Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1979, Jg. 11, H. 43-47, [48])

Nur 13% votierten für mehr Straßen- 
bau. 38 
73% wollten in ihrem privaten Ver- 
kehrsverhalten Opfer für umwelt- 
freundlichere Städte bringen, auch 
unter Inkaufnahme von weniger Be- 
quemlichkeit und Schnelligkeit im 
Straßenverkehr. 
Auch die Politiker sind zunehmend be- 
reit, dem Autoverkehr in den Städten 
Beschränkungen aufzuerlegen. 
8 In den kommunalpolitischen Grund- 
satzprogrammen der CDU, SPD und 
FDP finden sich entsprechende For- 
derungen, z.B. zum Schutz der Kin- 
der, der Fußgänger und der Wohnge- 
biete. Alle Parteien fordern mehr 
Verkehrsberuhigung.39 
® In vielen Städten sind bereits ein- 
schlägige Ratsbeschlüsse in Richtung 
auf mehr Verkehrsberuhigung gefaßt 
worden.40 
Die Konferenz der europäischen Ver- 
kehrsminister (CEMT) hat schon 1976 
beschlossen, daß in Wohngebieten be- 
sondere Verkehrsberuhigungsmaßnah- 
men zum Schutz von Bewohnern und 
Kindern nötig sind, u.a. Geschwindig- 
keitsbegrenzungen und Umbaumaß- 
nahmen, um die Straßen nur noch 
langsam befahrbar und fußgänger- 
freundlicher zu machen. 41 
Auch die Verkehrs- und Stadtplaner hal- 
ten mittlerweile mehrheitlich Verkehrs- 
beruhigungsmaßnahmen für geboten. 
a 77% aller Stadtplaner und 60% aller 
Verkehrsplaner befürworten eine Stra- 
tegie, bei der möglichst viel Autover- 
kehr vermieden wird und möglichst 
viele Wege wieder zu Fuß oder mit 
dem Rad oder mit dem ÖNV zurück- 
gelegt werden.42 
Selbst die sog. Auto-Lobby hat sich ver- 
schiedentlich für Verkehrsberuhigungs- 
maßnahmen ausgesprochen. 
® Der ADAC schlägt in einer Broschüre 
zur Sicherheit von Fußgängern Be- 
schränkungen für den Autoverkehr 
in Wohngebieten und Innenstädten 
vor und begrüßt Umbaumaßnahmen in 
Wohnstraßen in verschiedenen Veröf- 
fentlichungen und Verlautbarungen.43 
Das gleiche gilt für den Autoclub ACE, 
der in seiner Zeitschrift Lenkrad ver- 
schiedentlich über Verkehrsberuhigung 
sowie Maßnahmen zur Sicherheit von 
Fußgangern und Radfahrern berichtet 
hat.44 
Verschiedene Verkehrsredaktionen der 
Rundfunkanstalten haben das Thema 
aufgegriffen und die Forderungen der 
Bürgerinitiativen nach Beruhigungs- 
maßnahmen unterstützt.45 
Der Verband der Autoindustrie fordert 
in einer Studie Verkehrsberuhigungs- 
maßnahmen für Wohngebiete, Neben- 
zentren und Innenstädte 46 
A 
10. Das Konzept Verkehrsberuhigung 
Seit 2-3 Jahren wird in der kommunalpo- 
litischen und verkehrswissenschaftlichen 
Diskussion über Verkehrsberuhigung dis- 
kutiert, Das Konzept sieht folgende Maß- 
nahmen vor: 
® Straßen mit geringer Verkehrsbelastung ® 
sollen so umgestaltet werden, daß die 
gesamte Verkehrsfläche ohne Tren- 
nung von Bürgersteig und Fahrbahn 
aufgepflastert wird und von Fußgän- 
gern, Radfahrern und Autos gleichbe- 
rechtigt benutzt werden kann. 
In entsprechend umgebauten Straßen 
sollen ausreichend Parkmöglichkeiten 
für Anlieger bleiben. 
Da eine eigene Fahrbahn dann nicht 
mehr vorhanden ist, werden so erheb- 
liche Freiflächen für Baumpflanzungen 
sonstige Begrünungen und Möblierun- 
gen gewonnen. 
Aus solchen ‘Wohnstraßen’, die etwa 
65% des Straßennetzes umfassen kön- 
nen, sollen Netze gebildet werden, die 
dann das zu-Fuß-Gehen und Radfahren 
auch. für größere Entfernungen wieder 
attraktiv machen. Die Autobenutzung 
wird dagegen durch die Langsamfahr- 
strecken für kurze Distanzen unattrak- 
tiver, 
Aber Verkehrsberuhigung soll nicht auf 
Wohnstraßen beschränkt bleiben. 
e Mit dem Netz verkehrsberuhigter Wohn- 
straßen sollen die Fußgängerzonen in 
den Innenstädten und den Nebenzen- 
tren verbunden werden. Ebenso die 
am Stadtrand gelegenen Erholungsge- 
biete sowie städtische Parks. 
Außerdem sollen auch Verkehrsstraßen 
mit mittlerer und hoher Verkehrsbe- 
lastung, sofern sie nach Zahl und Brei- 
te der Fahrspuren überdimensioniert 
und damit für die angrenzenden Nut- 
zungen und Passantenströme zu stö- 
rend sind, umgestaltet werden. Hier 
geht es um Baumpflanzungen (Umge- 
staltung zur Allee oder zum Boulevard), 
um Bürgersteigverbreiterungen und ggf. 
um die Anlage von Radwegen. 
Nach diesem Konzept wurden bereits meh- 
rere Städte, vor allem in Holland, Schwe- 
den, England, Italien und Japan umgestal- 
tet. Die Erfahrungen sind sehr gut und 
beweisen nicht nur die Durchführbarkeit, 
sondern auch die positiven Auswirkungen 
auf das Verkehrsverhalten, die Verkehrs- 
sicherheit und die Umwelt- und Wohn- 
umfeldqualität. 
Durch eingehende Untersuchungen 
im Rahmen einer OECD Dokumentation 
wurden bei folgenden Planungen folgende 
Wirkungen erzielt:47 
® Im Fall Nagoya (Japan, 2,3 Mio. E) 
wurden in 4 Jahren 186 verkehrsberuhig: 
te Bereiche und 300 km Radwege ge- 
schaffen. Auf einem Teil der beruhigten 
Straßen wurden Busse geführt. Die Maß- 
nahmen führten zu einer Abnahme des 
innenstadtorientierten Berufs-Autover- 
kehrs um 50%. Die betr. Personen wa- 
ren überwiegend vom Auto auf den 
plötzlich wieder attraktiveren Fuß- und 
Radweg umgestiegen. In den beruhigten 
Flächen gab es 57% weniger Verkehrs- 
tote und 40% weniger Verletzte, insge- 
samt sank trotz starken Anstiegs des 
Fußgänger- und Radverkehrs die Zahl 
der getöteten Fußgänger um 31%, der 
getöteten Radfahrer um 25%. Die Ver- 
kehrsberuhigung wurde von 75% der 
Einwohner begrüßt, nur 15% waren da- 
gegen. 
Im Fall Uppsala (Schweden, 133.000 E) 
wurden Innenstadt- und Innenstadtrand- 
bezirke sowie Nebenzentren systematisch 
verkehrsberuhigt. In allen dicht bebauten 
Gebieten wurden störungsfrei Fuß- und 
Radwegnetze geschaffen. Das gesamt- 
städtische Verkehrsaufkommen sank 
dadurch um 10%, die Fußgänger- und 
Radfahranteile am Stadtverkehr stiegen 
um 17%, das ÖNV-Aufkommen um 
11%. Im beruhigten Bereich sank die 
Unfallzahl um 47%. Insgesamt gingen 
im ganzen Stadtgebiet die tödlichen 
Unfälle um 46% zurück. Die Umwelt- 
belastungen sanken in den beruhigten 
Gebieten um 64 bis 83% (Staub und 
Lärm). Die Zustimmung nach dem Um- 
bau betrug 63%, die Ablehnung 22%. 
Auch bei Autofahrern überwog die Zu- 
stimmung. 
Weitere Beispiele aus Schweden sind die 
Städte Göteborg, Västeras und Malmö, 
wo jeweils geschlossene Radwegnetze 
installiert wurden. Dies führte zu Zu- 
wächsen des Fahrradverkehrs um 15%, 
30% und 25% bei gleichzeitigen Abnah- 
men des Autoverkehrs um 10%, 20% 
und 15%. 
In Bologna (Italien, 492.000 E) wurden 
im Innenstadt- und Innenstadtrandbe- 
reich eine systematische Verkehrsberu- 
higung durchgeführt, außerdem wurde 
auch im sonstigen Stadtgebiet ein 
Fußwegenetz aufgebaut. Der ÖNV er- 
hielt ein Netz unabhängiger Busspuren 
und -Trassen, Die Verkehrserschlie- 
ßung für das Auto wurde dagegen durch 
Parkrestriktionen und Langsamfahr- 
strecken reduziert. Nach Einführung die- 
ser Maßnahmen gingen die Belastungen 
mit Autoverkehr um 20% zurück. Das 
ÖNV-Volumen nahm um 50% zu. Auch 
der Fußgänger- und Radfahrverkehr 
stieg sprunghaft. Die Zahl der Unfälle 
sank im Stadtgebiet um 35%. 
Aus diesen Beispielen wird eine hohe Flexi- 
bilität des Verkehrsverhaltens und der Ver- 
kehrsmittelwahl deutlich. Nach systemati- 
schen Verkehrsberuhigungsmaßnahmen 
bricht der Verkehr nicht etwa zusammen, 
sondern es treten deutliche Entlastungen 
ein. Das Ausmaß der möglichen Substitu- 
tionen durch mehr Fußgänger- und Rad- 
verkehr sowie durch besseren ÖNV wird 
für deutsche Großstädte auf 20—30% ge- 
schätzt. Vor diesem Hintergrund ist Ver- 
kehrsberuhigung bei weitem die billigste 
Maßnahme zur Lösung der städtischen 
Umweltprobleme.48 
11. Forderungen für die künftige Stadt- 
verkehrsplanung 
Angesichts der großen stadtverkehrspoliti- 
schen, umweltpolitischen und städtebauli- 
chen Bedeutung der Verkehrsberuhigung 
ist zu fordern: 
8 Bund und Länder müssen im Straßen- 
recht, in der STVO und im Gemeinde- 
verkehrsfinanzierungsgesetz umgehend 
Voraussetzungen für die umfassende 
und systematische Einführung von Ver- 
kehrsberuhigungsmaßnahmen schaffen, 
Für die Anfangsjahre dieser Bemühun- 
gen müssen in einem Sofortprogramm 
nicht abgeflossene Straßenbaumittel 
für Verkehrsberuhigung (Umbau von 
"7°
	        

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