Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1979, Jg. 11, H. 43-47, [48])

Lucius Burckard 
Demokratie im Städtebau: Pavia 
Der Artikel wurde aus der 
„Basler Zeitung” übernommen 
Weitblickende Italiener wollen die Re- 
gierbarkeit ihres Landes von unten, 
von diesen intakten Teilen her wieder 
aufbauen. Das bedeutet zunächst, im 
Zentralstaat Italien, die Abgabe von 
Kompetenzen an die lokalen Einhei- 
ten, also Dezentralisation, Föderalis- 
mus. Das Decentramento schafft neue 
Entscheidungsebenen: unterhalb der 
Nation die Region, unterhalb der 
Provinz das Comprensorio (Stadt-Um- 
Jand-Verband), und unterhalb der Ge- 
meinde das Quartier. Mit der Über- 
schaubarkeit stellt sich auch Demokra- 
tisierung ein; die Artikulation der All- 
tagsbedürfnisse sollen das dunkle 
Bündnis zwischen Bürokratie und 
Wirtschaftsmächten durchbrechen, das 
bisher den Massen das Gefühl der 
Rechtlosigkeit vermittelte. 
Lange Zeit war Bologna das Reiseziel 
der Urbanisten und Denkmalpfleger. 
In Bologna, in der seit zehn Jahren so- 
zialistisch regierten Stadt, studierten 
Stadtplaner, wie es möglich ist, eine 
grosse Altstadt im Zentrum einer’ mo- 
dernen Stadt zu erhalten ohne die 
Wunderwerke zerstörerischer Ver- 
kehrsplanungen: ohne Durchbrüche, 
Cityringe, «Entlastungs»-Strassen, 
Fussgängerzonen, Tiefgaragen usw. In 
Bologna ist Verkehrsplanung nicht 
Selbstzweck, nicht einmal Stadtpla- 
nung wird für sich allein gemacht: alles 
ist eingebettet in eine umfassende So- 
zialpolitik, in eine Politik für die jetzt 
hier anwesende Bevölkerung. Das be- 
deutet: Die Stadterweiterung geschieht 
nur im Rahmen des normalen Zu- 
wachses und der Umzugsbedürfnisse 
der Einwohner, nicht zugunsten von 
Neuzuzügern, die irgend einmal kom- 
men sollen. Die kontrollierte Er- 
schliessung der neuen Aussenquar- 
tiere, ein gemässigter Nulltarif und der 
Ausgleich der Versorgungslage zwi- 
schen Innenstadt und Stadtrand — das 
sind die Eckpfeiler einer vernünftigen 
Stadtplanung. Und damit diese auch 
von der Bevölkerung getragen und 
verstanden wird, schuf Bologna zwei 
neue Beschlussebenen: Oberhalb der 
Kommune das Comprensorio, den 
Stadt-Umland-Verband, und unter- 
halb der Stadtebene die Quartiere mit 
ihren ernannten Quartierräten, die das 
Recht auf Orientierung durch die 
Stadt haben. 
Auch die Denkmalpfleger reisten 
gerne nach Bologna und studierten 
dort eine Denkmalpflege im grossen 
Stile: Da geht es nicht mehr um ein- 
zelne Gebäude, nicht um die Rettung 
von Kunstdenkmälern zwischen grauer 
Alltagsarchitektur, sondern um die 
Gesamtstadt. In den Zeiten der päpstli- 
chen Herrschaft, die bis ins vorige 
Jahrhundert gedauert hatte, war die 
Stadtfläche von Bologna zu 30% von 
geistlichen Gebäuden überbaut; der 
Rest sind Bürgerpaläste, Bürgerhäuser 
und Handwerker-Boutiquen, alle glei- 
chermassen uniform durch den Zwang, 
sich an den Trottoirarkaden zu beteili- 
gen. Angesichts solcher Dimensionen 
gelangt Denkmalpflege in die Nähe in- 
dustrieller Baurationalisierung, will sie 
sich nicht auf das Ausserordentliche 
beschränken, sondern die Alltagsarchi- 
tektur, den historischen Rahmen und 
gleichzeitig die nützliche und bewohn- 
bare Bausubstanz der Stadt erhalten. 
In den vergangenen zwei Jahren ist es 
der kleinen Stadt Pavia gelungen, die 
Aufmerksamkeit der Fachwelt auf sich 
zu ziehen. Pavia setzt das Experiment 
Bolognas fort, weicht aber in einer ent- 
scheidenden Nuance davon ab. Als 
Nenni-Sozialist ist der Bürgermeister 
Elio Veltri politisch weit risikofreudi- 
ger als die orthodoxen Technokraten 
der Bologneser kommunistischen 
Junta: Veltri vertraut der Volksmei- 
nung und liebt die politische Ausein- 
andersetzung ohne vorausgehenden 
Konsens; er will eine Bürgerbeteili- 
gung ohne Einschränkung und er schuf 
deshalb von allem Anfang seines Wir- 
kens an Quartierkomitees mit echter 
Beschlusskompetenz. In Bologna sind 
die Bürgerräte noch ernannt, in Pavia 
sind sie jetzt gewählt. In Bologna neh- 
men sie die Beschlüsse des Stadtrates 
zur Kenntnis und machen Anregungen 
dazu; in Pavia verfügen sie über den 
kommunalen Besitz in dem betreffen- 
den Quartier sowie über denjenigen 
Anteil des Gemeindebudgets, der in 
einem bestimmten Zeitraum in diesem 
Quartier ausgegeben werden soll. 
Bologna praktiziert das Null-Wachs- 
tum zugunsten der Bürger gewisser- 
massen nolens volens: Wer zieht schon 
nach Bologna? Pavia ist durch das 
Wachstum Mailands ernsthaft bedroht: 
unter der DC-Junta bot es sich an als 
sicherer und angenehmer Wohnvorort 
für die gehobenen Bevölkerungsklas- 
sen Mailands; der allmählich sich auf- 
lösende landwirtschaftliche Gross- 
grundbesitz stieg direkt in das Woh- 
nungsbaugeschäft um. Kein Geringerer 
als der finnische Architekt Alvar Aalto 
hatte noch für einen lokalen Spekulan- 
ten eine Wohnüberbauung projektiert; 
Elio Veltri ist sehr stolz darauf, diese 
Wohnüberbauung trotz der finnischen 
Prominenz verhindert und das Ge- 
lände in die Landwirtschaftszone zu- 
rückgestuft zu haben. Er tat dies ge- 
treu dem in Bologna gelernten Grund- 
satz, dass Stadtplanung eine Politik für 
die heute hier anwesende Bevölkerung 
sein muss, nicht zugunsten von Bevöl- 
kerungsgruppen, die erst durch die 
Spekulation angelockt werden müss- 
sen. 
Eine solche Stadtplanung zugunsten 
der Bevölkerung und im Rahmen ei- 
ner gesamten Sozialpolitik bedarf es 
einer Doktrin sowie der gesetzlichen 
Instrumente. Das Problem von Bo- 
logna und Pavia ist das einer sozialisti- 
schen Stadtpolitik im kapitalistischen 
Staat. Die Doktrin für beide Städte 
stammt von dem italienischen Stadt- 
planer Prof. Giuseppe Campos-Ve- 
nuti, wie er sie in mehreren Büchern 
niedergelegt hat, unter anderem in 
«Amministrare l’urbanistica» — die 
Stadtplanung verwalten. Die indu- 
strielle Grosstadt unserer Zeit ist eine 
Klassenstadt, sie besteht aus einer Alt- 
stadt, die sich in zwei Teile teilt, die 
reiche Altstadt und die arme Altstadt, 
und aus den reichen und den armen 
Aussenquartieren. In der reichen Alt- 
stadt wird ständig abgebrochen und 
gebaut: ein Geschäft steigert dem an- 
dern die Liegenschaft weg, die Bewoh- 
ner werden verdrängt und der enge 
Raum wird immer intensiver ausge- 
nützt. In der armen Altstadt wohnt die 
Unterschicht, die Gebäude verfallen, 
die Besitzer interessieren sich nicht 
mehr für die Rendite, sondern nur 
noch dafür, wie sie die Liegenschaft 
verkaufen können, das heisst, wie sie 
das für sie interessante Stückchen 
arme Altstadt der reichen Altstadt zu- 
führen können. Von den aus der In- 
nenstadt verdrängten Bewohnern zie- 
hen einige in die reichen, andere in die 
armen Aussenquartiere. Was spaltet 
die Stadt in eine arme und eine reiche? 
Campos-Venuti gibt die Antwort dar- 
auf: Der Wert des städtischen Bodens 
besteht aus der Grundrente und der 
Differentialrente. Die Grundrente ent- 
steht dadurch, dass der Boden vom 
agrarischen zum Stadtboden wird, Ak- 
kerland zu Bauland. Die Differential- 
rente entsteht durch die unterschiedli- 
che Ausstattung dieses Bodens mit 
Dienstleistungen. Nur selten besteht 
die Differentialrente aus Unterschieden 
natürlicher Art: etwa die Aussicht auf 
einen See oder ins Gebirge. Meist sind 
die Ausstattungen künstlich und ge- 
baut: eine gute Versorgung mit Ge- 
schäften, Schulen, Transportmitteln, 
Erbolungsstätten und Parks. Diese 
Ausstattungen verteilen sich nach dem 
Grundsatz «Wer da hat, dem wird ge- 
geben». Die private Folgeleistung eilt 
zu ihrer Kundschaft, also zur Stadtmit- 
te oder in die reichen Aussenquartiere. 
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