Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1979, Jg. 11, H. 43-47, [48])

dert sowie gefördert. 
» Es wird möglichst keine Vollförderung 
gewährt, sondern die Eigenmöglichkei- 
ten der Bevölkerung werden einkalku- 
liert. 
Die Förderung ist entweder a) Anreiz; 
oder b) Beihilfe, wenn die eigenen 
Mittel nicht ausreichen; oder c) Ergän- 
zung, wenn Zusatzhilfen notwendig 
sind; oder d) Überbrückung; oder e) 
Auffangen „unrentierlicher’” Kosten; 
oder f) Beitrag; oder g) Finanzierung 
von Beratungskosten; oder h) Personal- 
kostenfinanzierung. 
9 Die Ämter arbeiten mit der Bevölke- 
rung, vor Ort und unkonventionell. Sie 
besprechen mit Bürgergruppen deren 
Möglichkeiten. 
Durch Dezentralisierung und reduzierte 
Förderung wird eine breiter angelegte 
Hilfe zur Selbsthilfe möglich. Folge: 
der Verteilungskampf in den Rathäu- 
sern wird nicht mehr auf potente Orga- 
nisationen konzentriert, sondern brei- 
ter — aber auch abgeschwächter. Denn: 
nun erhalten sehr viele ihre Chance, 
Daß dies in längerfristigen Zeiträumen 
geschieht und sich in kleinen Schritten 
vollzieht, entlastet die Debatten und 
hat die Folge, daß ruhig viele „„begehr- 
lich’”” werden können, sogar „‚begehr- 
lich’” werden sollen 
An dıe Stelle des risikolosen Verwaltens 
des Mangels und einiger denkmalhafter, 
aber wenig leistungsfähiger großer Insti- 
tutionen tritt der Mut zum Experiment 
und zum Risiko. Die Risiko-Begrenzung 
erfolgt aus der Natur der Projekte: 
kleine Maßnahmen lassen sich eher brem- 
sen, es wird schneller und auch ständig 
durchschaubarer, was ein Windei und 
was substantielle Entwicklung ist. 
Das parlamentarische Verfahren wird 
verändert. Die Bezirksausschüsse sind 
nun Arbeitsgremien (nich tmehr bloß 
Anhörungsgremien); sie erhalten be- 
stimmte Entscheidungskompetenzen 
und einen bestimmten Etat. Es gibt 
mehr Bezirksausschüsse — wenigstens 
für 20.000 Einwohner einen Ausschuß. 
Die Bezirksausschüsse haben offene 
Projektkommissionen, die die Vorarbeit 
leisten. 
Die Bevölkerung wird aufgerufen, Be- 
reichskomitees zu bilden — für jeden 
überschaubaren Block bzw. Siedlung 
(d.h. für rund 1000 Menschen). Dadurch 
wird einer Majorisierung der Bezirks- 
ausschüsse durch aktive Einzelhändler 
vorgebeugt, wie sie etwa in den Sanie- 
rungsbeiräten, aber auch in vielen 
Stadtparlamenten auftritt. 
» Die Stadtplanung und Stadtentwicklung 
geschieht vor allem in kleinem Maßstab: 
im Block- bzw. in der Siedlung. 
S- 
ALTERNATIVEN DER ÜBERGANG 
ZEIT 
8 
Wir haben keine soziale Kommunalpolitik, 
Meist nicht einmal Ansätze dazu, Und wir 
werden sie auch auf lange Zeit nicht ha- ® 
ben. Ihre Entwicklung ist ein langsamer 
Prozeß. 
Vermutlich ist sie auch nur erzwingbar 
dadurch. daß wir uns selbst nach Art von 
Nebenregierungen organisieren. Solange 
Verwaltungen und Parlament unfähig sind. 
bürgernahe Planungen, d.h. mitbestimmte 
Planungen zu machen, müssen wir unsere 
eigene Planung aufziehen. Und das selbst 
tun, was wir tun können. Ferner: Schritt- 
weise der Obrigkeit Verbesserungen ab- 
zwingen. 
Max Frisch über Politiker: 
„Die Berufspolitiker haben nicht 
soviel zustande gebracht, daß wir 
ihnen viel zutrauen können.” 
DURCHSETZUNG 
Die Repräsentanten, die die Wahlergebnis- 
se und ihre Pfründe großenteils wie mittel- 
alterliche Kanoniker verwalten, nehmen 
nach aller Erfahrung kein Problem von 
sich aus auf. Die Entscheidungsgremien 
reagieren nur auf ein langanhaltendes 
Maß an Druck aus der Bevölkerung. 
Der Widerstand und die Entwicklungs- 
kräfte werden nicht von oben hervorge- 
rufen oder gefördert, sondern stets von 
unten. Oben wird vielmehr in allen Par- 
teien die Entmündigung der Bevölkerung 
betrieben. Unter dem Stichwort der 
„Versorgung“ und der ‚Wohlfahrt‘ wer- 
den selbst wichtige soziale Schritte, die 
von unten abgerungen wurden, von den 
Repräsentanten als eine Art Fürstenge- 
schenk in feudaler Tradition präsentiert. 
Die Mitsprache und Mitbeteiligung, die 
Herausbildung von politisch handelnden 
ndividuen und Gruppen wird nicht von 
oben betrieben, sondern von unten. 
Man darf davon ausgehen, daß die S 
Desillusionierung der Bevölkerung über 
ihre Obrigkeit und ihre Repräsentanten in- ® 
zwischen weit fortgeschritten ist. 
Sie mündet keineswegs überall in Re- 
signation; vielmehr sind wichtige Bürger- 
bewegungen in vielen Bereichen in Gang 
gekommen. In den letzten zehn Jahren 
wurde von einer zunehmenden Zahl von 
Menschen, die sich nicht mehr dem feu- 
dalen Paternalismus der Konservativen 
wie auch der häufig korrumpierten Füh- 
rungen der Arbeiterbewegung überließen, 
wichtige Lernschritte in Praxis und Theo- 
rie gemacht. 
Spontan und selbstorganisiert entstan- 
den Gruppen, suchten und fanden unter- 
einander Verbindungen, lernten, ihr 
Schicksal nicht mehr als naturwüchsig 
hinzunehmen oder gegen eine ‚„,Panne” 
zu lamentieren, sondern die ökonomi- 
schen, politischen und sozialen Verhält- 
nisse zu durchschauen. 
Handlungskonzept: 
® Bildet kleine Projektgruppen. Ein ein- 
zelner kann bereits eine Gruppe sein. 
Besser: zwei bis drei. 
Sind es mehr Leute, sollten sie sich 
unbedingt in mehrere kleine Projekt- 
gruppen aufteilen. 
Es empfiehlt sich als Arbeitsgemein- 
schaft, d.h. unhierarchisch und unbüro- 
kratisch zusammenzuarbeiten. 
Die Projektgruppe macht einen groben 
Straßenplan für ihren Block, ihre Sied- 
lung oder ihr Quartier. 
Durch Ortsbegehung stellt sie fest, wel- 
che Straßen für die Durchfahrt von 
Autos unumgänglich sind. 
Dann untersucht sie, welche Straßen 
Sackgassen werden können. 
Und: in welchen der Verkehr verlang- 
samt werden muß. 
Ferner: wo Autos durch Schräg- oder 
Senkrecht-Parken gesammelt und da- 
durch freie Flächen gewonnen werden 
können. 
Sie stellt den groben Straßenplan mit 
den Eintragungen in gut erkennbarer 
Form, aber nicht perfekt gezeichnet 
‘kein großer Arbeitsaufwand) an be- 
stimmten Stellen des Viertels aus 
(Straße, vor Eckkneipen, in Kneipen, 
in Schulen) — rund 4 Wochen. 
Dabei sammelt die Projektgruppe wei- 
tere Anregungen, trägt sie ein 
und verbessert den Plan. 
Sie sammelt beim Ausstellen Unter- 
schriften. Te 
Dann macht sie eine Bürgerversamm- 
lung und lädt dazu ein: die Stadtrats- 
mitglieder des Viertels, die Stadtverwal 
tung, vor allem den Planungsdezernen- 
ten und die Leute von der Straßenver- 
kehrsbehörde sowie vom Ordnungsamt, 
ferner Vertreter der Parteien, Vertreter 
von Institutionen (Lehrer, Pfarrer, Ge- 
werkschaftsfunktionare u.a.) sowie die 
Presse. 
Eine Resolution fordert die Straßenver- 
kehrsbehörde auf, konkrete Maßnahmen 
bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zu 
ergreifen. 
Die Projektgruppe stellt konkrete Anträ- 
ge an die Verwaltung oder an das Parla- 
ment. 
Sie arbeitet mit der Verwaltung gemein- 
sam Maßnahmen aus. 
Sie setzt so lange mit Aktionen (Infor- 
mationsstände, Flugblätter, Presse-Kon- 
ferenzen, Anrufe bei Abgeordneten und 
Verwaltung, Kinder-Demonstrationen 
vor dem Rathaus und in Ausschuß- 
und Ratssitzungen u.a.) nach, bis erheb- 
liche Verbesserungen erzielt sind. 
Literatur: 
— Roland GÜNTE R/Janne GÜNTER, Bürgerini- 
tiativen: Bauwelt 49/1971. 
— Heinz GROSSMANN (Herausgeber), Bürgerini- 
tiativen, Schritte zur Veränderung. (Fischer) 
Frankfurt 1971. 
Brigitte HÖBEL/Ulrich SEIBERT, Bürgerini- 
tiativen und Gemeinwesenarbeit, (Juventa) 
München 1973. 
Willi BUTZ u.a., Bürger initiativ, (DVA) Stutt- 
gart 1974. 
Hanspeter KNIPSCH/Friedhelm NICKOLMANN, 
Die Chance der Bürgerinitiativen. (Hammer) 
Wuppertal 1976. 
Ralf DIETER, Dietmar REINBORN, Thomas 
SCHALLER, Bürger planen Verkehrsberuhi- 
gung selbst. Wie die Bürgerinitiative „‚Verkehrs- 
entlastung Stuttgart-Mitte/Süd’’ Planen von 
unten machte: ARCH+, 31/1976, S. 33/37 
(konkrete Aktionen). 
Lore DITZEN, Institutionalisierte Anwaltspla- 
nung in Holland, ‚„‚Inspraak’’ bei der Stadterneue- 
rung — das niederländische Beispiel: ARCH+ 
29/1976, S. 17/19. 
Roland GÜNTER/Rolf HASSE, Handbuch für 
Bürgerinitiativen, (USA) Westberlin 1976 (u.a. 
Mustersatzung zur Eintragung als Verein, 
Argumentationstechniken der Gegenwehr). 
Jörg BOSTRÖM/Roland GÜNTER (Heraus- 
geber), Arbeiterinitiativen, (VSA) Westber- 
lin 1976 (u.a. Schulung in mehreren Bereichen 
z.B. Öffentlichkeitsarbeit). 
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