Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1979, Jg. 11, H. 43-47, [48])

«Urbanistica Alternativa» 
oder Bemerkungen zu einem Konzept 
«... Warum soll man die zu bepla- 
nende Fläche als tabula rasa betrach- 
ten und sich auf dieser austoben mit- 
tels einer unangemessenen Suche 
nach Formen, wenn sich auf diesem 
Gelände nicht nur Bauernhöfe oder 
andere Gebäude befinden, die der 
Generalplan zu berücksichtigen ver- 
langt, sondern auch Niveau-Unter- 
schiede, Gebüsche, bescheidene 
Trampelpfade, Bewässerungsgräben, 
Anfänge städtischer oder bäuerlicher 
Landschaft von hoher Kostbarkeit? 
Warum den Anspruch erheben, auf 
einem weissen Blatt Papier ex novo 
eine Ansiedlung zu erfinden, wenn 
man nachher — über die neuen 
Wohnhäuser hinaus — künstlich Ge- 
ländebewegungen ausführen muss, 
Büsche pflanzen, Fusswege anlegen 
und einen Teich mit Wasser füllen 
muss, um der neuen Siedlung Leben 
zu geben, indem man die Ansätze 
der existierenden Landschaft ver- 
nichtet, um neue zu schaffen, die 
kaum je so überzeugend sein wer- 
den? 
sind, lehrt uns darüber hinaus — so 
gültig das architektonische Werk in 
seinem Entwurf aussah —, dass die 
neue Siedlung notwendig in Etappen 
gebaut wird, und dass also, bevor 
man zu der vorgestellten Anlage 
kommt — sofern man je so weit 
kommt —, dieses Quartier jahrelang 
ein Torso, kalt, ausdruckslos bleiben 
muss, eben weil sein Ausdruck, seine 
Wärme, seine Aussage eben von der 
Verwirklichung der Gesamtkonzep- 
tion abhängen. 
Der neue Plan für den sozialen Woh- 
nungsbau von Pavia hat, infolgedes- 
sen, vom neuen Bebauungsplan von 
1976 nicht nur die allgemein quanti- 
tativen Entscheidungen erhalten, 
sondern auch die noch zu entwik- 
kelnde Vorschrift, bei alten, sanie- 
rungsbedürftigen Anlagen ihre beste- 
hende Qualität hervorzuheben, und 
neue Anlagen auf Geländen zu 
schaffen, welche leer sind nur in der 
trägen Vorstellung der Techniker am 
Zeichentisch.» 
Die Erfahrung mit all diesen neuen 
Ansiedlungen, die durch die Zerstö- 
rung des Vorgegebenen entstanden 
Aus: Urbanistica Alternativa a Pavia 
Herausgegeben von: Giuseppe Cam- 
pos Venuti und Federico Oliva, Mar- 
silio Editori Venezia 1978 
Die städtischen Folgeleistungen eilen 
hinterher, einmal, weil die normalen 
Stadtverwaltungen nur reagieren, nicht 
lenken. Zum zweiten aber deshalb, 
weil die Mängel artikuliert sein müs- 
sen, um behoben zu werden, und re- 
klamieren können die gehobenen Be- 
völkerungsschichten am besten. 
Eine Stadtplanung zugunsten der Be- 
völkerung besteht also — nach Cam- 
pos-Venuti — ganz einfach darin, die 
Versorgungsleistungen zwischen den 
Quartieren auszugleichen. Gleiche 
Versorgung gibt gleiche Differential- 
rente, gleiche Differentialrente glei- 
chen Bodenpreis. Gelingt es, die Bo- 
denwertkurve der Stadt einigermassen 
auszugleichen, so ist auch die Benach- 
teiligung der «armen Altstadt» und 
der «armen Aussenquartiere» aufge- 
hoben. Stadtplanung besteht also 
darin, in jedem Quartier die wesentli- 
chen Versorgungsmängel aufzuspüren 
und die zu beheben. 
Dazu braucht es aber ein gesetzliches 
Instrumentarium. Sozialistische Politik 
in der kapitalistischen Stadt besteht 
also darin, die Gesetze des kapitalisti- 
schen Landes so auszulegen, dass sie 
gegen die spekulative Expansion und 
für die anwesende Bevölkerung wir- 
ken. Die Leistung nun des Bürgermei- 
sters von Pavia und seiner stadtplane- 
rischen Berater ist die, dass sie den 
stadtplanerischen Gesetzesapparat Ita- 
liens, der geschaffen wurde, um die 
Ausdehnung der Städte in die Grünzo- 
nen zu bewerkstelligen, nun auf die 
Stadt selber anwenden und den beste- 
henden Baubestand damit sanieren. 
Die Rückzonung 
als Aufgabe 
Treu der Lehre von Campos-Venuti ist 
der erste von Veltri vorgelegte städte- 
bauliche Plan ein Ausstattungsplan. Er 
stützt sich auf gesetzliche Bestimmun- 
gen, welche es den Kommunen ermög- 
licht hatten, Teile des städtischen Aus- 
dehnungslandes für künftige Infra- 
struktur vorzubehalten und notfalls zu 
expropriieren. Nun werden bestehende 
Stadtquartiere auf ihre Mängel hin un- 
tersucht. Was fehlt den bestehenden 
Aussenquartieren, insbesondere den 
«armen»? — Schulen, Kindertagesstät- 
ten, ein Quartierzentrum, Buslinien. 
Und was fehlt der «armen» Altstadt? 
_— Im wesentlichen Gärten, Parks, Frei- 
flächen. Pavia legt als erste italienische 
Stadt eine Norm der pro Kopf notwen- 
digen Freiflächen-Ausstattung fest; es 
ist kein Zufall, dass die hier festgelegte 
Norm von 26'/, m* in die Normen der 
Region Lombardei übernommen 
wurde. Damit, mit dem so konzipier- 
ten Ausstattungsplan, dem «piano dei 
servizi», hat sich die Stadt die Mög- 
lichkeit expropriatorischen Eingriffs 
sowohl auf die Aussenquartiere wie 
auf die Altstadt geschaffen. 
Das zweite von der neuen Junta vorge- 
legte Planwerk ist der Flächennut- 
zungsplan, der «piano regolatore». Sei- 
ne wesentliche Aufgabe ist die Rückzo- 
nung: die grossen Flächen agrarischen 
Grossgrundbesitzes, die für künftige 
Einfamilienhausüberbauungen und 
Wohnsiedlungen vorgesehen waren, 
sind die Grünzone zurückgenommen. 
Mehr noch: diese Grünzone wird ein- 
geteilt in die Zone geschützter Land- 
wirtschaft und in eine Zone künftiger 
Grünanlagen. Der Zuwachs an Neu- 
bauten soll sich auf den noch unbebau- 
ten Terrains bestehender Quartiere 
ansiedeln. Mit einer Ausnahme: In 
Zusammenhang mit der geplanten 
Ausdehnung der Universität wird noch 
ein Siedlungsgebiet für sozialen Woh- 
nungsbau und für Studentenwohnun- 
gen ausgeschieden. 
Der dritte Schritt in Richtung auf ei- 
nen sozialen Städtebau besteht in der 
Anwendung der Gesetze für’‘die Sub- 
ventionierung des sozialen Wohnungs- 
baues auf schon bestehende Häuser, 
insbesondere auf die Altstadt. Die in 
der Altstadt wohnende minderbemit- 
telte Bevölkerung soll auf diese Weise 
in ihren alten Gebäuden neue, men- 
schenwürdige Wohnungen erhalten. 
Dieses geschieht im optimalen Falle 
durch Verträge zwischen der Stadt, 
den Hausbesitzern und den Mietern, 
im Falle aber, dass der Hausbesitzer 
nicht will oder kann, durch ganze oder 
zeitweilige Übernahme des alten Ge- 
bäudes durch die Stadt. Heute sind in 
der Altstadt zwölf Strassengevierte für 
den sozialen Wohnungsbau, also für 
die subventionierte Sanierung, vorbe- 
stimmt. Nicht alle können von der 
Stadt finanziert werden; die Möglich- 
keit der Expropriation und der Finan- 
zierung soll in der Regel nur als dro- 
hende Aufforderung an die Hausbesit- 
zer wirken, selber etwas zu tun und 
Subventionsgesuche einzureichen. In 
einem der bezeichneten Blöcke wird 
heute demonstrativ ein von der Stadt 
durchgeführtes Sanierungsvorhaben 
gebaut: Altstadthäuser, die in Teilen 
auf mittelalterliche Türme und in den 
Grundmauern auf römische Bauten 
zurückgehen, werden ohne Verände- 
rung der Bewohnerschaft auf einen 
modernen Standard gebracht. Nach 
Möglichkeit . werden auch kleinere 
Auskernungen vorgenommen: wo 
Strassen überbaut oder Höfe zugebaut 
worden sind, sollen neue Grünflächen 
oder Durchgänge entstehen. Die Be- 
wohner überstehen den Umbau im 
Gebäude selbst; wo dies aus techni- 
schen Gründen nicht möglich ist, wer- 
den sie für ein halbes Jahr in ein soge- 
nanntes «Parking-Gebäude» umgesie- 
delt. Als Parking-Gebäude dienen 
leerstehende Häuser, möglichst in der 
Altstadt, die sich in Gemeindebesitz 
befinden. 
Die Sanierung geschieht durch einen 
individuell vorgehenden Sozialplan. 
Jede einzelne Haushaltung erhält am 
alten Ort eine auf ihre Bedürfnisse zu- 
geschnittene neue oder erneuerte 
Wohnung. Dabei wird ein Raumaus- 
gleich zwischen den Familien vorge- 
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