Thomas Schaller
Rettungsaktion Hohenheimer Straße
Bürgerinitiative gegen städtische Nahverkehrsplanung in Stuttgart
1. DER FALL HOHENHEIMER
STRASSE
Die Hohenheimer Straße/Neue Wein-
steige ist eine der Haupteinfallstra-
ßen Stuttgarts. Tägliche Belastung:
ca. 36.000 Autos (in beiden Rich-
tungen). Die Schadstoffkonzentra-
tion ist mit die höchste von Stutt-
gart überhaupt — für Stickoxyde
liegt sie um 264% über dem gesetz-
lichen Grenzwert; wobei der Grenz-
wert an sich, z.B. verglichen mit
dem der USA, sehr kritisch zu beur-
teilen ist1. Kommentar eines Tier-
arztes: „Kleine Hunde sterben hier
nach zwei Jahren an Lungenkrebs.’
Ähnlich unmenschlich die Lärm-
werte: tags 78 dB(A), nachts
72 dB(A)“.
Die Straße führt durch ein dicht-
bewohntes Wohngebiet. Unmittelbar
an ihr wohnen etwa 3.000 Leute, im
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direkten Auswirkungsbereich 20.000
und im weiteren Einflußbereich
50.000.
Auf dieser Straße fährt — neben
den Autos — derzeit noch eine Stra-
ßenbahn, die Verbindungslinie zwi-
schen dem City-Talkessel und den
südöstlichen Vororten auf der Höhe
(Fildern). Diese Bahn muß mit ca.
7% Steigung 200 m Höhenunter-
schied überwinden. Auf ihrer kurvi-
gen Höhenfahrt bietet sie einmalige
Aussicht auf den Kessel. Laut städti
scher Eigenwerbung und Pressezita-
ten ‚„‚Europas schönste Panorama-
strecke”
Die städtische Planung
Diese Bahn soll weg. Nach langjähri-
ger Planungsdiskussion beschloß
der Gemeinderat im März 1977
einen Stadtbahntunnel für über
200 Mill. DM. Nach dieser Planung
verschwindet die Bahn auf der ge-
samten Strecke von 4,7 km unter
die Erde — bis auf ein Sieben-Sekun-
den-Fenster zum Alibi-Schnapp-
schußblick (Zusatzkosten: 10 Mill.
DM). Urteil der Frankfurter Rund-
schau: „Der teuerste Witz Stutt-
garts”’3,
Mit dieser städtischen Planung
wird nicht nur der Öffentliche Nah
verkehr mit enormen Summen un-
attraktiver gemacht. Es wird gleich
zeitig mehr Platz für die Autos ge-
schaffen. Derzeit blockieren die
Autos vor allem in Spitzenzeiten
regelmäßig die Straßenbahn und
auch umgekehrt. In Zukunft gibt
es für die Äutos freie Fahrt: Die
Straße soll als Verlängerung der Bo
denseeautobahn (A 83) kreuzungs-
frei (!) den Verkehr bis in die Stutt:
garter City bringen.Die Fahrspuren
werden entsprechend ausgebaut:
durchgehend vier zusätzliche Ein-
und Abbiegespuren. Die Folge: We-
sentliche Erhöhung der Kapazität
für den Individualverkehr, finanziert
aus Mitteln für den Öffentlichen
Nahverkehr, der Bevölkerung ange-
prissen als Förderung des Nahver-
kehrs
Bewohner wehren sich
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Die Bewohner kauften das der Stadt
nicht ab, Als das Planfeststellungs-
verfahren aufgrund krasser „‚Form-
fehler” (zu kurze Ankündigungs- und
Auslegungszeiten der Unterlagen)
wiederholt werden mußte, organi-
sierten Anfang 1978 einige Leute
(mehrere Anwohner, private Ver-
kehrsplaner, Jusos) eine Bewohner-
Versammlung. Eine Bürgerinitiative
wurde gegründet: ‚,Rettungsaktion
Hohenheimer Straße’. Man beschloß.
gegen die ausgelegten städtischen Plä-
ne formal Einspruch zu erheben. Da-
zu wurde durch eine großangelegte
Transparent-Aktion öffentlich auf-
merksam gemacht. An die hundert
Transparente mit Sprüchen wie:
„Macht Wohnen attraktiver — Autos
einen Stock tiefer’, „‚Wir wollen
keine Autobahn vor dem Schlafzim-
Übersichtskarte Stuttgart mit Kennzeichnung der Hohenheimer Straße/Neue Weinsteige
(Ausschnitt, Maßstab 1:80.000) Quelle: Stadtmessungsamt
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