36 Mio. Kinder,
davon starben 36.000 Kinder sofort,
20.000 an den Unfallfolgen; der Rest
bleibt zum Teil lebenslang körperlich
und geistig behindert und psychisch
traumatisiert. Gemessen an der Unfall-
rate nimmt die Bundesrepublik im in-
ternationalen Vergleich einen Spitzen-
platz ein. Das Unfallrisiko für Kinder
wird von Jahr zu Jahr größer.
Bei Straßenverkehrsunfällen 1976
als Fußgänger oder Radfahrer verun-
glückte Kinder im Alter unter 15 Jah-
ren (bezogen auf 100.000 Kinder die-
ser Altersgruppe)
Inzwischen haben wir uns daran ge-
wöhnt, mit dieser Art ‚„‚Dauer—Kata-
strophe” zu leben. Vor allem sind es
die Kinder und die alten Menschen, die
Foto: Wolfgang Krolow. Aus dem Fotoband „Kinder in Kreuzberg”
20