Ulli Hellweg
Sozialkulturelle Aspekte einer arbeit-
nehmerorientierten Wohnumfeldplanung
Die sozialen und kulturellen Gewohnhei-
ten und Traditionen der arbeitenden Be-
völkerung im Ruhrgebiet waren bis zum
Eintritt der Kohlekrise Ende der 50er
Jahre wesentlich enger mit dem industri-
ellen Berufsalltag verbunden als dies
heute noch der Fall ist.
Industrielle Standortverlagerung, Ar-
beitsplatz- und Berufsverlust, Umschu-
lung, Verkauf der Werkssiedlungen, er-
höhter Mobilitätszwang etc. haben viele
der ehemals homogenen Arbeiterquartie-
re aufgelöst. Statistischer Ausdruck die-
ses Prozesses ist die Tatsache, daß 1/3
der Ruhrgebietsbevölkerung innerhalb
von nur 6 Jahren (1970 bis 1975) „,um-
geschichtet” wurde‘.
Geht man davon aus, daß es Ziel
kommunaler Planung sein soll, die Bin-
dungen zwischen einer Stadt und ihrer
Bevölkerung zu stärken, so müssen sich
kommunale Maßnahmen und Planungen
daraufhin hinterfragen lassen, inwieweit
sie „funktionierende” Sozialstrukturen
unterstützen bzw. brüchige stabilisieren.
Ohne hier die Einflußmöglichkeiten kom-
munaler Politik und Planung, den Mo-
bilitätsdruck abzuschwächen, überschät-
zen zu wollen, steht außer Zweifel, daß
kommunale Planungspraxis bisher so-
ziale Erosionsprozesse nicht nur nicht
aufhält, sondern direkt oder indirekt un-
terstützt.
Gerade das Wohnumfeld und die nach-
barschaftlichen Zusammenhänge bilden
den Raum sozialer Stabilisierung und
Kontinuität. Stadtplanung, speziell Woh-
nungsmodernisierungs- und Wohnumfeld-
planung, nimmt auf das empfindliche
Verhältnis von Bedürfnisstruktur und
Nutzungsangebot positiv oder negativ
Einfluß. Ob eine Kommune zuläßt, daß
eine noch homogene Arbeitersiedlung
privatisiert wird, ob sie Grabeländer als
städtebauliche Mißstände beseitigt und
Gärten mit Eigenheimen bebauen läßt,
ob sie eine Schule oder einen Kindergar-
ten schließt, weil die notwendigen Min-
dest-Zahlen nicht mehr erreicht werden
usw. immer werden solche Maßnahmen
unmittelbar Auswirkungen auf die Ent-
wicklung der Sozialstruktur im Viertel
haben.
Umgekehrt ausgedrückt beinhaltet
eine sozialorientierte Wohnumfeldpla-
nung«die reale Chance zur Stabilisierung
der Sozialstruktur, zur Verhinderung
von Stadtflucht und schließlich zur Her-
stellung „urbaner Qualitäten”.
Voraussetzung hierfür ist jedoch, daß
die Priorität der gebrauchswertorientier-
ten konkreten Nutzungsansprüche der
Bevölkerung gegenüber den Verwertungs-
interessen anerkannt wird und die Be-
wohner selbst an den ihr Viertel betref-
fenden Planungen und Entscheidungen
teilnehmen können.
Bürgerschaftliches Engagement, demo-
kratische stadtteilbezogene Entscheidungs-
strukturen und schließlich bedürfnisbezo-
gene Stadtteilplanung dürften wesentlich
effektivere Instrumente zur Bekämpfung
der Stadtflucht sein als die Ausweisung al:
ler nur verfügbaren Flächen für die Eigen-
heimbebauung.
Eine der wesentlichsten Möglichkeiten
der Kommune, über Wohnumfeldmaßnah-
men die nachbarschaftlichen und sozialen
Bindungen in und die Identifizierung mit
einem Stadtteil bzw. Wohnquartier zu
stärken, liegt in einer stadtteilbezogenen
Kulturpolitik.
Im Rahmen der Bürger- und Jugendini-
tiativbewegung hat in den letzten Jahren
eine Wiederaufnahme von stadtteilbezo-
genen Kulturaktivitäten stattgefunden.
In Gelsenkirchen kämpft die Bürgerinitia-
tive Flöz Dickebank, nachdem sie mit
Erfolg die Erhaltung ihrer Siedlung durch-
gesetzt hat, für ein Volkshaus, das durch
Umbau des alten, ausrangierten Wasch-
hauses geschaffen werden soll2; in Ober-
hausen werden Überlegungen zur Um-
wandlung einer alten Fabrik („‚Alten-
berg’) in ein Kulturzentrum angestellt;
in zahlreichen Städten haben sich Initia-
tiven für selbstverwaltete Jugendzentren
gebildet, die z.T. bereits existieren (z.B.
Eschhaus in Duisburg, Komic in Gelsen-
kirchen, Fabrik K-14 in Oberhausen).
„Auch in der gewerkschaftlichen Ju-
gendarbeit (vor allem durch das „junge
Forum” im Rahmen der Ruhrfestspiele)
findet eine Neuorientierung der Kultur-
arbeit auf die konkreten Alltagserfahrun-
gen (Arbeitslosigkeit, Betriebskonflikt)
der Jugendlichen statt. Wesentliche For-
derung ist dabei die Dezentralisierung der
Kulturarbeit, sowohl in bezug auf das
„‚Junge forum” als darüber hinaus grund-
sätzlich. 3
Ein institutioneller Ansatz für die Ver-
bindung dezentraler betrieblicher und
stadtteilbezogener Aktivitäten könnte
die DGB-VHS-Arbeitsgemeinschaft „‚Ar-
beit und Leben” sein, die sich bis jetzt
allerdings noch im wesentlichen auf die
Durchführung zentraler Veranstaltungen
beschränkt.
Der offizielle städtische Kulturbetrieb
vollzieht sich noch jenseits dieser Entwick-
lungen in den Cities der Großstädte. Die
in den 60er und beginnenden 70er Jahren
wesentlich zum Zweck der Attrahierung
qualifizierter Arbeitskräfte gebauten
„‚Kulturpaläste’” haben ganz offensicht-
lich ihren Zweck nicht erfüllt, verschlin-
gen indes jedoch den Hauptteil der zur Ver 1. Überprüfung stadtplanerischer Maß-
fügung stehenden finanziellen Ressourcen4, nahmen auf soziale und soziokultu-
Wie das Duisburger Beispiel zeigt, haben relle Konsequenzen
unter den Bedingungen verschärfter fiska-
lischer Krise vor allem die dezentralen.
also die unmittelbar für die Versorgung
der Bevölkerung maßgeblichen Kulturak-
tivitäten (Schließung der Stadtteil-Biblio-
theken)5 zu leiden.
Eine arbeitnehmer- und sozialorientier-
te Wohnumfeldpolitik müßte schrittweise
die dezentralen Kulturaktivitäten auswei-
ten und vor allem die bürgerschaftlichen
Initiativen (Volkshaus-, Ausländer-, Jugend-
zentrumsbewegung) aktiv unterstützen.
Ziel einer solchen Kulturpolitik ist die
Stärkung sozialer Beziehungen in den Stadt-
teilen, Identifikation mit dem Quartier,
Aktivierung eines breiten bürgerschaftli-
chen Engagements für die Erhaltung und
Verbesserung des Lebensraumes.
Bestandteil einer solchen dezentralen,
wohnquartierbezogenen Kulturpolitik ist
auch die Unterstützung der Kultur- und
landsmannschaftlichen Aktivitäten der
ausländischen Bevölkerung, deren Eigen-
ständigkeit anerkannt werden muß.
Wesentlich ist in diesem Zusammen-
hang, daß homogene Sozialstrukturen
ausländischer Bevölkerung nicht von vorn-
herein als „‚Ghetto’’ betrachtet und einer
sozialen Zwangsdurchmischung unterwor-
fen werden. Ausländerwohnquartiere
werden erst dann zu Ghettos, wenn sie
wegen der städtebaulichen Mißstände von
allen anderen Wohnschichten gemieden
werden. Ghetto-Bildung kann nicht da-
durch verhindert werden, daß Ausländer-
wohnquartiere ‚„‚wegsaniert’” werden
— sie entstehen nämlich dann anderswo —,
sondern indem die Wohnquartiere baulich
und städtebaulich nicht vernachlässigt
bzw. bedürfnisgerecht modernisiert wer-
den. Hierauf kann die Gemeinde mit ih-
rem bau- und wohnungsaufsichtsrechtli-
chen Instrumentarium weitgehenden Ein-
fluß nehmen.
Auch im Bereich der sozialen Infrastruk-
tur und Wohnumfeldplanung kann die
Gemeinde wesentlich zur Verbesserung
der Lebensbedingungen ausländischer Ar-
beiterfamilien in den Wohnquartieren und
damit zur Stabilisierung des Stadtteils bei-
tragen. Neben einem ausreichenden Ange-
bot an Bildungseinrichtungen (auch wei-
terführende Schulen!) gehören hierzu die
Unterstützung von Ausländervereinen,
stadtteilbezogenen Ausländerfesten und
vor allem die Förderung von Ausländer-
zentren.
ZUSAMMENFASSUNG DER ANFOR-
DERUNGEN AUS DEN SOZIALKUL-
TURELLEN NUTZUNGSANSPRÜCHEN
AN DAS WOHNUMFELD
Verkehrsplanungen, Sanierungen, Wohnum:
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