«Urbanistica Alternativa»
oder Bemerkungen zu einem Konzept
«... Warum soll man die zu bepla-
nende Fläche als tabula rasa betrach-
ten und sich auf dieser austoben mit-
tels einer unangemessenen Suche
nach Formen, wenn sich auf diesem
Gelände nicht nur Bauernhöfe oder
andere Gebäude befinden, die der
Generalplan zu berücksichtigen ver-
langt, sondern auch Niveau-Unter-
schiede, Gebüsche, bescheidene
Trampelpfade, Bewässerungsgräben,
Anfänge städtischer oder bäuerlicher
Landschaft von hoher Kostbarkeit?
Warum den Anspruch erheben, auf
einem weissen Blatt Papier ex novo
eine Ansiedlung zu erfinden, wenn
man nachher — über die neuen
Wohnhäuser hinaus — künstlich Ge-
ländebewegungen ausführen muss,
Büsche pflanzen, Fusswege anlegen
und einen Teich mit Wasser füllen
muss, um der neuen Siedlung Leben
zu geben, indem man die Ansätze
der existierenden Landschaft ver-
nichtet, um neue zu schaffen, die
kaum je so überzeugend sein wer-
den?
sind, lehrt uns darüber hinaus — so
gültig das architektonische Werk in
seinem Entwurf aussah —, dass die
neue Siedlung notwendig in Etappen
gebaut wird, und dass also, bevor
man zu der vorgestellten Anlage
kommt — sofern man je so weit
kommt —, dieses Quartier jahrelang
ein Torso, kalt, ausdruckslos bleiben
muss, eben weil sein Ausdruck, seine
Wärme, seine Aussage eben von der
Verwirklichung der Gesamtkonzep-
tion abhängen.
Der neue Plan für den sozialen Woh-
nungsbau von Pavia hat, infolgedes-
sen, vom neuen Bebauungsplan von
1976 nicht nur die allgemein quanti-
tativen Entscheidungen erhalten,
sondern auch die noch zu entwik-
kelnde Vorschrift, bei alten, sanie-
rungsbedürftigen Anlagen ihre beste-
hende Qualität hervorzuheben, und
neue Anlagen auf Geländen zu
schaffen, welche leer sind nur in der
trägen Vorstellung der Techniker am
Zeichentisch.»
Die Erfahrung mit all diesen neuen
Ansiedlungen, die durch die Zerstö-
rung des Vorgegebenen entstanden
Aus: Urbanistica Alternativa a Pavia
Herausgegeben von: Giuseppe Cam-
pos Venuti und Federico Oliva, Mar-
silio Editori Venezia 1978
Die städtischen Folgeleistungen eilen
hinterher, einmal, weil die normalen
Stadtverwaltungen nur reagieren, nicht
lenken. Zum zweiten aber deshalb,
weil die Mängel artikuliert sein müs-
sen, um behoben zu werden, und re-
klamieren können die gehobenen Be-
völkerungsschichten am besten.
Eine Stadtplanung zugunsten der Be-
völkerung besteht also — nach Cam-
pos-Venuti — ganz einfach darin, die
Versorgungsleistungen zwischen den
Quartieren auszugleichen. Gleiche
Versorgung gibt gleiche Differential-
rente, gleiche Differentialrente glei-
chen Bodenpreis. Gelingt es, die Bo-
denwertkurve der Stadt einigermassen
auszugleichen, so ist auch die Benach-
teiligung der «armen Altstadt» und
der «armen Aussenquartiere» aufge-
hoben. Stadtplanung besteht also
darin, in jedem Quartier die wesentli-
chen Versorgungsmängel aufzuspüren
und die zu beheben.
Dazu braucht es aber ein gesetzliches
Instrumentarium. Sozialistische Politik
in der kapitalistischen Stadt besteht
also darin, die Gesetze des kapitalisti-
schen Landes so auszulegen, dass sie
gegen die spekulative Expansion und
für die anwesende Bevölkerung wir-
ken. Die Leistung nun des Bürgermei-
sters von Pavia und seiner stadtplane-
rischen Berater ist die, dass sie den
stadtplanerischen Gesetzesapparat Ita-
liens, der geschaffen wurde, um die
Ausdehnung der Städte in die Grünzo-
nen zu bewerkstelligen, nun auf die
Stadt selber anwenden und den beste-
henden Baubestand damit sanieren.
Die Rückzonung
als Aufgabe
Treu der Lehre von Campos-Venuti ist
der erste von Veltri vorgelegte städte-
bauliche Plan ein Ausstattungsplan. Er
stützt sich auf gesetzliche Bestimmun-
gen, welche es den Kommunen ermög-
licht hatten, Teile des städtischen Aus-
dehnungslandes für künftige Infra-
struktur vorzubehalten und notfalls zu
expropriieren. Nun werden bestehende
Stadtquartiere auf ihre Mängel hin un-
tersucht. Was fehlt den bestehenden
Aussenquartieren, insbesondere den
«armen»? — Schulen, Kindertagesstät-
ten, ein Quartierzentrum, Buslinien.
Und was fehlt der «armen» Altstadt?
_— Im wesentlichen Gärten, Parks, Frei-
flächen. Pavia legt als erste italienische
Stadt eine Norm der pro Kopf notwen-
digen Freiflächen-Ausstattung fest; es
ist kein Zufall, dass die hier festgelegte
Norm von 26'/, m* in die Normen der
Region Lombardei übernommen
wurde. Damit, mit dem so konzipier-
ten Ausstattungsplan, dem «piano dei
servizi», hat sich die Stadt die Mög-
lichkeit expropriatorischen Eingriffs
sowohl auf die Aussenquartiere wie
auf die Altstadt geschaffen.
Das zweite von der neuen Junta vorge-
legte Planwerk ist der Flächennut-
zungsplan, der «piano regolatore». Sei-
ne wesentliche Aufgabe ist die Rückzo-
nung: die grossen Flächen agrarischen
Grossgrundbesitzes, die für künftige
Einfamilienhausüberbauungen und
Wohnsiedlungen vorgesehen waren,
sind die Grünzone zurückgenommen.
Mehr noch: diese Grünzone wird ein-
geteilt in die Zone geschützter Land-
wirtschaft und in eine Zone künftiger
Grünanlagen. Der Zuwachs an Neu-
bauten soll sich auf den noch unbebau-
ten Terrains bestehender Quartiere
ansiedeln. Mit einer Ausnahme: In
Zusammenhang mit der geplanten
Ausdehnung der Universität wird noch
ein Siedlungsgebiet für sozialen Woh-
nungsbau und für Studentenwohnun-
gen ausgeschieden.
Der dritte Schritt in Richtung auf ei-
nen sozialen Städtebau besteht in der
Anwendung der Gesetze für’‘die Sub-
ventionierung des sozialen Wohnungs-
baues auf schon bestehende Häuser,
insbesondere auf die Altstadt. Die in
der Altstadt wohnende minderbemit-
telte Bevölkerung soll auf diese Weise
in ihren alten Gebäuden neue, men-
schenwürdige Wohnungen erhalten.
Dieses geschieht im optimalen Falle
durch Verträge zwischen der Stadt,
den Hausbesitzern und den Mietern,
im Falle aber, dass der Hausbesitzer
nicht will oder kann, durch ganze oder
zeitweilige Übernahme des alten Ge-
bäudes durch die Stadt. Heute sind in
der Altstadt zwölf Strassengevierte für
den sozialen Wohnungsbau, also für
die subventionierte Sanierung, vorbe-
stimmt. Nicht alle können von der
Stadt finanziert werden; die Möglich-
keit der Expropriation und der Finan-
zierung soll in der Regel nur als dro-
hende Aufforderung an die Hausbesit-
zer wirken, selber etwas zu tun und
Subventionsgesuche einzureichen. In
einem der bezeichneten Blöcke wird
heute demonstrativ ein von der Stadt
durchgeführtes Sanierungsvorhaben
gebaut: Altstadthäuser, die in Teilen
auf mittelalterliche Türme und in den
Grundmauern auf römische Bauten
zurückgehen, werden ohne Verände-
rung der Bewohnerschaft auf einen
modernen Standard gebracht. Nach
Möglichkeit . werden auch kleinere
Auskernungen vorgenommen: wo
Strassen überbaut oder Höfe zugebaut
worden sind, sollen neue Grünflächen
oder Durchgänge entstehen. Die Be-
wohner überstehen den Umbau im
Gebäude selbst; wo dies aus techni-
schen Gründen nicht möglich ist, wer-
den sie für ein halbes Jahr in ein soge-
nanntes «Parking-Gebäude» umgesie-
delt. Als Parking-Gebäude dienen
leerstehende Häuser, möglichst in der
Altstadt, die sich in Gemeindebesitz
befinden.
Die Sanierung geschieht durch einen
individuell vorgehenden Sozialplan.
Jede einzelne Haushaltung erhält am
alten Ort eine auf ihre Bedürfnisse zu-
geschnittene neue oder erneuerte
Wohnung. Dabei wird ein Raumaus-
gleich zwischen den Familien vorge-
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