mer’’ wurden an den Häusern ent-
lang der Hohenheimer Straße auf-
gehängt. Innerhalb von 14 Tagen
kamen insgesamt 1.900 Einsprüche
zusammen, eine bis dahin bei
Stadtbahn-Planung noch nicht da-
gewesene Zahl.
In kurzer Zeit erhielt die Bürger-
initiative erhebliche Beachtung,
auch Fernsehen und überregionale
Presse berichteten (FR, Spiegel) 4.
Der Grund: Die Bürgerinitiative
hatte offensichtlich einer allgemei-
nen, lange angestauten Unzufrieden-
heit über die Verkehrsplanung insge-
samt Ausdruck verliehen. Und: Die
Bürger waren in der Lage, eine eige-
ne qualifizierte Gegenplanung vor-
zulegen?
Alternativ-Planung
Der alternative Plan zum städti-
schen Stadtbahntunnel wurde von
drei privaten Stuttgarter Verkehrs-
planern/Architekten entwickelt®.
Er sieht anstelle des Tunnels für die
Stadtbahn einen Tunnel für die
Autos vor. Die Stadtbahn fährt da-
nach auf eigenem Gleiskörper nach
wie vor oberirdisch, an Individual-
verkehr bleibt lediglich Anliegerver-
kehr übrig. Der Autotunnel selbst
wäre wesentlich kürzer als der städti-
sche Straßenbahntunnel (etwa 1.300
m), er würde nur im unteren Bereich
die Wohnbebauung umfahren. Auf-
grund topographischer Gegebenhei-
ten ist es möglich, im höher gelege-
nen Bereich die Straße wieder auf
der alten Trasse zu führen. Seitlich
von ihr, leicht versetzt in offener
Hanglage, verliefe die Stadtbahn.
Insgesamt wäre nach dem Alter
nativ-Vorschlag mit weniger Geld
die Attraktivität des Öffentlichen
Nahverkehrs deutlich gesteigert,
die Kapazität des Autoverkehrs je-
doch nicht vergrößert und ein gro-
Bes innerstädtisches Wohngebiet
vom Verkehr nachhaltig entlastet.
Die Auseinandersetzung
Vom März 1978 bis jetzt (Febr. 79)
versuchte die Bürgerinitiative auf
verschiedenen Ebenen für ihre Kon-
zeption zu kämpfen:
® Öffentliche Informations-Aktio-
nen und Diskussionen über den
Alternativ- Vorschlag
» Gespräche mit Parteien
a Vorstellungen in Gemeinderats-
ausschüssen zur Information der
Stadträte und zur notwendigen
Richtigstellung manipulierter
Darstellungen der Stadtverwal-
tung
3» Gespräche mit Vertretern von
Land und Bund, den für die Fi-
nanzierung Zuständigen.
Der Erfolg war eine für ein derarti-
ges Projekt noch nie dagewesene
Diskussions- und Informationsbreite
in der Stuttgarter Bevölkerung —
nicht zuletzt gefördert durch aus-
führliche und zumindest anfangs
auch faire Berichterstattung in den
beiden Stuttgarter Tageszeitungen.
Auf der parteipolitischen Ebene
konnte lediglich bei der SPD eine
Veränderung erreicht werden — al-
lerdings auch dort keine grundlegen:
de Konsequenz, sondern Kompro-
mißbereitschaft.
Der letzte Höhepunkt der Aus-
einandersetzung ging um die nach
dem Planfeststellungsverfahren not
wendige Erörterung. Hier hat jeder
der Einsprecher das Recht, münd-
lich und persönlich noch einmal
seine Anliegen den Vertretern der
durchführenden Behörde gegenüber
vorzutragen.
Die Stadtverwaltung versuchte,
den bei dieser Erörterung zu erwar-
tenden massiven Protest der Bürger
durch taktische Tricks zu unterlau-
fen. Sie mietete den größten Saal
der Stadt mit 2.000 Sitzplätzen für
drei Tage und lud formgerecht
über das Amtsblatt ein (was nie-
mand liest). Reaktion der Bürger:
In einer eilends einberufenen Ver-
sammlung beschloß man zwar un-
gern, jedoch einstimmig, der städti-
schen Versammlung fern zu bleiben
Nach allgemeiner Auffassung ließ
Art und Weise dieser Veranstaltung
eine wirkliche „‚Erörterung” im Sin-
ne des Gesetzes nicht zu: Wer schon
hat die Zeit (Urlaub nehmen? ), an
drei aufeinanderfolgenden Arbeits-
tagen von morgens bis abends einer
Mammut-Veranstaltung mit 1.900
Leuten zu folgen und zu warten,
bis er vielleicht mal dran kommt?
Mögliche durchschnittliche Redezeit
rechnerisch 32 Sekunden ... Und
wer hat den Mut, in einem Konzert-
saal vor 2.000 Leuten sein ganz per-
sönliches Anliegen vorzutragen!
Der Boykott gelang 100 prozen-
tig: Auf der Bühne thronten die 10
Spitzenbeamten der Stadtverwaltung,
im gähnend leeren Parkett saßen gan-
ze 12 Bürger, draußen vor dem Ein-
gang eine Protestveranstaltung ...
Derzeitiger Stand der Auseinan-
dersetzung: Die alten Beschlüsse des
Gemeinderates (März 77) wurden für
den oberen Bereich der Trasse noch
einmal bekräftigt — von allen Par-
teien (zumindest CDU, SPD, FDP).
D.h.: Dort soll die Bahn unter die
Erde, wie geplant. Hier also Nieder-
lage für die Bürger.
Im eigentlichen Bereich der Ho-
henheimer Straße sahen sich die Räte
wenigstens zu einem Aufschub genö-
tigt. Derzeit finden Probebohrungen
im Hang statt, die die technische
und planerische Realisierbarkeit der
Alternativ-Trasse (Autotunnel) über-
prüfen sollen. Im Frühjahr 79 ist mit
dem Ergebnis und dann mit dem Be-
schluß des Gemeinderates zu rechnen
Allerdings: Der Ausgang ist unge-
wiß.
Die Rettungsaktion überlegt, ob
sie gegen eine mögliche Ablehnung
auch des letzten Teils der Alternative
den Klageweg einschreiten soll (Wi-
derspruch gegen den „‚Planfeststel-
lungsbeschluß‘” des Regierungspräsi-
diums). Gleichzeitig versucht man
weiterhin, auf die Geldgeber bei
Land und Bund einzuwirken.
Eine gerade durchgeführte, aller-
dings bisher noch geheimgehaltene
Repräsentativ-Umfrage unter Stutt-
garter Bürgern im Auftrag eines An-
zeigenblattes ergab übrigens eine deut
liche Mehrheit für die Alternativ-Lö-
SUNng ...
2. STUTTGARTER ÖFFENTLI-
CHER-NAHVERKEHRS-POLITIK
Was an städtischer Planung für das
Gebiet Hohenheimer Straße/Neue
Weinsteige vorgesehen ist, kann als
typisch für die gesamte Stuttgarter
ÖPNV-Politik (Öffentlicher Perso-
nen-Nahverkehr) angesehen werden:
Verschlechterung des ÖPNV-Ange-
botes, Verbesserung des IV (Indivi-
dual-Verkehr) — eine Verkehrspolitik
zum Nutzen der privaten Wirtschaft
und der wirtschaftlich besser Gestell-
ten.
Rückzug aus der Fläche und Strecken-
verlängerung ins Umland
Seit Jahren werden vor allem im In-
nenstadtbereich systematisch Stra-
ßenbahnstrecken abgebaut und ledig-
lich unvollständig und dann noch un-
zureichend durch Busse ersetzt. Hal-
testellen werden eingespart, in den
Untergrund verlegt.
Diese Entwicklung geht weiter.
Als Folge eines technisch überzoge-
nen U-Bahn-ähnlichen Stadtbahnaus-
baues mit Spurverbreiterung und
hochmodernen, eisenbahnähnlichen
Superzügen werden
e mehrere Strecken gekappt (wegen
zu enger Kurven)
® andere Strecken über kurz oder
lang eingestellt werden müssen.
Bei diesen letztlich benutzerfeindli-
chen technischen Standards spielt
die Hohenheimer Straße/Neue Wein-
steige eine Schlüsselrolle: Auf ihre
besonderen topographischen Anfor-
derungen hin sind trassen- und be-
triebstechnische Standards ausgerich-
tet — für das gesamte Netz. So ist der
Kampf der Stadtverwaltung um die-
sen Streckenabschnitt, den sie mit al-
len Mitteln führt, ein Kampf ums
Grundsätzliche, ein Kampf für eine
verfehlte Konzeption insgesamt.
Die Tendenz — Rückzug aus der
Fläche — hat eine Entgegnung auf der
anderen Seite: Ausweitung der
Strecken hinein ins Umland. Während
im innerstädtischen Bereich das ehe-
mals flächendeckende Netz auf weni-
ge radiale Strecken reduziert wurde,
werden Strecken, die die gesamte
Region (Mittlerer Neckar) erschließen,
systematisch ausgebaut. Stichwort
dazu: Verkehrsverbund.
Die seit Herbst 78 eröffnete S-
Bahn beispielsweise erweitert so den
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