Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1979, Jg. 11, H. 43-47, [48])

Ulli Hellweg 
Sozialkulturelle Aspekte einer arbeit- 
nehmerorientierten Wohnumfeldplanung 
Die sozialen und kulturellen Gewohnhei- 
ten und Traditionen der arbeitenden Be- 
völkerung im Ruhrgebiet waren bis zum 
Eintritt der Kohlekrise Ende der 50er 
Jahre wesentlich enger mit dem industri- 
ellen Berufsalltag verbunden als dies 
heute noch der Fall ist. 
Industrielle Standortverlagerung, Ar- 
beitsplatz- und Berufsverlust, Umschu- 
lung, Verkauf der Werkssiedlungen, er- 
höhter Mobilitätszwang etc. haben viele 
der ehemals homogenen Arbeiterquartie- 
re aufgelöst. Statistischer Ausdruck die- 
ses Prozesses ist die Tatsache, daß 1/3 
der Ruhrgebietsbevölkerung innerhalb 
von nur 6 Jahren (1970 bis 1975) „,um- 
geschichtet” wurde‘. 
Geht man davon aus, daß es Ziel 
kommunaler Planung sein soll, die Bin- 
dungen zwischen einer Stadt und ihrer 
Bevölkerung zu stärken, so müssen sich 
kommunale Maßnahmen und Planungen 
daraufhin hinterfragen lassen, inwieweit 
sie „funktionierende” Sozialstrukturen 
unterstützen bzw. brüchige stabilisieren. 
Ohne hier die Einflußmöglichkeiten kom- 
munaler Politik und Planung, den Mo- 
bilitätsdruck abzuschwächen, überschät- 
zen zu wollen, steht außer Zweifel, daß 
kommunale Planungspraxis bisher so- 
ziale Erosionsprozesse nicht nur nicht 
aufhält, sondern direkt oder indirekt un- 
terstützt. 
Gerade das Wohnumfeld und die nach- 
barschaftlichen Zusammenhänge bilden 
den Raum sozialer Stabilisierung und 
Kontinuität. Stadtplanung, speziell Woh- 
nungsmodernisierungs- und Wohnumfeld- 
planung, nimmt auf das empfindliche 
Verhältnis von Bedürfnisstruktur und 
Nutzungsangebot positiv oder negativ 
Einfluß. Ob eine Kommune zuläßt, daß 
eine noch homogene Arbeitersiedlung 
privatisiert wird, ob sie Grabeländer als 
städtebauliche Mißstände beseitigt und 
Gärten mit Eigenheimen bebauen läßt, 
ob sie eine Schule oder einen Kindergar- 
ten schließt, weil die notwendigen Min- 
dest-Zahlen nicht mehr erreicht werden 
usw. immer werden solche Maßnahmen 
unmittelbar Auswirkungen auf die Ent- 
wicklung der Sozialstruktur im Viertel 
haben. 
Umgekehrt ausgedrückt beinhaltet 
eine sozialorientierte Wohnumfeldpla- 
nung«die reale Chance zur Stabilisierung 
der Sozialstruktur, zur Verhinderung 
von Stadtflucht und schließlich zur Her- 
stellung „urbaner Qualitäten”. 
Voraussetzung hierfür ist jedoch, daß 
die Priorität der gebrauchswertorientier- 
ten konkreten Nutzungsansprüche der 
Bevölkerung gegenüber den Verwertungs- 
interessen anerkannt wird und die Be- 
wohner selbst an den ihr Viertel betref- 
fenden Planungen und Entscheidungen 
teilnehmen können. 
Bürgerschaftliches Engagement, demo- 
kratische stadtteilbezogene Entscheidungs- 
strukturen und schließlich bedürfnisbezo- 
gene Stadtteilplanung dürften wesentlich 
effektivere Instrumente zur Bekämpfung 
der Stadtflucht sein als die Ausweisung al: 
ler nur verfügbaren Flächen für die Eigen- 
heimbebauung. 
Eine der wesentlichsten Möglichkeiten 
der Kommune, über Wohnumfeldmaßnah- 
men die nachbarschaftlichen und sozialen 
Bindungen in und die Identifizierung mit 
einem Stadtteil bzw. Wohnquartier zu 
stärken, liegt in einer stadtteilbezogenen 
Kulturpolitik. 
Im Rahmen der Bürger- und Jugendini- 
tiativbewegung hat in den letzten Jahren 
eine Wiederaufnahme von stadtteilbezo- 
genen Kulturaktivitäten stattgefunden. 
In Gelsenkirchen kämpft die Bürgerinitia- 
tive Flöz Dickebank, nachdem sie mit 
Erfolg die Erhaltung ihrer Siedlung durch- 
gesetzt hat, für ein Volkshaus, das durch 
Umbau des alten, ausrangierten Wasch- 
hauses geschaffen werden soll2; in Ober- 
hausen werden Überlegungen zur Um- 
wandlung einer alten Fabrik („‚Alten- 
berg’) in ein Kulturzentrum angestellt; 
in zahlreichen Städten haben sich Initia- 
tiven für selbstverwaltete Jugendzentren 
gebildet, die z.T. bereits existieren (z.B. 
Eschhaus in Duisburg, Komic in Gelsen- 
kirchen, Fabrik K-14 in Oberhausen). 
„Auch in der gewerkschaftlichen Ju- 
gendarbeit (vor allem durch das „junge 
Forum” im Rahmen der Ruhrfestspiele) 
findet eine Neuorientierung der Kultur- 
arbeit auf die konkreten Alltagserfahrun- 
gen (Arbeitslosigkeit, Betriebskonflikt) 
der Jugendlichen statt. Wesentliche For- 
derung ist dabei die Dezentralisierung der 
Kulturarbeit, sowohl in bezug auf das 
„‚Junge forum” als darüber hinaus grund- 
sätzlich. 3 
Ein institutioneller Ansatz für die Ver- 
bindung dezentraler betrieblicher und 
stadtteilbezogener Aktivitäten könnte 
die DGB-VHS-Arbeitsgemeinschaft „‚Ar- 
beit und Leben” sein, die sich bis jetzt 
allerdings noch im wesentlichen auf die 
Durchführung zentraler Veranstaltungen 
beschränkt. 
Der offizielle städtische Kulturbetrieb 
vollzieht sich noch jenseits dieser Entwick- 
lungen in den Cities der Großstädte. Die 
in den 60er und beginnenden 70er Jahren 
wesentlich zum Zweck der Attrahierung 
qualifizierter Arbeitskräfte gebauten 
„‚Kulturpaläste’” haben ganz offensicht- 
lich ihren Zweck nicht erfüllt, verschlin- 
gen indes jedoch den Hauptteil der zur Ver 1. Überprüfung stadtplanerischer Maß- 
fügung stehenden finanziellen Ressourcen4, nahmen auf soziale und soziokultu- 
Wie das Duisburger Beispiel zeigt, haben relle Konsequenzen 
unter den Bedingungen verschärfter fiska- 
lischer Krise vor allem die dezentralen. 
also die unmittelbar für die Versorgung 
der Bevölkerung maßgeblichen Kulturak- 
tivitäten (Schließung der Stadtteil-Biblio- 
theken)5 zu leiden. 
Eine arbeitnehmer- und sozialorientier- 
te Wohnumfeldpolitik müßte schrittweise 
die dezentralen Kulturaktivitäten auswei- 
ten und vor allem die bürgerschaftlichen 
Initiativen (Volkshaus-, Ausländer-, Jugend- 
zentrumsbewegung) aktiv unterstützen. 
Ziel einer solchen Kulturpolitik ist die 
Stärkung sozialer Beziehungen in den Stadt- 
teilen, Identifikation mit dem Quartier, 
Aktivierung eines breiten bürgerschaftli- 
chen Engagements für die Erhaltung und 
Verbesserung des Lebensraumes. 
Bestandteil einer solchen dezentralen, 
wohnquartierbezogenen Kulturpolitik ist 
auch die Unterstützung der Kultur- und 
landsmannschaftlichen Aktivitäten der 
ausländischen Bevölkerung, deren Eigen- 
ständigkeit anerkannt werden muß. 
Wesentlich ist in diesem Zusammen- 
hang, daß homogene Sozialstrukturen 
ausländischer Bevölkerung nicht von vorn- 
herein als „‚Ghetto’’ betrachtet und einer 
sozialen Zwangsdurchmischung unterwor- 
fen werden. Ausländerwohnquartiere 
werden erst dann zu Ghettos, wenn sie 
wegen der städtebaulichen Mißstände von 
allen anderen Wohnschichten gemieden 
werden. Ghetto-Bildung kann nicht da- 
durch verhindert werden, daß Ausländer- 
wohnquartiere ‚„‚wegsaniert’” werden 
— sie entstehen nämlich dann anderswo —, 
sondern indem die Wohnquartiere baulich 
und städtebaulich nicht vernachlässigt 
bzw. bedürfnisgerecht modernisiert wer- 
den. Hierauf kann die Gemeinde mit ih- 
rem bau- und wohnungsaufsichtsrechtli- 
chen Instrumentarium weitgehenden Ein- 
fluß nehmen. 
Auch im Bereich der sozialen Infrastruk- 
tur und Wohnumfeldplanung kann die 
Gemeinde wesentlich zur Verbesserung 
der Lebensbedingungen ausländischer Ar- 
beiterfamilien in den Wohnquartieren und 
damit zur Stabilisierung des Stadtteils bei- 
tragen. Neben einem ausreichenden Ange- 
bot an Bildungseinrichtungen (auch wei- 
terführende Schulen!) gehören hierzu die 
Unterstützung von Ausländervereinen, 
stadtteilbezogenen Ausländerfesten und 
vor allem die Förderung von Ausländer- 
zentren. 
ZUSAMMENFASSUNG DER ANFOR- 
DERUNGEN AUS DEN SOZIALKUL- 
TURELLEN NUTZUNGSANSPRÜCHEN 
AN DAS WOHNUMFELD 
Verkehrsplanungen, Sanierungen, Wohnum: 
A}
	        

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