Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1979, Jg. 11, H. 43-47, [48])

Erweiterung des Straßenraumes. Auch 
wenn kein Mensch auf der Straße läuft, 
hat man das Gefühl, unter Menschen, in 
gemütlicher Umgebung und geborgen zu 
sein. 
Auf eine im einzelnen ganz andere 
Weise entsteht in den Niederlanden ein 
geradezu mittelmeerisches Straßenerleb- 
nis: unter vielen Menschen zu sein. 
ERKER 
(1.11) 
Ein Erker stellt eine Vermittlungsstelle 
zwischen innen und außen dar: durch 
das Herauskragen des Innenraumes in den 
Außenraum findet eine gewisse räumli- 
che (und plastische) Verschränkung und 
Überlagerung statt; der Erker weist auf 
den Innenraum hin; über den Erker er- 
hält der Innenraum zum Außenraum 
einen intensiven Bezug. 
Der Erker weckt vielfältige Gedanken- 
verbindungen (Assoziationen): 
® er ist ein hervorgehobener Punkt 
(Akzent), 
® ein vorgeschobener Beobachtungspunkt, ® 
= der auch das Außenfeld mit Bedeutung 
auflädt (sonst würde man es nicht für 
beobachtungswürdig halten). 
Er weckt das Interesse der Vorbeigehen- 
den für die Bewohner (daher wurde er 
oft als Statuszeichen mißbraucht). 
Man kann sich selbst vorstellen, wie 
man den Erker benutzen würde (psy- 
chologische Eigenprojektion). 
Der Erker ist ein Element, das durch sei- 
ne Kleinmaßstäblichkeit zur Identifizie- 
rung der Straßen- und Hausbenutzer mit 
dem Gebäude beiträgt (siehe: Kleinmaß- 
stäblichkeit). 
Der Erker ist auch als Möglichkeit nütz- 
lich, die Wohnung auf der Windschatten- 
seite querzulüften. 
Beispiele: Spätmittelalterliche Altstädte, Bürger- 
häuser des 19. Jahrhunderts, Arbeiter-Reihen- 
häuser in enalischen Industriestädten. 
FM 
FACHWERK 
(1.12) 
Das Fachwerk 
® macht eine Hauswand kleinmaßstäblich. 
® Es zeigt die Konstruktionsweise. 
® Es gibt der Wand einen Reichtum an 
Details 
® und wirkt als Ornament. 
Fachwerkkonstruktionen regen die techni- 
sche und ornamentale Phantasie an. 
SCHMUCK 
(1.13) 
Eine Fachwerk-Wand ist eine ornamentale 
Fassade. Auch Backsteinwände haben orna 
mentale Züge. 
Gelegentlich findet man Backsteine so- 
gar zu ausgeprägten Ornamenten verarbei- 
tet (Ziegelornamente, meist in Gesimsen). 
Ornamente lassen sich auch nachträglich 
auf Fassaden anbringen: durch Bemalung. 
Die unterbewußte Wirkung des Schmuk: 
kes führt zu einer Art traumhafter, absichts 
loser Meditation. 
In historischen Bauten wurde Schmuck 
häufig zur Darstellung von Reichtum (der 
ihn oft erst in größerem Ausmaß ermöglich- 
te) oder zur Hervorhebung des Besitzers 
verwandt. In der Volksarchitektur diente 
er jedoch meist zur Hebung des Wohlbe- 
findens der Bewohner und der Öffentlich- 
keit und dadurch zur Stärkung des Selbst- 
bewußtseins. 
Balkone können oft auch nachträg- 
lich angebaut werden — zumindest in un- 
teren Obergeschossen. Die Rolle des Bal- 
kons kann auch der Ausbau eines Flach- 
daches zum Dachgarten erfüllen. 
Es ist unverständlich, warum Flach- 
dächer nicht häufiger genutzt werden. 
Ihr Ausbau ist technisch einfach und bil- 
lig. 
Beispiele: Viele Arbeiterhäuser zeigen oft in vie- 
lerlei Gestaltungsformen — meist nachträglich 
von eigener Hand angebracht — die Lust am 
Schmücken. 
BALKON 
(1.14) 
Wo eine Wohnung keinen unmittelbaren 
Freiraum auf der Erde hat, wird als Er- 
satz dafür häufig ein Balkon gebaut. 
Frühe Spekulationsbauten hatten kei- 
ne Balkone. Seit etwa 1960 gehört der Bal- 
kon zum Standard einer Wohnung in mehr- 
geschossigen Bauten. 
Psychologisch erfüllt er das Bedürfnis, 
einen Augenblick in den Außenraum tre- 
ten zu können: 
® Als Flucht vor der Enge des Innen- 
raumes, 
oder um das Gefühl zu haben, mit der Das Dach hat 
Umwelt in Kontakt zu kommen. @ funktionelle Bedeutung als Regen- 
Physiologisch braucht der Körper als schutz und Isolierung. 
Anregung des Stoffwechsels von Stun- gg Es spielt bei der Maßstäblichkeit eines 
de zu Stunde eine Temperaturverän- Gebäudes eine wichtige Rolle. 
derung. ® Es ist als Gestaltungselement („Hut 
Die Balkone der Sozialwohnungen sind des Hauses’) wirksam und kann — je 
zu klein (ca. 3 qm). Wenn der Balkon eine nachdem — eine Spannweite an psycho- 
gewisse Entfaltungsmöglichkeit als Bewe- logischen Wirkungen haben 
gungsraum (für das Kleinkind im Krabbel- g und bietet eine Art Ornamentierung 
alter wie auch für den Erwachsenen) so- (z.B. durch kleinteilige Ziegel). 
wie genügend Fläche für mehrere Personen g Die funktionelle Bedeutung des Daches 
kann sich erweitern: wenn es betretbar 
ist. Dann ist es eine zusätzliche Sze- 
nerie 
DACHVORSPRUNG 
(1.15) 
Beispiel: In der erbitterten theoretischen Debat- 
te zwischen den sogenannten Konservativen und 
den Vertretern des Neuen Bauens spielt die 
Dachform seit den Zehner Jahren eine Schlüssel- 
rolle. In ihr wird der Konflikt zwischen zwei 
unterschiedlichen psychologischen Zielvorstel- 
lungen geradezu fetischisiert. Die wirkliche Ebe 
ne, die psychologische, wird jedoch nur selten 
offengelegt und so gut wie nie an der realen 
Bedürfnislage gemessen. Einfache Sachverhalte 
wie Geborgenheit oder Offenheit werden ne- 
bulös und magisch aufgeladen und dadurch zu 
Orthodoxien 
ARKADE 
(1.17) 
Die Arkade ist die wirksamste Form der 
Durchbrechung der Wand: Der Außenraum 
geht durch die Fassade hindurch. Man 
kann in der Öffentlichkeit sozusagen durch 
ein Gebäude gehen. Die Öffentlichkeit wird 
in das Gebäude eine Schicht weit hereinge- 
lassen. 
In oberitalienischen Städten durften 
Eigentümer über viele Jahrhunderte hin- 
weg nur ein Haus bauen, wenn sie der Öf 
fentlichkeit einen Teil ihres Grundes zur 
Verfügung stellten — in Form eines Arka- 
denganges. 
Wo diese soziale Form durchgesetzt 
wurde, zeigt sie in erster Linie, daß die 
Öffentlichkeit sich ihr Recht gesichert 
hat — ihr Recht auch an einem privaten 
Gebäude. 
Die Arkade ist ein wettergeschützter 
Weg mit einem Dach, das Regen, Sonne 
und meist auch Wind abhält. Der Weg 
wird dadurch häufiger, vielfältiger und 
angenehmer benutzbar. 
Es ist leicht möglich, vor Häuser 
zum Sitzen, Essen oder Sonnen im Liege- 
stuhl bieten soll, muß er wenigstens 2x4 
Meter groß sein (8 am). 
AA
	        
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