Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1979, Jg. 11, H. 43-47, [48])

desto mehr können sie ihre Wohnung 
und ihr Wohnumfeld nach ihren eigenen 
Interessen verändern. Wo sich die Bevöl- 
kerung einen Wohnbereich aneignet, 
kann man von „zweiten Architekten” 
sprechen, wenn sie ihn nach ihren Bedürf- 
nissen umgestalten. 
nierung von Ladenburg (Neckar) wird 
mit Rahmenplänen betrieben, die klein 
maßstäblich ohne Zwang zur Vollstän- 
digkeit und flexibel angelegt sind. 
Pläne werden im übrigen nicht nur 
dort benötigt, wo sie als juristische Fest- 
legungen von Parlamenten verabschiedet 
werden sollen, sondern sie können auch 
dazu dienen, Überlegungen und Prozesse 
darzustellen. Jeder Block und jede Sied- 
lung sollte seine eigenen Pläne für eine 
soziale Infrastruktur haben (vgl. Pavia). 
Soziale Infrastruktur umfaßt dabei jede 
Art von Verbesserung des Wohnumfeldes. 
ORGANISATION DER ANEIGNUNG 
Wie kann die Aneignung durch die Be- 
nutzer organisiert werden? 
7. Beispiel: In den Niederlanden gibt es 
freiheitlichere Gesetze und ein entwickeltes 
Selbstvertrauen vieler Menschen. Der Ge- 
setzgeber hat das Leerstehenlassen von Häu- 
sern angesichts der Wohnungsnot zu Recht Aufgabe des Staates (der dazu in. demo: 
als unsoziales Verhalten angesehen und kratischen Prozessen gezwun rd 
Konsequenzen gezogen: er stellt das soziale SO TOZESBEN gEZWÜNGSN WErGEN 
Recht des Wohnens über das Figentumsrecht: mu) An . x 
daher dürfen leerstehende Wohnungen be- edit Rahmenbedinqungen FON 
. RA x ren, die die eigene Tätigkeit — einzeln 
setzt werden (niederländisch: kraken). Vie- und in der Gruppe — ermöglichen und 
le junge Menschen sind so selbstbewußt, Tördern 
Pen ee gas Uiete vor Betten lu die Mittel bereitzustellen, die über die 
sern aufzuweisen. Die Hausbesetzer (Kra- nee en Möolichkeiten und über 
ker) haben sich zu einer Vereinigung zu- die der Gruppe hinausgehen, 
wichtige Voraussetzungen zu schaffen 
sammengeschlossen, zum Krakbond. Sie Erschließung u.a;) 
machen eine eigene Zeitschrift und veran- CS Van 9 
ie Beratung zu organisieren und zu 
staiten Tagungen. finanzieren. die die eigenen Möglich- 
2. Beispiel: Die 1972 gegründete Arbeiter- keiten überstei 9 9 
initiative Eisenheim in einer Oberhause- Se HE StEINEn. 
ner Arbeitersiedlung rief für ihr Viertel 
die Selbstverwaltung aus. Die Leute sag- 
ten: Nichts geht mehr ohne uns. Wenn 
der Eigentümer der Häuser oder eine Büro- 
kratie etwas in unserem Viertel tun, will, 
müssen sie mit uns reden. Im Rahmen der 
Sanierung (nach Städtebauförderungsge- 
setz) nutzten die Bewohner die Mitbe- 
stimmungsrechte. Weiterhin funktionier- 
ten sie ein nicht mehr benötigtes Wasch- 
haus zu einem Volkshaus um, ein zweites 
zu einem Kinderhaus. Im Volkshaus feiern 
sie nicht nur ihre Feste, sondern sie halten 
dort auch jeden Monat eine Vollversamm- 
lung ab, wo sie besprechen, was sie tun 
wollen. Sie haben sich im Kampf um 
ihre Erhaltung gesagt: Einfach anfangen! 
Nach fünf Jahren hatten sie gewonnen 
und die Siedlung wurde modernisiert 
— nach den Wünschen der Bewohner. 
Jetzt bleiben sie als Selbstverwaltung der Literatur: nn 
Siedlung zusammen und entwickeln gemein- ” DOT RETTEN (VS EN HE Dra 
sam ihr sozialkulturelles Leben. Dafür ver- 1976, S. 22/27 (Beraternetz). 
lieh ihnen die Kulturpolitische Gesellschaft — Wilfried NELLES/Reinhard OPPERMANN, 
den Kulturpreis 1978. Alternativen der Politikberatung. Beratung 
3. Beispiel: Mehrere Stadtkreise (Boroughs) N EKT OT TOT a Bere dr Po: 
von London sind mit einem Netz von de- Arbeitersiedlungen im Ruhrgebiet: ARCH+ 
mokratisch gewählten Nachbarschaftsräten 38/1978, S. 34/38 
(neighbourhood councils) überzogen. Sie 
ermuntern die Bevölkerung zur Selbstor- 
ganisation im Quartier und zu Mietergrup- 
pen. (Val. auch Bologna und Pavia). 
Max Frisch über Planer: 
„Viele Architekten begehen die Rück- 
sichtslosigkeit, für sich selbst zu e 
bauen. Das können.sie tun, wenn 
sie ein Monument bauen” 
INFRASTRUKTURPLAN 
Daß die gängigen Instrumente der Planung 
wie der Flächennutzungsplan und der Be- 
bauungsplan immer fragwürdiger werden, 
'1äßt sich überall dort erkennen, wo Planung 
nach differenzierten Bedürfnissen betrie- 
ben wird. 
Die außerordentlich aualitätsvolle Sa- 
BERUFSPERSPEKTIVE FÜR PLANER 
Die gängige Honorar-Ordnung ist aus der 
Neubau-Tätigkeit abgeleitet. Sie prämiert 
das Bauvolumen und damit auch die sinn- 
lose Verschwendung. Jede Gemeinde hat 
jedoch das Recht, als freie Vereinbarung 
Dienstleistungsverträge mit Architekten 
abzuschließen: für einen Stunden- oder 
Tagesaufwand von Beratern. 
Unter dieser Voraussetzung ist ein Be- 
rater in der Lage, die Eigentätigkeit der 
Bewohner mit fehlendem Expertenwissen 
zu ergänzen. Und: er wird dafür honoriert, 
daß er Hinweise für das Einsparen von 
Finanzmitteln gibt. 
Nach dem Vorbild des 1978 in Berlin 
gegründeten Selbsthilfe-Netzwerks könner 
sich Gruppen zusammentun und sich eine 
„Zweite Steuer” auferlegen (projektorien- 
tiert, zeitlich begrenzt). Diese zweite 
Steuer kann dazu dienen, Berater-Tätig- 
keiten zu honorieren. 
Die Architekten müssen selbst in den 
nächsten Jahren mithelfen, daß diese Mög- 
lichkeiten entstehen: durch gezielte Be- 
wußtseinsbildung. 
Es geht nicht darum, einen Berufsstand 
mit Überkapazität zu versorgen, sondern 
real vorhandene Unterkapazitäten an Ex- 
pertenwissen zugunsten der breiten Bevöl- 
kerung zu decken. 
Die Bewohner eines Blocks oder einer 
Siedlung setzen durch, daß sie bestimmen 
dürfen, wer den Planungsauftrag erhält. 
Oder: sie setzen durch, daß zum Planer 
des Investors oder der Gemeinde ein zwei- 
ter Planer als Berater der Bewohner finan- 
ziert wird. Selbstverständlich haben die 
Bewohner das Vorschlagsrecht, wer sie be- 
raten soll. 
Beispiele: Am Anfang der Siebziger Jahre führte 
die Frankfurter Volkshochschule erfolgreich 
stadtweite Kurse mit der Bevölkerung im Hin- 
blick auf eine bevölkerungsorientierte Stadt- 
planung durch. Im Martinsviertel Darmstadt 
fand advokatorische Planung statt. Bei der Sa- 
nierung der Arbeitersiedlung Eisenheim (Ober 
hausen) werden zwei Planer finanziert, die die 
Arbeiterinitiative zusätzlich zu den offiziellen 
Planern durchgesetzt hat. 
Bürgernahe Planung und „Mehr 
Demokratie wagen” (Willi Brandt) 
sind bislang nur Wählparolen ge- 
blieben. 
SOZIALE KOMMUNALPOLITIK 
Wir haben keine soziale Kommunalpoli- 
tik. Wir müssen sie erst in einem langen 
Prozeß von unten her durchsetzen. 
Nichts hindert uns daran, uns vorzu- 
stellen, wie sie aussehen könnte. 
Prinzipien: 
® Statt zentralistische Denkmäler zu 
klotzen, werden dezentrale Maßnah- 
men gefördert. Das heißt: statt weni- 
ger großer Schritte werden viele 
kleine gemacht. 
Statt die Maßnahme von oben zu pla: 
nen und durchzuführen, wird sie mit 
der Bevölkerung geplant und durch- 
geführt. 
Sie bildet einen Ansatzpunkt, um 
nicht mehr paternalistisch von oben 
her aufzupfropfen und lediglich zu 
versorgen, sondern es wird nun die 
Eigentätigkeit der Bevölkerung aufge 
nommen oder vorsichtig herausaefor- 
50
	        
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