Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1979, Jg. 11, H. 43-47, [48])

der Weg zueinander ist dort heute Schwe- 
rer und seltener als früher. 
Schließlich hat das Auto und eine auf es 
abgestellte Planung zu Maßstabsvergröße- 
rungen und Standortbedingungen geführt, 
die heute vielfach weite Wege erzwingen, 
oft genug dann Wege mit dem Auto: 
® drive-in Verbrauchermärkte ersetzten 
den wohnungsnahen Lebensmittella- 
den 
drive-in Schulzentren ersetzten die 
wohnungsnahe Schule 
drive-in Freizeitparks ersetzten die 
wohnungsnahe städtische und Stadt- 
rand-Erholung 
® drive-in Verwaltungspaläste ersetzten 
die bürgernahe Verwaltung. 
Trotz dieser Entwicklung ist es heute 
durchaus nicht so, daß etwa schon die 
Mehrzahl aller Bürger am Stadtrand oder 
im Umland wohnen. Immer noch wohnt 
ein Großteil der Stadtbevölkerung in der 
Nähe der Innenstädte in den hochverdich- 
teten Altbaugebieten. Daher auch der 
hohe Anteil der kurzen Wege im Stadt- 
verkehr. 
In Frankfurt leben beispielsweise noch 
22% der Einwohner in den City-Randge- 
bieten, in Düsseldorf 20% und in Bonn 
ebenfalls 20%. In Bonn werden im Um- 
kreis von 2 km um die Zentren bereits 
43% aller Bewohner erreicht. In Frank- 
furt im Umkreis von 5 km 53%, in Düssel 
dorf 54%. Die Vorstellung ist also völlig 
falsch, daß heute fast jedermann vom 
Stadtrand oder aus dem Umland (natür- 
lich mit dem Auto) täglich auf langen 
Wegen in die Stadt müsse.24 
6. Das gegenwärtige Straßennetz 
Angeblich ist unser Stadtstraßennetz völ- 
lig überlastet. Es heißt: ‘was fehlt, sind 
Straßen’, gemeint sind damit oft genug 
Schnellstraßen und Stadtautobahnen. 
Aber: 
2 auch heute bleiben in den Städten 
Überlastungserscheinungen auf we- 
nige Tagesstunden beschränkt (7—9 
h und 16—18 h). Die Zeit der Stau- 
ungen ist in der Regel noch kürzer, 
nämlich morgens und abends jeweils 
ca. 30—45 min.25 
Überlastungen bleiben auf wenige 
Straßen beschränkt. Denn nur 15% 
des Stadtstraßennetzes haben ganz- 
tägig eine hohe Verkehrsdichte 
(über 8000 Kfz/12 Std.). Weitere 20% 
des Stadtstraßennetzes haben mittle- 
re Belastungen (über 3000 Kfz/12 
Std.). Alle übrigen 65% haben geringe 
Belastungen (unter 3000 Kfz/12 Std.), 
die Hälfte davon sogar unter 1000 Kfz/ 
12 Std.26 
Gemessen an diesen Belastungen sind ein 
Großteil der Stadtstraßen überdimensio- 
niert, ihre Fahrbahnzahl und Fahrbahn- 
breite ist für Verkehrsmengen ausgelegt, 
die dort bei weitem nicht erreicht wer- 
den. Solche Überdimensionierungen 
kosten unnütz viel Geld, verführen zur 
Raserei und ruinieren das Straßenbild. 
Während also für den Autoverkehr zu 
viele Flächen da sind, fehlen dem Fuß- 
gängerverkehr und Radfahrverkehr erheb 
liche Flächen. Es heißt zwar seit einiger 
Zeit schon wieder, mit den ca. 450 
Fußgängerzonen sei schon viel zu viel 
für Fußgänger getan worden, aber 
® Fußgängerzonen sind bisher noch 
sehr klein und meistens auf die City 
beschränkt. 
® Fußgängerzonen machen bislang nur 
etwa 0,2 bis 0,5% der städtischen Ver- 
kehrsflächen aus. Sie sind damit ledig- 
lich eine Art Reservat für Fußgänger 
und helfen den Fußgängern im übri- 
gen Stadtgebiet überhaupt nicht. Dort 
sind sie weiterhin vielfältig behindert 
und gefährdet und müssen mit den 
kümmerlichen Restflächen des über- 
dimensionierten Straßenbaus Vorlieb 
nehmen. 27 
Am schlimmsten benachteiligt sind die 
Radfahrer, für die heute überhaupt kein 
brauchbares Wegenetz mehr besteht. 
Denn 
® die wenigen vorhandenen innerstädti- 
schen Radwege sind entweder in deso- 
latem Zustand oder von Autos be- 
parkt oder setzen sich nur aus kurzen 
Stückchen zusammen, 
die wenigen neugeschaffenen Radwege 
liegen meist am Stadtrand und in den 
Erholungsgebieten (im Wald), also dort 
wo auch ohne Radwege das Radfahren 
gut möglich ist.28 
7. Auswirkungen einseitiger Verkehrspla- 
nung auf die Sicherheit 
Es heißt oft, gerade weil unsere Straßen 
so schön breit und großzügig ausgebaut 
sind, wären sie so sicher. Das Gegenteil 
ist der Fall. 
® nirgends gibt es je km Stadtstraße und 
Fahrleistung und je Einwohner mehr 
Unfälle als im deutschen Stadtverkehr. 
Das Unfallrisiko ist bei uns für Kinder 
2,3mal höher als in USA und 5,2mal 
höher als in Schweden. 29 
In den letzten 25 Jahren verunglück- 
ten in Deutschland 1,36 Mio Kinder 
im Verkehr, davon starben 36.000 so- 
fort, 20.000 später an den Unfallfol- 
gen. Jährlich kommen 66.800 Kinder- 
unfälle hinzu, darunter 26.000 schwe- 
re und 1.400 tödliche.30 
Jährlich ereignen sich ca. 380.000 Un- 
fälle mit Personenschaden, bei denen 
ca. 530.000 Menschen verletzt und 
ca. 25.000 direkt oder indirekt (späte- 
rer Tod an Unfallfolgen) getötet wer- 
den.31 
Unfallopfer sind vor allem Fußgänger 
und Radfahrer und hier wieder vorwie- 
gend Kinder und Alte. 
In der Regel denkt man — auch bei der 
Polizei und in der Planung — Kinder- und 
Fußgängerunfälle passierten an typischen 
Gefahrenpunkten., Durch ein paar Sicher- 
heitsmaßnahmen und ein bißchen Ver- 
kehrserziehung sei das Problem zu lösen. 
Schuld seien sowieso meist die Opfer, die 
sich nicht verkehrsgerecht verhielten. 
Das Gegenteil ist richtig: 
e 80% aller Kinderunfälle und 60% aller 
Unfälle mit erwachsenen Fußgängern/ 
Radfahrern passieren nicht an typi- 
schen Gefahrenstellen, sondern sind 
unregelmäßig über das Straßennetz 
verstreut, wobei gerade in den Wohn- 
gebieten, bezogen auf die Verkehrsdich- 
te, das höchste Unfallrisiko besteht.32 
Hauptunfallursache ist nicht das Fehl- 
verhalten der Opfer, sondern die über- 
höhte Geschwindigkeit der Autos. 
Denn: 90% aller Autofahrer kalkulie- 
ren Kinder und ihr spezielles Verhalten 
nicht in ihrer Fahrweise ein. In Wohn- 
straßen fahren 50% aller Autofahrer 
schneller als 50 km/h, obwohl schon 
30 km/h oft zu schnell wäre.33 
Bei 50 km/h ist das Kollisionsrisiko 2,4 
mal höher als bei Tempo 30. Das T6ö- 
tungsrisiko für Fußgänger beträgt bei 
Tempo 30 nur 15% im Fall einer Kolli- 
sion mit einem Auto, bei Tempo 50 da: 
gegen bereits 60% und bei Tempo 80 
bereits 100%.34 
8. Auswirkungen einseitiger Verkehrspla- 
nung auf die Stadtentwicklung 
Überdimensionierung von Straßen, über- 
höhte Fahrgeschwindigkeiten und unan- 
gemessen hohe Autobenutzung mangels 
fehlender Alternativen haben die Städte 
sehr negativ betroffen, nicht nur im 
Sicherheitsbereich, sondern auch durch 
® Zerstörung der traditionellen Stadt- 
und Straßengestalt (überbreite Stra- 
ßBenschneisen, Parkhausklötze etc.) 
Zerstörung vieler Frei- und Grünflä- 
chen (abgeholzte Alleen, in Parkplät: 
ze umgewandelte Markt- u.a. Plätze 
sowie Grünanlagen) 
® Ausbreitung eines unangenehmen 
Lärm- und Abgas’teppichs’. 
Spürbar wurden diese Folgewirkungen 
vor allem im sog. Wohnumfeld, dessen 
Qualität seit etwa 1960 ständig gesunken 
ist. Wegen der schlimmen Verkehrsfol- 
gen im Wohnumfeld sind 
® Seit 1965 etwa jährlich zwischen 5 
und 10 Einwohner je 1000 E aus den 
Großstädten ins Umland abgewandert, 
in 9 Jahren aus Frankfurt beispiels- 
weise 102.000, aus Hamburg 120.000.35 
Hauptabwanderungsgrund sind Verkehrs- 
lärm, fehlende Freiflächen und Ver- 
kehrsgefährdungen sowie die verödete 
Stadtgestalt.36 
Da der Verkehr jede öffentliche Kommuni- 
kation von der Straße verdrängt hat und 
der Aufenthalt auf der Straße nur noch 
für Verkehr, nicht mehr aber für Spiel, 
Bummel, Plausch etc. möglich ist, ist eine 
weitere Folge 
® der Verlust an örtlicher Bindung (Be- 
heimatung) und sozialem Engagement 
@ die geringe soziale Kontrolle im öffent: 
lichen Raum, die den verschiedenen 
Formen von Straßenvandalismus und 
Kriminalität Vorschub leistet.37 
9. Zur Lernfähigkeit der Bürger, Planer, 
Politiker und ‘Autovertreter’ 
Planer entschuldigen die abgelaufene Ent- 
wicklung gern mit dem Hinweis, der Bür- 
ger habe es so gewollt. Für heute aber 
gilt: der Bürger will nicht mehr die ‘auto- 
freundliche’ Stadt. Denn 
®e 72% aller Bundesbürger waren 1977 
dafür, daß Urnweltschutz und Stadt- 
und Wohnqualität Vorrang vor den 
Belangen des Autoverkehrs erhält. 
70
	        

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