Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1979, Jg. 11, H. 43-47, [48])

mer’’ wurden an den Häusern ent- 
lang der Hohenheimer Straße auf- 
gehängt. Innerhalb von 14 Tagen 
kamen insgesamt 1.900 Einsprüche 
zusammen, eine bis dahin bei 
Stadtbahn-Planung noch nicht da- 
gewesene Zahl. 
In kurzer Zeit erhielt die Bürger- 
initiative erhebliche Beachtung, 
auch Fernsehen und überregionale 
Presse berichteten (FR, Spiegel) 4. 
Der Grund: Die Bürgerinitiative 
hatte offensichtlich einer allgemei- 
nen, lange angestauten Unzufrieden- 
heit über die Verkehrsplanung insge- 
samt Ausdruck verliehen. Und: Die 
Bürger waren in der Lage, eine eige- 
ne qualifizierte Gegenplanung vor- 
zulegen? 
Alternativ-Planung 
Der alternative Plan zum städti- 
schen Stadtbahntunnel wurde von 
drei privaten Stuttgarter Verkehrs- 
planern/Architekten entwickelt®. 
Er sieht anstelle des Tunnels für die 
Stadtbahn einen Tunnel für die 
Autos vor. Die Stadtbahn fährt da- 
nach auf eigenem Gleiskörper nach 
wie vor oberirdisch, an Individual- 
verkehr bleibt lediglich Anliegerver- 
kehr übrig. Der Autotunnel selbst 
wäre wesentlich kürzer als der städti- 
sche Straßenbahntunnel (etwa 1.300 
m), er würde nur im unteren Bereich 
die Wohnbebauung umfahren. Auf- 
grund topographischer Gegebenhei- 
ten ist es möglich, im höher gelege- 
nen Bereich die Straße wieder auf 
der alten Trasse zu führen. Seitlich 
von ihr, leicht versetzt in offener 
Hanglage, verliefe die Stadtbahn. 
Insgesamt wäre nach dem Alter 
nativ-Vorschlag mit weniger Geld 
die Attraktivität des Öffentlichen 
Nahverkehrs deutlich gesteigert, 
die Kapazität des Autoverkehrs je- 
doch nicht vergrößert und ein gro- 
Bes innerstädtisches Wohngebiet 
vom Verkehr nachhaltig entlastet. 
Die Auseinandersetzung 
Vom März 1978 bis jetzt (Febr. 79) 
versuchte die Bürgerinitiative auf 
verschiedenen Ebenen für ihre Kon- 
zeption zu kämpfen: 
® Öffentliche Informations-Aktio- 
nen und Diskussionen über den 
Alternativ- Vorschlag 
» Gespräche mit Parteien 
a Vorstellungen in Gemeinderats- 
ausschüssen zur Information der 
Stadträte und zur notwendigen 
Richtigstellung manipulierter 
Darstellungen der Stadtverwal- 
tung 
3» Gespräche mit Vertretern von 
Land und Bund, den für die Fi- 
nanzierung Zuständigen. 
Der Erfolg war eine für ein derarti- 
ges Projekt noch nie dagewesene 
Diskussions- und Informationsbreite 
in der Stuttgarter Bevölkerung — 
nicht zuletzt gefördert durch aus- 
führliche und zumindest anfangs 
auch faire Berichterstattung in den 
beiden Stuttgarter Tageszeitungen. 
Auf der parteipolitischen Ebene 
konnte lediglich bei der SPD eine 
Veränderung erreicht werden — al- 
lerdings auch dort keine grundlegen: 
de Konsequenz, sondern Kompro- 
mißbereitschaft. 
Der letzte Höhepunkt der Aus- 
einandersetzung ging um die nach 
dem Planfeststellungsverfahren not 
wendige Erörterung. Hier hat jeder 
der Einsprecher das Recht, münd- 
lich und persönlich noch einmal 
seine Anliegen den Vertretern der 
durchführenden Behörde gegenüber 
vorzutragen. 
Die Stadtverwaltung versuchte, 
den bei dieser Erörterung zu erwar- 
tenden massiven Protest der Bürger 
durch taktische Tricks zu unterlau- 
fen. Sie mietete den größten Saal 
der Stadt mit 2.000 Sitzplätzen für 
drei Tage und lud formgerecht 
über das Amtsblatt ein (was nie- 
mand liest). Reaktion der Bürger: 
In einer eilends einberufenen Ver- 
sammlung beschloß man zwar un- 
gern, jedoch einstimmig, der städti- 
schen Versammlung fern zu bleiben 
Nach allgemeiner Auffassung ließ 
Art und Weise dieser Veranstaltung 
eine wirkliche „‚Erörterung” im Sin- 
ne des Gesetzes nicht zu: Wer schon 
hat die Zeit (Urlaub nehmen? ), an 
drei aufeinanderfolgenden Arbeits- 
tagen von morgens bis abends einer 
Mammut-Veranstaltung mit 1.900 
Leuten zu folgen und zu warten, 
bis er vielleicht mal dran kommt? 
Mögliche durchschnittliche Redezeit 
rechnerisch 32 Sekunden ... Und 
wer hat den Mut, in einem Konzert- 
saal vor 2.000 Leuten sein ganz per- 
sönliches Anliegen vorzutragen! 
Der Boykott gelang 100 prozen- 
tig: Auf der Bühne thronten die 10 
Spitzenbeamten der Stadtverwaltung, 
im gähnend leeren Parkett saßen gan- 
ze 12 Bürger, draußen vor dem Ein- 
gang eine Protestveranstaltung ... 
Derzeitiger Stand der Auseinan- 
dersetzung: Die alten Beschlüsse des 
Gemeinderates (März 77) wurden für 
den oberen Bereich der Trasse noch 
einmal bekräftigt — von allen Par- 
teien (zumindest CDU, SPD, FDP). 
D.h.: Dort soll die Bahn unter die 
Erde, wie geplant. Hier also Nieder- 
lage für die Bürger. 
Im eigentlichen Bereich der Ho- 
henheimer Straße sahen sich die Räte 
wenigstens zu einem Aufschub genö- 
tigt. Derzeit finden Probebohrungen 
im Hang statt, die die technische 
und planerische Realisierbarkeit der 
Alternativ-Trasse (Autotunnel) über- 
prüfen sollen. Im Frühjahr 79 ist mit 
dem Ergebnis und dann mit dem Be- 
schluß des Gemeinderates zu rechnen 
Allerdings: Der Ausgang ist unge- 
wiß. 
Die Rettungsaktion überlegt, ob 
sie gegen eine mögliche Ablehnung 
auch des letzten Teils der Alternative 
den Klageweg einschreiten soll (Wi- 
derspruch gegen den „‚Planfeststel- 
lungsbeschluß‘” des Regierungspräsi- 
diums). Gleichzeitig versucht man 
weiterhin, auf die Geldgeber bei 
Land und Bund einzuwirken. 
Eine gerade durchgeführte, aller- 
dings bisher noch geheimgehaltene 
Repräsentativ-Umfrage unter Stutt- 
garter Bürgern im Auftrag eines An- 
zeigenblattes ergab übrigens eine deut 
liche Mehrheit für die Alternativ-Lö- 
SUNng ... 
2. STUTTGARTER ÖFFENTLI- 
CHER-NAHVERKEHRS-POLITIK 
Was an städtischer Planung für das 
Gebiet Hohenheimer Straße/Neue 
Weinsteige vorgesehen ist, kann als 
typisch für die gesamte Stuttgarter 
ÖPNV-Politik (Öffentlicher Perso- 
nen-Nahverkehr) angesehen werden: 
Verschlechterung des ÖPNV-Ange- 
botes, Verbesserung des IV (Indivi- 
dual-Verkehr) — eine Verkehrspolitik 
zum Nutzen der privaten Wirtschaft 
und der wirtschaftlich besser Gestell- 
ten. 
Rückzug aus der Fläche und Strecken- 
verlängerung ins Umland 
Seit Jahren werden vor allem im In- 
nenstadtbereich systematisch Stra- 
ßenbahnstrecken abgebaut und ledig- 
lich unvollständig und dann noch un- 
zureichend durch Busse ersetzt. Hal- 
testellen werden eingespart, in den 
Untergrund verlegt. 
Diese Entwicklung geht weiter. 
Als Folge eines technisch überzoge- 
nen U-Bahn-ähnlichen Stadtbahnaus- 
baues mit Spurverbreiterung und 
hochmodernen, eisenbahnähnlichen 
Superzügen werden 
e mehrere Strecken gekappt (wegen 
zu enger Kurven) 
® andere Strecken über kurz oder 
lang eingestellt werden müssen. 
Bei diesen letztlich benutzerfeindli- 
chen technischen Standards spielt 
die Hohenheimer Straße/Neue Wein- 
steige eine Schlüsselrolle: Auf ihre 
besonderen topographischen Anfor- 
derungen hin sind trassen- und be- 
triebstechnische Standards ausgerich- 
tet — für das gesamte Netz. So ist der 
Kampf der Stadtverwaltung um die- 
sen Streckenabschnitt, den sie mit al- 
len Mitteln führt, ein Kampf ums 
Grundsätzliche, ein Kampf für eine 
verfehlte Konzeption insgesamt. 
Die Tendenz — Rückzug aus der 
Fläche — hat eine Entgegnung auf der 
anderen Seite: Ausweitung der 
Strecken hinein ins Umland. Während 
im innerstädtischen Bereich das ehe- 
mals flächendeckende Netz auf weni- 
ge radiale Strecken reduziert wurde, 
werden Strecken, die die gesamte 
Region (Mittlerer Neckar) erschließen, 
systematisch ausgebaut. Stichwort 
dazu: Verkehrsverbund. 
Die seit Herbst 78 eröffnete S- 
Bahn beispielsweise erweitert so den 
75
	        

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