genteil — der Hades war kein Paradies)!.
Vielmehr wurde das ewige Leben auf Erden
realisiert, indem der sich für die Gemein-
schaft Opfernde auf alle Zeiten im Gedächt-
nis der Lebenden präsent gehalten werde.
Die obligatorische Kultfeier dieses NS-
Glaubensbekenntnisses im Jahre 1923 verge-
wissert die Teilnehmenden, daß sie das von
ihnen für die Verwirklichung des totalen
Staates geforderte Selbstopfer umso vorbe-
haltloser erbringen könnten, als der Staat die
unverbrüchliche Garantie dafür übernimmt,
daß ihr Selbstopfer im Gedächtnis der Leben-
den unsterblich wird. Deshalb fand die Feier
ihren Höhepunkt in einem Akt der Verge-
genwärtigung der Toten. Das gesamte Ritual
lief auf diesen Moment zu.
Hitler war — freistehend im offenen Wa-
gen — vom Siegestor her zu mitternächtlicher
Stunde durch die Ludwigsstraße bis vor die
Feldherrnhalle gefahren — umloht von wa-
bernden Flammen und wallenden Rauch-
schwaden, die aus Opferschalen aufstiegen.
Die Schalen standen auf hohen Pylonen,
beidseitig entlang der Ludwigstraße. Auf den
Sockeln der Pylonen,die Namen der beim
Marsch auf die Feldherrnhalle gefallenen al-
ten Kämpfer in bronzenen Lettern. Die Licht-
regie strukturierte die links und rechts der
Straße aufmarschierten Kolonnen von SS und
SA zu Bühnenchören vielfacher Größe, wie
Wagner sie in seinen kühnsten Visionen mit
mehr als tausend Sängern vorausgesehen hat-
te. (An allen Nazifest-Inszenierungen waren
professionelle Bühnenbildner, Kostümbild-
ner, Regisseure, technische Stäbe beteiligt.)
Vor der Feldherrnhalle angekommen, ver-
ließ Hitler den Wagen. In Weltallstille schritt
er auf einem roten Läufer die Stufen empor,
um sich vor den Epitaphen der alten Kämpfer
rituell zu verneigen. Die Intensität dieses
Vorgangs, der noch nicht einmal der Höhe-
punkt der Feier war, läßt sich nur mit den be-
sten Inszenierungen der Höhepunkte von
Wagners „Götterdämmerung” vergleichen.
Der Höhepunkt folgte im zweiten Akt; die
Naziformationen marschierten auf dem Kö-
nigsplatz auf. Dieser Platz war von Troost,
dem ersten Lieblingsarchitekten Hitlers,
durch Pflasterung mit großen Steinplatten in
eine Bühne verwandelt worden. Als Haupt-
kulissen hatte Troost steinerne Baldachine
über gruftartige Vertiefungen gesetzt. In die-
sen Baldachinen standen die bronzenen Sar-
kophage der November-Gefallenen.
Ahnlich wie bei den Abschlüssen der
Reichparteitage waren die Kämpfer-Forma-
tionen auf dem Königsplatz so postiert, daß
Hitler durch sie hindurch — wie aus der Ferne
kommend — auf die Ehrenmale zuschreiten
konnte. Die Gasse erweckte den psycholo-
gisch kalkulierten Eindruck, auf einen Punkt
zuzulaufen, in dem sich Parallelen im Unend-
lichen überschneiden.
An diesem Punkt angekommen, wurden
dem Führer als Inkarnation der Totalität von
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft,
von Leben, Tod und Auferstehung Appell er-
stattet. Bei einem Appell überzeugt man sich
von der realen Anwesenheit der Mitglieder
eines militärischen Verbandes, indem man
ihre Namen aufruft, und die Aufgerufenen
sich nacheinander mit der Antwort „Hier!”
zur Stelle melden. Die Erweiterung eines sol-
chen, ganz alltäglichen militärischen Gesche-
hens zum Kernstück des nationalsozialisti-
schen Wunders des Glaubens gehört zum Ef-
fektvollsten und unleugbar wirkungsmächtig-
sten aller Selbstverwirklichungen des Totalı-
tarismus. Der Appellführer verlas jeweils den
Namen eines November-Toten, woraufhin
die versammelten Lebenden kollektiv mit
„Hier” antworteten, also die faktische Ge-
genwart der Toten versicherten.
Die Toten bezogen „Ewige Wache” im Ge-
dächtnis der Lebenden. Die Toten blieben in
den Lebenden inkarniert.
Die philosophischen, theologischen Be-
gründungen dieses Reiches der toten Leben-
den und der lebenden Toten gehen über alles
hinaus, was etwa die antiken Lokrer aufbo-
ten, um den toten Ajax zu vergegenwärtigen.
Die ließen in ihren Schlachtreihen — erste
Reihe Mitte — eine Lücke, in der der tote
Ajax als Kampfgenosse vorgestellt wurde.
Ahnlich wurden in den Arbeitskollektiven
der Sowjets, Mitte der 20er Jahre, Vorstel-
lungsräume ausgegrenzt, in denen man allen
erinnernd begegnen konnte, die bei der ge-
meinsamen Arbeit ums Leben gekommen
waren. Im 18. Jahrhundert wurde es bei eini-
gen christlichen Glaubensgemeinschaften zur
Gewohnheit, am gedeckten Tisch einen Platz
für Christus frei zu halten.
Minister Zimmermann plant offenbar, eine
Baulücke an der B 9 zwischen Bonn und Bad
Godesberg als Aufmarschgelände für Toten-
huldigungen freizuhalten. Daß er dazu weder
von den Lokrern, noch von den Herrenhuter
oder den Ursowjets angeregt wurde, dürfte
feststehen. Und die Begründungen für dieses
Vorhaben sind wohl auch nicht philoso-
phisch/theologischer Natur, sondern schlicht,
aber einprägsam: Wer von anderen die Be-
reitschaft zum Sterben als Ausweis demokra-
tischer Gesinnung verlangt („lieber tot als
rot”), muß diejenigen vorstellen, die sich be-
reits als unbestreitbar glaubwürdig erwiesen
haben. Das aber können nur die Toten sein.
Sie werden in dieser Eigenschaft Märtyrer ge-
nannt. Und ein Märtyrer wiegt bekanntlich
tausend Wahrheiten auf. Es geht also auch
neuerdings um die Erübrigung der Vorstel-
lung durch schneidiges Paradieren. Das ist
doch etwas anderes als was die Nazis sich
dachten. oder nicht?
Das neue Expose für den Aktschluß!
Schonungslos die Selbstzensür aufdek:
kend, die er als Zeugen seiner Theorie auf-
ruft — Voltaire etwa, d’Holbach, Klages,
Freud, Foucault, Anders und Cioran — ap:
pelliert Horstmann gegen den Selbsttäu-
schungsmechanismus der aufklärerischen
Vernunft an das mythische Bewußtsein von
Götterdämmerung und Kataklysmus. Allein
solches Bewußtsein vermag ihm zufolge das
Gefängnis des Gattungsnarzismus aufzubre-
chen, Indem es realisiert, daß das Menschen-
tier der Schöpfung Paria und Entarteter ist.
In der modernen Waffentechnologie hat es
sich die Mittel verschafft, jenes Außer Facon
geratene Euthanasieprogramm zu bringen,
den Fvolutionsproze. bewußt und planvoll
zu Ende zu bringen — mit der kollektiven
Selbstvernichtung der Menschheit.
Dabei ist sich Horstmann gewiß, daß dieser
ultimative Akt keine Wahl darstellt, zu der es
etwa noch eine Alternative gäbe. Worum es
ihm, der mit Klages den Untergang für letzlich
unanbwendbar hält, deshalb geht, ist, daß die
mit den Arsenalen der ABC- Waffen historisch
erstmals gegebene Chance, unwiderruflich
und erinnerungslos Sch zu machen mit
Uns, jetzt nicht vertan werde,
Die 100 Seiten des Pamphlets sind nur jeweils
leicht variierte Paraphrasen dieses wahrhaft
grundlegenden Klappentextes. Den nahelie-
genden Verdacht, Horstmann hätte wie Eu-
enspiegel, Nietzsche oder Schweijk — ge-
fährliche, weil eingängige Argumente da-
durch aus den Angeln heben wollen, daß er
sie affirmativ bis in ihre radikalen Konse-
quenzen vorantreibt — diesen Verdacht weist
er Autor empört zurück. Er will sich seinen
Stolz nicht nehmen lassen, ein Ketzer zu sein.
Das kann er jedoch nur, weil er willkürlich
darauf verzichtet, 3000 Jahre lang vorgetra-
gene Überlegungen zu seinen Argumenten
zur Kenntnis zu nehmen, obwohl er ja angeb-
lich Philosophiegeschichte rekonstruieren
will, Sie ist danach: sie sieht ihm ähnlich, Ab-
gesehen von zahlreichen, normalerweise
ganz harmlosen, aber gerade als wissen-
schaftliche Urteile grotesk pubertären Sen-
tenzen wie: die Vertreter des deutschen Idea-
lismus „haben sich vergangen an ihrem M6e-
tier und den eigenen, zum Teil überragenden
Anlagen‘ — also abgeschen davon erweist
sich der Wissenschaftler Horstmann auch in
der Sache als beängstigend unfähig. So zitiert
er zum Beispiel als einen unter vielen Belegen
für seine menschenflüchtige Philosophie eine
Passage aus Montaignes Essay „Über die Ka-
nibalen“, wo es heit: „Wir können die Wil-
den also Barbaren nennen, wenn wir ihr Vor-
gehen von der Vernunft aus beurteilen,, aber
nicht, wenn wir sie mit uns vergleichen, denn
wir sind in vieler Beziehung Barbarischer”.
Das meint jedoch das ganze Gegenteil zum
menschenflüchtigen Angeberpathos. Das ist
genuine Aufklärung, sowohl dem Selbstver-
ständnis wie der Wirkung nach. — Noch ein
Beispiel für die vollständige Verdrehung der
Philosophiegeschichte, die Horstmann als
Rekonstruktion verkauft:
„Während sich Kant mit seiner Kritik
d.r.V. ganz im Sinne d’Holbachschen Skepti-
zismus daran macht, die Grenzen möglicher
Erkenntnis abzustecken...” , schreibt Horst-
mann, nachdem er zuvor d’Holbach zum Erz-
vater aller jener hochstilisiert hat, die — wie
er — von rasendem Menschenekel angetrie-
ben werden. Kant „steckte die Grenzen mög:
licher Erkenntnis” gerade nicht ab, um zu zei-
gen, warum es den Menschen besser nicht ge-
ben sollte. Im Gegenteil: Gerade der Skepti:
zismus ermöglicht eine positive Einschät-
zung der menschlichen Fähigkeiten, soweit
sie im Bewußtsein ihrer Grenzen genutzt
werden.
Nun könne man Horstmann gegenüber ja
dessen „Desiderat einer Anthropologie der
Distanz“ ernst nehmen und ihn also nicht be-
achten. Man könnte auch zynisch darauf ab-
heben, daß Horstmann in Bezug auf sich
selbst allen Grund hat zu fordern, daß es ihn
besser nicht gäbe. Aber schon die ihn begei-
sternde Vorstellung, das bisher ‚selbstver-
ständliche, scheinbar universelle Gebot der.
Sympathie und Solidarität mit der Gattung
aufzukündigen (zu der der Nachenkende
selbst gehört), läßt sich nicht nachvollziehen,
da unsereins ja gerade gegen beschränkte
Gemüter sich zur Solidarität verpflichtet
fühlt.
Es hilft alles nichts, das anthropofugale
Denken ist ganz up to date und von absehba-
rem Erfolg: z.B. beim amerikanischen Innen-
minister Watts, der verlautbarte, ein Christ
glaube an die Wiederkehr Christi am Welten-
de. Das Weltende ist aber dank der ABC-
Waffen zum ersten Mal eine olaubwürdie‘
Verheißung, deshalb könne man durchaus
die atomare Apokalypse als endgültige Voll-
endung des biblischen Heilsplanes herbeiseh-
nen. Die deutschen Choristen (unter ihnen
Minister, Rektoren, Literaten, Professoeren,
Künstler und andere Bewunderer ewiger
Dummheiten) beschränken sich noch auf die
scheue Anfrage; „Na, hat denn Mr. Watts
nicht recht?”
Sie setzen bis auf weiteres ihre gepflegte
Unterhaltung darüber fort, wer außer ihnen
noch zur Elite gehören sollte, wie man die in-
flationären Glücksansprüche des Untieres
abwehren könne; ob nicht doch nur Sklaven-
haltergesellschaften eine höhere Kultur ent-
‚wickeln könnten, und ob es deshalb bald
auch in unseren Privathäusern wieder reich-
lich Dienstpersonal geben müsse,
Sie alle dürfen sich von Horstmann ge-
schmeichelt fühlen wie bisher von Carl
Schmitt. Übrigens fiel es auch immer schon
schwer, bei Carl Schmitt irgendeinen wissen-
schaftstheoretisch oder anderweitig logisch/
systematisch vertretenen Gedanken zu ent-
decken, was den Huldigungen an ihn ebenso-
wenig Abbruch tat, wie Horstmanns Philoso-
phie seiner Beförderung zu einem der jungen
Götter der Wende im Wege stehen wird. Sie
alle dürfen sich erhöht fühlen, weil Horst-
mann sie so gut versteht: „ihr wirkliches Le-
benselement geben das Autodafe und der
Schindanger ab, und ihre Taten beseelt ra-
sender Menschenekel”.
Was sind das doch für interessante Untie:
re, endlich ist der Menschenzoo verwirklicht!
Wie aufregend, wie heroisch, sind sie in ih
rem Anihilismus — und wie spektakulär in der
Darstellung von Menschenliebe als Perver-
sion. Horstmann, der immer darauf hinweist,
daß er und seinesgleichen auch Latein verste-
hen, empfiehlt die Wende als nahtlosen
Übergang vom homo-mensura-Satz zur guten
alten Mensur, die dem Menschen als Anmaß
aller Dinge endlich die Fresse vollständig zer-
fetzt. Aber Horstmann denkt ja positiv, und
was ist positiver als der Gedanke ans Para:
dies. „Denn nicht bevor die letzte Oase ver-
Ödet, der letzte Seufzer verklungen, der letz:
te Keim verdorrt, wird wieder EDEN sein auf
Erden,” dichtet der Philosoph aus Münster,
Der Vorgriff auf diese Ode seines Paradieses
herrscht in den Köpfen unserer Wende-Den-
Aufregende Fragen in diesen Zeiten: Werden
die Denker und Dichter den Wettlauf mit den
Politikern gewinnen? Wer wird wohl als er-
ster die große Wende schaffen, ohne alles in
den Sand zu setzen? Die letzte große Wende
hieß noch „Kehre” und wurde vom Philoso-
phen Heidegger initiiert — allerdings dicht
gefolgt von Adenauer mit seiner Abkehre
von den Konsequenzen aus der Geschichte
des Dritten Reiches. Diesmal hat schon ein
Politiker, der gewandte H.D. Genscher, die
Wende propagiert. Da hatten die Intellektu-
ellen doch es Nachsehen, wenn sich auch et-
wa prominente FAZ-Autoren mit Falkland-
Kriegshymnen sehr ins Schreibzeug legten.
Inzwischen holen die Geisteshelden Germa-
niens erneut auf. Sie sind wieder die Speer-
spe aller Wendemanöver. Unbestritten in
dieser Position ist Ulrich Horstmann, dessen
Medusa-Bändchen „Das Untier — Konturen
einer Philosophie der Menschenflucht” bereits
das Entzücken der konservativen Revolutio-
näre des inneren Reiches wurde.
Horstmann widmet zwar seine Wende-
Volte „Den Ungeboren und jenen Yahoos,
Jie Wissenschaft von Satire wohl zu unter-
scheiden vermögen.” Was er dann aber
schreibt, ist weder Wissenschaft noch Satire,
sondern eben Wendemanöver. Ob man dafür
auf die Kennzeichnung als „unfreiwillige Sati-
te” oder „Wissenschaft als Verbrechen” zu-
rückgreifen sollte, ist angesichts des von
Horstmann selbst verfaßten Klappentext —
summaries — völlig gleichgültig:
„Nur schwer wird man sich dessen enthalten
können, den Autor als Ketzer, seine These als
hlasphemisch zu brandmarken, gilt ihm doch
2ben dieses Leben nicht nur nicht mehr als er-
haltenswert, sondern erscheint ihm eine men-
schenleere, vermoderte Welt auch als überaus
wünschbar und plädiert er offen und ohne jede
Tronie für die unwiderrufliche Abschaffung
des Menschen.”
Ulrich Horstmann lobt dann sein menschen-
flüchtiges Denken als eine „Rekonstruktion
der Philosophiegeschichte aus radikal durch-
yehaltenen antihumanistischem Aspekt”