Lucius Burckard
Demokratie im Städtebau: Pavia
Der Artikel wurde aus der
„Basler Zeitung” übernommen
Weitblickende Italiener wollen die Re-
gierbarkeit ihres Landes von unten,
von diesen intakten Teilen her wieder
aufbauen. Das bedeutet zunächst, im
Zentralstaat Italien, die Abgabe von
Kompetenzen an die lokalen Einhei-
ten, also Dezentralisation, Föderalis-
mus. Das Decentramento schafft neue
Entscheidungsebenen: unterhalb der
Nation die Region, unterhalb der
Provinz das Comprensorio (Stadt-Um-
Jand-Verband), und unterhalb der Ge-
meinde das Quartier. Mit der Über-
schaubarkeit stellt sich auch Demokra-
tisierung ein; die Artikulation der All-
tagsbedürfnisse sollen das dunkle
Bündnis zwischen Bürokratie und
Wirtschaftsmächten durchbrechen, das
bisher den Massen das Gefühl der
Rechtlosigkeit vermittelte.
Lange Zeit war Bologna das Reiseziel
der Urbanisten und Denkmalpfleger.
In Bologna, in der seit zehn Jahren so-
zialistisch regierten Stadt, studierten
Stadtplaner, wie es möglich ist, eine
grosse Altstadt im Zentrum einer’ mo-
dernen Stadt zu erhalten ohne die
Wunderwerke zerstörerischer Ver-
kehrsplanungen: ohne Durchbrüche,
Cityringe, «Entlastungs»-Strassen,
Fussgängerzonen, Tiefgaragen usw. In
Bologna ist Verkehrsplanung nicht
Selbstzweck, nicht einmal Stadtpla-
nung wird für sich allein gemacht: alles
ist eingebettet in eine umfassende So-
zialpolitik, in eine Politik für die jetzt
hier anwesende Bevölkerung. Das be-
deutet: Die Stadterweiterung geschieht
nur im Rahmen des normalen Zu-
wachses und der Umzugsbedürfnisse
der Einwohner, nicht zugunsten von
Neuzuzügern, die irgend einmal kom-
men sollen. Die kontrollierte Er-
schliessung der neuen Aussenquar-
tiere, ein gemässigter Nulltarif und der
Ausgleich der Versorgungslage zwi-
schen Innenstadt und Stadtrand — das
sind die Eckpfeiler einer vernünftigen
Stadtplanung. Und damit diese auch
von der Bevölkerung getragen und
verstanden wird, schuf Bologna zwei
neue Beschlussebenen: Oberhalb der
Kommune das Comprensorio, den
Stadt-Umland-Verband, und unter-
halb der Stadtebene die Quartiere mit
ihren ernannten Quartierräten, die das
Recht auf Orientierung durch die
Stadt haben.
Auch die Denkmalpfleger reisten
gerne nach Bologna und studierten
dort eine Denkmalpflege im grossen
Stile: Da geht es nicht mehr um ein-
zelne Gebäude, nicht um die Rettung
von Kunstdenkmälern zwischen grauer
Alltagsarchitektur, sondern um die
Gesamtstadt. In den Zeiten der päpstli-
chen Herrschaft, die bis ins vorige
Jahrhundert gedauert hatte, war die
Stadtfläche von Bologna zu 30% von
geistlichen Gebäuden überbaut; der
Rest sind Bürgerpaläste, Bürgerhäuser
und Handwerker-Boutiquen, alle glei-
chermassen uniform durch den Zwang,
sich an den Trottoirarkaden zu beteili-
gen. Angesichts solcher Dimensionen
gelangt Denkmalpflege in die Nähe in-
dustrieller Baurationalisierung, will sie
sich nicht auf das Ausserordentliche
beschränken, sondern die Alltagsarchi-
tektur, den historischen Rahmen und
gleichzeitig die nützliche und bewohn-
bare Bausubstanz der Stadt erhalten.
In den vergangenen zwei Jahren ist es
der kleinen Stadt Pavia gelungen, die
Aufmerksamkeit der Fachwelt auf sich
zu ziehen. Pavia setzt das Experiment
Bolognas fort, weicht aber in einer ent-
scheidenden Nuance davon ab. Als
Nenni-Sozialist ist der Bürgermeister
Elio Veltri politisch weit risikofreudi-
ger als die orthodoxen Technokraten
der Bologneser kommunistischen
Junta: Veltri vertraut der Volksmei-
nung und liebt die politische Ausein-
andersetzung ohne vorausgehenden
Konsens; er will eine Bürgerbeteili-
gung ohne Einschränkung und er schuf
deshalb von allem Anfang seines Wir-
kens an Quartierkomitees mit echter
Beschlusskompetenz. In Bologna sind
die Bürgerräte noch ernannt, in Pavia
sind sie jetzt gewählt. In Bologna neh-
men sie die Beschlüsse des Stadtrates
zur Kenntnis und machen Anregungen
dazu; in Pavia verfügen sie über den
kommunalen Besitz in dem betreffen-
den Quartier sowie über denjenigen
Anteil des Gemeindebudgets, der in
einem bestimmten Zeitraum in diesem
Quartier ausgegeben werden soll.
Bologna praktiziert das Null-Wachs-
tum zugunsten der Bürger gewisser-
massen nolens volens: Wer zieht schon
nach Bologna? Pavia ist durch das
Wachstum Mailands ernsthaft bedroht:
unter der DC-Junta bot es sich an als
sicherer und angenehmer Wohnvorort
für die gehobenen Bevölkerungsklas-
sen Mailands; der allmählich sich auf-
lösende landwirtschaftliche Gross-
grundbesitz stieg direkt in das Woh-
nungsbaugeschäft um. Kein Geringerer
als der finnische Architekt Alvar Aalto
hatte noch für einen lokalen Spekulan-
ten eine Wohnüberbauung projektiert;
Elio Veltri ist sehr stolz darauf, diese
Wohnüberbauung trotz der finnischen
Prominenz verhindert und das Ge-
lände in die Landwirtschaftszone zu-
rückgestuft zu haben. Er tat dies ge-
treu dem in Bologna gelernten Grund-
satz, dass Stadtplanung eine Politik für
die heute hier anwesende Bevölkerung
sein muss, nicht zugunsten von Bevöl-
kerungsgruppen, die erst durch die
Spekulation angelockt werden müss-
sen.
Eine solche Stadtplanung zugunsten
der Bevölkerung und im Rahmen ei-
ner gesamten Sozialpolitik bedarf es
einer Doktrin sowie der gesetzlichen
Instrumente. Das Problem von Bo-
logna und Pavia ist das einer sozialisti-
schen Stadtpolitik im kapitalistischen
Staat. Die Doktrin für beide Städte
stammt von dem italienischen Stadt-
planer Prof. Giuseppe Campos-Ve-
nuti, wie er sie in mehreren Büchern
niedergelegt hat, unter anderem in
«Amministrare l’urbanistica» — die
Stadtplanung verwalten. Die indu-
strielle Grosstadt unserer Zeit ist eine
Klassenstadt, sie besteht aus einer Alt-
stadt, die sich in zwei Teile teilt, die
reiche Altstadt und die arme Altstadt,
und aus den reichen und den armen
Aussenquartieren. In der reichen Alt-
stadt wird ständig abgebrochen und
gebaut: ein Geschäft steigert dem an-
dern die Liegenschaft weg, die Bewoh-
ner werden verdrängt und der enge
Raum wird immer intensiver ausge-
nützt. In der armen Altstadt wohnt die
Unterschicht, die Gebäude verfallen,
die Besitzer interessieren sich nicht
mehr für die Rendite, sondern nur
noch dafür, wie sie die Liegenschaft
verkaufen können, das heisst, wie sie
das für sie interessante Stückchen
arme Altstadt der reichen Altstadt zu-
führen können. Von den aus der In-
nenstadt verdrängten Bewohnern zie-
hen einige in die reichen, andere in die
armen Aussenquartiere. Was spaltet
die Stadt in eine arme und eine reiche?
Campos-Venuti gibt die Antwort dar-
auf: Der Wert des städtischen Bodens
besteht aus der Grundrente und der
Differentialrente. Die Grundrente ent-
steht dadurch, dass der Boden vom
agrarischen zum Stadtboden wird, Ak-
kerland zu Bauland. Die Differential-
rente entsteht durch die unterschiedli-
che Ausstattung dieses Bodens mit
Dienstleistungen. Nur selten besteht
die Differentialrente aus Unterschieden
natürlicher Art: etwa die Aussicht auf
einen See oder ins Gebirge. Meist sind
die Ausstattungen künstlich und ge-
baut: eine gute Versorgung mit Ge-
schäften, Schulen, Transportmitteln,
Erbolungsstätten und Parks. Diese
Ausstattungen verteilen sich nach dem
Grundsatz «Wer da hat, dem wird ge-
geben». Die private Folgeleistung eilt
zu ihrer Kundschaft, also zur Stadtmit-
te oder in die reichen Aussenquartiere.
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