Stichworte und Fakten zum Stadtverkehr
Eine Kurzinformation, herausgegeben vom Arbeitskreis Verkehr im Bundesverband Bürgerinitiativen
Umweltschutz e.V. (BBU)
1. Verfügung über Verkehrsmittel
Das gängige Vorurteil ist, jeder Bürger
habe ein Auto. Aber
8 nur 29% aller Bürger und nur 60%
aller Haushalte sind motorisiert, 1
e nur 35% aller Frauen und 77% aller
Männer haben einen Führerschein2
2 40% aller privaten Autos werden
werktags vom erwerbstätigen Haus-
haltungsvorstand (meistens der
Mann) beansprucht und stehen den
übrigen Familienmitgiedenn dann
nicht zur Verfügung.
Ein sehr viel breiter verfügbares Ver-
kehrsmittel ist das Fahrrad, was leider
in der Verkehrsplanung meistens über-
sehen wird.
9 60% aller Bundesbürger haben ein
Fahrrad und 85% aller Haushalte,
e jährlich werden 3.300.000 Fahrräder
verkauft (einschl. Mofas), aber nur
2.100.000 Autos4,
Füße zum Gehen schließlich sind —
außer bei einigen Schwerbehinderten —
bei jedermann vorhanden.
2. Benutzung von Verkehrsmitteln
Das gängige Vorurteil ist, das Auto sei
das meistbenutzte und damit wichtigste
Verkehrsmittel. Aber
® von allen Wegen werden 55% zu Fuß
oder mit dem Fahrrad gemacht. Lei-
der sind in der besten Verkehrsverhal-
tensstatistik Kinder und Ausländer
nicht erfaßt (KONTIV-Daten des Ver-
kehrsministers), so daß dort nur
40,8% stehen. Dagegen werden nur
36,9% der Wege mit dem Auto (als
Selbstfahrer) gemacht.5
Bei allen Weg/Fahrtzwecken sind
Fuß- und Radweg durchgängig am
wichtiasten:
A
Zweck Auto Fuß/Rad__ ÖNV
Beruf/
Ausbild. 26,5% 49,9% 23,6%6
Schule/
Uni 3,6% 68,0% 28,4%7
Einkauf 26,7% 55,5% 17,8%8
Einkauf
im Neben-
zentrum 19,0% 70,0% 11,0%9
9 Auch Autobesitzer machen viele We-
ge zu Fuß oder mit dem Rad (36,3%)
oder mit dem ÖNV (9,7%) 19.
» Auch gut Ausgebildete, Einkommens-
starke machen viele Wege zu Fuß
oder mit dem Rad (Selbständige:
19,5%, Beamte: 24,6%. Akademiker:
26,5%).
Besonders stark auf Zu-Fuß-Gehen
und Radfahren sind angewiesen:
Kinder, Jugendliche, Ausländer und
Alte. Bei ihnen liegen die Fuß/Rad-
anteile jeweils über 60% 11
Auch im Winter bleiben zu Fuß-Ge-
hen und Radfahren die wichtigsten
Verkehrsmittel 12:
Verkehrsmittel Sommer Winter
zu Fuß 28,2% 32,6%
Rad 11,5% 7,1%
3. Zurückgelegte Distanzen
Die übliche Vorstellung ist, daß die mei-
sten Wege im Stadtverkehr lange Wege
sind. Das Gegenteil ist richtig:
® Trotz Zersiedlung und Ausdünnung
der Infrastrukturstandorte sind auch
heute noch 55,3% aller Wege unter
3 km lang, aber nur 29,1% über
6 km. 13
Außerdem heißt es immer, das Auto wer-
de natürlich nur für weite Wege benutzt.
Auch hier ist das Gegenteil richtig:
9 38,6% aller Autofahrten sind kürzer
als 3 km,
9 23,8% aller Wege zwischen 500 m und
100 m werden mit dem Auto gemacht,
bei den Wegen zwischen 1 km und
2 km sogar 39,7%. 14
Vom Fußgänger nimmt man dagegen an,
er gehe nur kurze Distanzen, höchstens
so um 300 m. Tatsache ist dagegen, daß
e 20% aller FuRwege länger als 1000 m,
12% sogar länger als 2000 m sind;
® 64,3% aller Radfahrten länger als 1_km,
19,6% sogar weiter als 4 km sind; 1 5
@ die durchschnittlichen Gehweiten der
Fußgänger beim Einkauf in der Innen-
stadt in Essen 1200 m, in Düsseldorf
1550 m und in Darmstadt 1140 m
sind, beim Weg zur Arbeit in der City
von München 1370 m. !6
von allen Wegen zwischen 1 km und
2 km sind 54,3% Fuß- und Radwege,
von den Wegen zwischen 2 km und
3 km 33,9% und von den Wegen ZWi-
schen 3 km und 4 km 20.4%. 17
4. Die Meinung der ‘Experten’
Die Experten haben heute, trotz zahlrei-
cher einschlägiger Untersuchungen
zum Verkehrsverhalten, meistens falsche
— autoorientierte — Vorstellungen vom
Verkehrsgeschehen.
® durchschnittlich schätzen Verkehrs-
planer und Verkehrswissenschaftler
den Autoanteil am Verkehr doppelt
so hoch ein wie er wirklich ist,
® durchschnittlich schätzen sie dagegen
den Fußgänger- und Radfahreranteil
halb so hoch ein wie er wirklich ist. 18
Der Grund liegt auf der Hand: Verkehrs-
planer sind fast ausschließlich Männer,
‘in den besten Jahren’, mit gutem Ein-
kommen und besonders stark motori-
siert, mit Vorliebe für’s sportliche Auto,
Da wird die eigene,private Windschutz-
scheibenperspektive dann gern auf die
Planung übertragen. 19
Immerhin scheint sich — angesichts der
falsch geschätzten — überhöhten Zahlen
der Autobenutzung so etwas wie schlech:
tes Gewissen bei den Planern zu regen.
Denn:
8 77% aller Stadtplaner und 60% aller
Verkehrsplaner bevorzugen mittler-
weile eine Planungsstrategie, bei der
möglichst viel Autoverkehr vermieden
werden soll, z.B. durch mehr Fuß- und
Radwege oder durch bessere Standort-
planung. 20
5. Die Mobilitätsentwicklung
Angeblich hat das Auto eine große Be-
weglichkeit in unsere Städte gebracht.
Dabei ist unklar, ob sich Beweglichkeit
= Mobilität auf die Zahl der Wege, die
Länge/Distanz der Wege oder die Zeit/
Dauer der Wege bezieht. Es gibt sehr
ernsthafte Zweifel an der gewachsenen
Mobilität:
® seit 1950 — also einer fast noch auto-
losen Zeit — bis heute ist die Zahl der
Wege je Einwohner lediglich um 10%
gewachsen. Statistiken, die große Mo-
bilitätssteigerungen nachweisen, haben
reg (mäßig die Fuß- und Radwege
vergessen. 21
etwa 80% aller heutigen Wege wurden
bereits 1950 mit gleichem Ziel und
gleicher Quelle zurückgelegt, damals
meist zu Fuß oder mit dem Rad oder
mit dem ÖNV, heute oft mit dem
Auto. Nur 20% aller Wege sind neue
Wege, d.h. Wege mit Distanzen und
Quellen und Zielen, die 1950 noch
nicht vorhanden oder noch nicht er-
reichbar waren;22
der Zeitaufwand im Verkehr ist seit
1950 gestiegen, d.h. trotz schnellerer
Verkehrsmittel wird nicht Zeit gespart
sondern verschwendet.23
Einen echten Mobilitätsfortschritt hat das
Auto offenbar vor allem für Bevölkerungs-
gruppen mit vorzugsweise langen Wegen
und für Fahrtzwecke mit langen Distanzen
gebracht. Doch in dem Maße, in dem
durch entsprechenden Straßenbau die
Mobilitätschancen dieser Gruppen und
Fahrtzwecke verbessert wurden, sanken
die Mobilitätschancen anderer Gruppen
und verdarb der Lebensraum vieler:
e z.B. wurde der ÖNV durch die Moto-
risierung und einseitige Verkehrspoli-
tik und -Planung so ruiniert, daß heute
Gruppen ohne Auto weit schlechtere
Mobilitätschancen haben als 1960,
z.B. wurde den Kindern, die vor 20
Jahren noch im ganzen Quartier rum-
stromern konnten, der Aktionsraum
auf winzige Ghettos beschränkt;
ähnlich ging es den Alten und Behin-
derten, die heute vielfach aus Angst
vor dem Straßenverkehr an die Woh-
nung gefesselt sind;
benachbarte Quartiere sind heute oft
durch Hauptverkehrsstraßen getrennt‘
69