Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1979, Jg. 11, H. 43-47, [48])

Stichworte und Fakten zum Stadtverkehr 
Eine Kurzinformation, herausgegeben vom Arbeitskreis Verkehr im Bundesverband Bürgerinitiativen 
Umweltschutz e.V. (BBU) 
1. Verfügung über Verkehrsmittel 
Das gängige Vorurteil ist, jeder Bürger 
habe ein Auto. Aber 
8 nur 29% aller Bürger und nur 60% 
aller Haushalte sind motorisiert, 1 
e nur 35% aller Frauen und 77% aller 
Männer haben einen Führerschein2 
2 40% aller privaten Autos werden 
werktags vom erwerbstätigen Haus- 
haltungsvorstand (meistens der 
Mann) beansprucht und stehen den 
übrigen Familienmitgiedenn dann 
nicht zur Verfügung. 
Ein sehr viel breiter verfügbares Ver- 
kehrsmittel ist das Fahrrad, was leider 
in der Verkehrsplanung meistens über- 
sehen wird. 
9 60% aller Bundesbürger haben ein 
Fahrrad und 85% aller Haushalte, 
e jährlich werden 3.300.000 Fahrräder 
verkauft (einschl. Mofas), aber nur 
2.100.000 Autos4, 
Füße zum Gehen schließlich sind — 
außer bei einigen Schwerbehinderten — 
bei jedermann vorhanden. 
2. Benutzung von Verkehrsmitteln 
Das gängige Vorurteil ist, das Auto sei 
das meistbenutzte und damit wichtigste 
Verkehrsmittel. Aber 
® von allen Wegen werden 55% zu Fuß 
oder mit dem Fahrrad gemacht. Lei- 
der sind in der besten Verkehrsverhal- 
tensstatistik Kinder und Ausländer 
nicht erfaßt (KONTIV-Daten des Ver- 
kehrsministers), so daß dort nur 
40,8% stehen. Dagegen werden nur 
36,9% der Wege mit dem Auto (als 
Selbstfahrer) gemacht.5 
Bei allen Weg/Fahrtzwecken sind 
Fuß- und Radweg durchgängig am 
wichtiasten: 
A 
Zweck Auto Fuß/Rad__ ÖNV 
Beruf/ 
Ausbild. 26,5% 49,9% 23,6%6 
Schule/ 
Uni 3,6% 68,0% 28,4%7 
Einkauf 26,7% 55,5% 17,8%8 
Einkauf 
im Neben- 
zentrum 19,0% 70,0% 11,0%9 
9 Auch Autobesitzer machen viele We- 
ge zu Fuß oder mit dem Rad (36,3%) 
oder mit dem ÖNV (9,7%) 19. 
» Auch gut Ausgebildete, Einkommens- 
starke machen viele Wege zu Fuß 
oder mit dem Rad (Selbständige: 
19,5%, Beamte: 24,6%. Akademiker: 
26,5%). 
Besonders stark auf Zu-Fuß-Gehen 
und Radfahren sind angewiesen: 
Kinder, Jugendliche, Ausländer und 
Alte. Bei ihnen liegen die Fuß/Rad- 
anteile jeweils über 60% 11 
Auch im Winter bleiben zu Fuß-Ge- 
hen und Radfahren die wichtigsten 
Verkehrsmittel 12: 
Verkehrsmittel Sommer Winter 
zu Fuß 28,2% 32,6% 
Rad 11,5% 7,1% 
3. Zurückgelegte Distanzen 
Die übliche Vorstellung ist, daß die mei- 
sten Wege im Stadtverkehr lange Wege 
sind. Das Gegenteil ist richtig: 
® Trotz Zersiedlung und Ausdünnung 
der Infrastrukturstandorte sind auch 
heute noch 55,3% aller Wege unter 
3 km lang, aber nur 29,1% über 
6 km. 13 
Außerdem heißt es immer, das Auto wer- 
de natürlich nur für weite Wege benutzt. 
Auch hier ist das Gegenteil richtig: 
9 38,6% aller Autofahrten sind kürzer 
als 3 km, 
9 23,8% aller Wege zwischen 500 m und 
100 m werden mit dem Auto gemacht, 
bei den Wegen zwischen 1 km und 
2 km sogar 39,7%. 14 
Vom Fußgänger nimmt man dagegen an, 
er gehe nur kurze Distanzen, höchstens 
so um 300 m. Tatsache ist dagegen, daß 
e 20% aller FuRwege länger als 1000 m, 
12% sogar länger als 2000 m sind; 
® 64,3% aller Radfahrten länger als 1_km, 
19,6% sogar weiter als 4 km sind; 1 5 
@ die durchschnittlichen Gehweiten der 
Fußgänger beim Einkauf in der Innen- 
stadt in Essen 1200 m, in Düsseldorf 
1550 m und in Darmstadt 1140 m 
sind, beim Weg zur Arbeit in der City 
von München 1370 m. !6 
von allen Wegen zwischen 1 km und 
2 km sind 54,3% Fuß- und Radwege, 
von den Wegen zwischen 2 km und 
3 km 33,9% und von den Wegen ZWi- 
schen 3 km und 4 km 20.4%. 17 
4. Die Meinung der ‘Experten’ 
Die Experten haben heute, trotz zahlrei- 
cher einschlägiger Untersuchungen 
zum Verkehrsverhalten, meistens falsche 
— autoorientierte — Vorstellungen vom 
Verkehrsgeschehen. 
® durchschnittlich schätzen Verkehrs- 
planer und Verkehrswissenschaftler 
den Autoanteil am Verkehr doppelt 
so hoch ein wie er wirklich ist, 
® durchschnittlich schätzen sie dagegen 
den Fußgänger- und Radfahreranteil 
halb so hoch ein wie er wirklich ist. 18 
Der Grund liegt auf der Hand: Verkehrs- 
planer sind fast ausschließlich Männer, 
‘in den besten Jahren’, mit gutem Ein- 
kommen und besonders stark motori- 
siert, mit Vorliebe für’s sportliche Auto, 
Da wird die eigene,private Windschutz- 
scheibenperspektive dann gern auf die 
Planung übertragen. 19 
Immerhin scheint sich — angesichts der 
falsch geschätzten — überhöhten Zahlen 
der Autobenutzung so etwas wie schlech: 
tes Gewissen bei den Planern zu regen. 
Denn: 
8 77% aller Stadtplaner und 60% aller 
Verkehrsplaner bevorzugen mittler- 
weile eine Planungsstrategie, bei der 
möglichst viel Autoverkehr vermieden 
werden soll, z.B. durch mehr Fuß- und 
Radwege oder durch bessere Standort- 
planung. 20 
5. Die Mobilitätsentwicklung 
Angeblich hat das Auto eine große Be- 
weglichkeit in unsere Städte gebracht. 
Dabei ist unklar, ob sich Beweglichkeit 
= Mobilität auf die Zahl der Wege, die 
Länge/Distanz der Wege oder die Zeit/ 
Dauer der Wege bezieht. Es gibt sehr 
ernsthafte Zweifel an der gewachsenen 
Mobilität: 
® seit 1950 — also einer fast noch auto- 
losen Zeit — bis heute ist die Zahl der 
Wege je Einwohner lediglich um 10% 
gewachsen. Statistiken, die große Mo- 
bilitätssteigerungen nachweisen, haben 
reg (mäßig die Fuß- und Radwege 
vergessen. 21 
etwa 80% aller heutigen Wege wurden 
bereits 1950 mit gleichem Ziel und 
gleicher Quelle zurückgelegt, damals 
meist zu Fuß oder mit dem Rad oder 
mit dem ÖNV, heute oft mit dem 
Auto. Nur 20% aller Wege sind neue 
Wege, d.h. Wege mit Distanzen und 
Quellen und Zielen, die 1950 noch 
nicht vorhanden oder noch nicht er- 
reichbar waren;22 
der Zeitaufwand im Verkehr ist seit 
1950 gestiegen, d.h. trotz schnellerer 
Verkehrsmittel wird nicht Zeit gespart 
sondern verschwendet.23 
Einen echten Mobilitätsfortschritt hat das 
Auto offenbar vor allem für Bevölkerungs- 
gruppen mit vorzugsweise langen Wegen 
und für Fahrtzwecke mit langen Distanzen 
gebracht. Doch in dem Maße, in dem 
durch entsprechenden Straßenbau die 
Mobilitätschancen dieser Gruppen und 
Fahrtzwecke verbessert wurden, sanken 
die Mobilitätschancen anderer Gruppen 
und verdarb der Lebensraum vieler: 
e z.B. wurde der ÖNV durch die Moto- 
risierung und einseitige Verkehrspoli- 
tik und -Planung so ruiniert, daß heute 
Gruppen ohne Auto weit schlechtere 
Mobilitätschancen haben als 1960, 
z.B. wurde den Kindern, die vor 20 
Jahren noch im ganzen Quartier rum- 
stromern konnten, der Aktionsraum 
auf winzige Ghettos beschränkt; 
ähnlich ging es den Alten und Behin- 
derten, die heute vielfach aus Angst 
vor dem Straßenverkehr an die Woh- 
nung gefesselt sind; 
benachbarte Quartiere sind heute oft 
durch Hauptverkehrsstraßen getrennt‘ 
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