Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1983, Jg. 15, H. 67, 68, [69/70], 71, 72)

Unter drei Augen 
Jede Nacht sah A.I. Suslow, Raketenele- 
metriespezialist, in der Bunkeranlage „in mir 
die zwei Augen meines langjährigen Gönners 
und Ausbilders“, Davidows, dem er zugetan 
war und dessen Vorschriften er, dem geplan- 
ten Soll an Wachsamkeit nach, gern noch 
übertroffen hätte. Sie waren aber bereits als 
Präzisionskammern ausgestaltet und ließen 
den inneren Anliegen A.l. Suslows keinen 
Raum, so daß Suslow nicht einmal einen 
Moment vor sich hinträumen durfte, auch 
Blitzangriffe überhöhter Wachsamkeit zu 
unterlassen hatte, wie einer sie unternimmt, 
um den Übermut zu kühlen, er hätte die den 
Wachaugen untergeordneten Präzisionsorga- 
ne und -instrumentarien sogleich durchein- 
andergebracht. In ihm aber, „unterhalb des 
moralischen Weckers in mir“, neigten alle 
wirklichen Organe seiner Wachheit zum 
Schlaf oder zur Ausscheidung, und so ging 
jede Reserve, die der Leistungssteigerung 
hätte dienen können, ohnehin in die Aufpaß- 
reserve dieser inneren Augen, die sich zu 
einem permanent rasselnden Wecker ent- 
wickelten, den er wiederum nicht recht lieben 
konnte, ein Wecker, der ihn zu gleichmäßiger 
Aufmerksamkeitsverteilung, also geplanter 
Haltung anhielt. Hätte er die Restkräfte, die er 
innerhalb seiner Aufgabe verwaltete, anders 
eingesetzt, nämlich nicht als Nachhut (Auf- 
sammler der Nachzüglerei), sondern als 
leistungsstärkende Vorhut, z.B. hätte er die 
Pausen zu Lernzwecken genutzt, wäre ein 
Rackelkurs entstanden, der für das Wach- 
programm der ihm anvertrauten Raketen- 
stellung unerträglich gewesen wäre. Er konnte 
ja eine Rakete nicht z.B. abschießen und 
wieder zurückholen. Insofern war alles, was 
die zwei Augen des Ausbilders in ihm weckten, 
zum Programm geworden. 
Über sich aber, in der Höhe des Nacht- 
himmels, wußte dieser Agent das Einauge des 
Feindes, ein Satellitenauge, das in geostatio- 
närer Bahn sein Tun und Lassen oder vielmehr 
dasjenige seiner verlängerten Sinne und 
Organe: des Silos, überwachte, der „ständige 
Wecker über mir“. In einem Ernstfall mußte 
dieses dritte Auge aus seiner Bahn herunter- 
stürzen, um den Ausschnitt des Silos in detail- 
reicherem Maßstab zu überblicken, großes 
Auge werden, wie das von Suslows Großmut- 
ter sich vergrößert hatte, kurz ehe sie starb, 
„als wollte sie ihn in ihr Auge nehmen“. Das 
Geschwür in der rechten Kopfseite drückte 
das Auge aus der Höhle heraus. Es wird mich 
holen, dachte Suslow. Diese einzige Bewe- 
gung, die von Suslows drittem Auge, dem 
Aufpasser im Sternenzelt, auch schon Ver- 
trauter geworden, eines Tages ausgehen 
würde, wäre das Zeichen, das Silo in Betrieb 
zu setzen, wenn alle übrigen Zeichen ausfielen. 
Er hatte spätestens bei Sturz des Auges seine 
Rakete in Bewegung zu setzen. 
Die unmittelbaren Augen, über die Suslow 
in seinem Vorderkopf zusätzlich verfügte, er 
vergewisserte sich gelegentlich, daß sie noch 
da wären, waren dagegen verlängerte Organe 
der Instrumente seines Labors, sozusagen 
untergordnete Ruder, im Status wie „einfache 
Bevölkerung, werktätige Massen“, also eher 
eine leitende Idee, Programmidee, anderer- 
seits Hilfskräfte, die er mit Unterstützung der 
drei imperativen Oberaugen in Schach zu 
halten, an der Herstellung von Trugbildern 
oder auch realistischen Einblicken zu hindern 
hatte. 
Das Innere dieses Gefechtsstandes, das die 
Baubehörden hellgrau ausgestaltet hatten, 
sollte nach den Planungen später einmal in ein 
feines Grün oder stilles Gelb getüncht werden. 
Die Böden bestanden aus Gummi, die 
Toiletten waren auf federnden Unterlagen und 
ohne Bodenhaftung aufgehängt. Diese Dämp- 
fungen entsprachen der Annahme, daß es im 
Ernstfall nicht etwa der Raketenschlag des 
Gegners, sondern schon die Aktivität der 
benachbarten zweiten Startrampe wäre, die 
dieses Quartier durchschütteln würde, so daß 
gar nicht feststand, ob aus der zerrütteten 
Plattform noch ein Präzisionsschuß abgege- 
ben werden könnte. War dagegen Suslows 
Schuß der erste, so verlagerte sich das 
Problem, es wurde eines der Nachbarstellung. 
Vertrauten beide Stellungen ihr Geschoß 
”Nicht kleckern, sondern klotzen.” 
Dies ist der taktische Grundsatz der Panzer- 
waffe im Blitzkrieg: Massierung stärkster 
Kräfte am Schwerpunkt, Vernachlässigung 
aller Nebenschauplätze. Dieser militärische 
Führungsgrundsatz bezieht sich jedoch 
auf lebendige Kräfte, die ihren Schwerpunkt 
ändern können, wenn der Feind 
woanders angreift als man dachte. Die 
Neigung, relativ undifferenzierte Massen 
von Baumaterial auf wenige Schwerpunkte 
zu konzentrieren, liegt der gesamten Bau- 
weise im dritten Reich zugrunde. Die 
gehortete Masse kann sich aber nicht dorthin 
bewegen, wo der Feind tatsächlich angreift. 
Als die Alliierten landen, werden die 
wenigen Kompakt-Bunker des Atlantik- 
Walls umgangen, wenn sie nicht überhaupt 
an Stellen an der Küste liegen, an denen 
keine Alliierten landen. Die Anwendung 
des Schwerpunkt-Führerprinzips auf 
Obijekt-Massen ist ein Schematismus. 
gleichzeitig dem Weltraum an, so erschütter- 
ten sie wechselseitig die Zieleinrichtungen. 
Insofern bediente Suslow eine Kanone, die 
nur einmal schoß, und es war fraglich, ob 
dieser Ansatz etwas Praktisches betraf. 
Unter den drei Augen, zu den nächtlich 
erleuchteten Instrumenten spähend, drückte 
der erfahrene Suslow (aber Erfahrung ist 
nichts Praktisches, ernstfalls - technisch 
äußert sie sich nicht, sondern nur hypothe- 
tisch, Schätze an Wachsamkeit häufend) seine 
Eindrücke so aus: Bei korrekter, nämlich 
klassenbewußter Messung, die Klasse da- 
durch bestimmt, daß ich nur mit der Erde 
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