Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1983, Jg. 15, H. 67, 68, [69/70], 71, 72)

Bunker der Maginot-Linie. 
Solche Bunker sind die ”Augen” eines ver- 
winkelten, unterirdischen, städtischen 
Systems. Die Armee wird unter die Erde 
verlegt. Der Krieg soll für die Bevölkerung 
aus dem Blickfeld verschwinden. Die Denk- 
mäler der Maginot-Linie sind 
Verdrängungs-Kunstwerke. In inkonse- 
quenter Weise zeugen sie davon, daß die 
Kriegsteilnehmer-Generation von 1916 
beschlossen hat, den Krieg abzuschaffen. 
Die Formel heißt: ”Nie wieder ersten 
Weltkrieg”. Das hilft zu Beginn des 
Zweiten Weltkriegs wenig. 
Maginot, Feldwebel bei Verdun, dort 
schwer verwundet, 1916 Parlamentarier, 
der den Angriff anführt, der zur Absetzung 
des französischen Oberbefehlshabers Joffre 
führt, war als späterer Kriegsminister für 
die Errichtung der ”Französischen Mauer” 
verantwortlich. Sie ist nach ihm benannt. 
tion, die konzernartige Massenproduk- 
tion, auf militärischem Gebiet zu erfinden, 
weil die zivilen Verhältnisse dafür zu träge 
sind, machte aus allem, was seinem Befehl 
unterliegt, bloßes Material. Bloßes Ma- 
terial aber kämpft gar nicht. Das ist die 
Pointe des Buches Vom Kriege von Clau- 
sewitz. Auf eine grausige Weise wiederho- 
len sich die primitiven Anwendungen 
dieses Grundprojektes im Giftgaskrieg von 
1916 und in den sog. Materialschlachten 
des Zweiten Weltkriegs. Die gleiche Denk- 
form liegt der offensiven Raketenrüstung 
heute zugrunde, besonders deutlich in der 
Vorstellung der „engen Packung“ der MX. 
Es ist schwer zu fassen, daß Materialisie- 
rungen dieser Denkform einerseits derart 
viele Menschen umbringen können, also 
aus Tatsachen bestehen, zugleich aber et- 
was strikt Unwirkliches sind. Das ist kein 
theoretisches Problem, sondern ein Pro- 
blem der sinnlichen Übersetzung. 
Die wichtigste sinnliche Übersetzung ge- 
schieht durch Bauten. Nur sie bilden Groß- 
Zeichen, moderne Panoramen, lassen sich 
dinglich anfassen. Das wäre bei Filmen 
oder gar Buchstaben schwierig. Zur 
Kriegsarchitektur zählt dabei auch das 
Aussehen der Waffen, die Symbolik ihrer 
Standorte und (wie der unsichtbare Gott 
unbestechlicher und mächtiger erscheint 
als jeder sichtbare) die neuartige Tendenz 
zur Ungegenständlichkeit der Abschrek- 
kung, Kriegsdrohung und Rüstung. Es zei- 
gen sich zwei Knotenpunkte: 
(1) Gravitation. 
Dasjenige, für das Vorarbeit bereits gelei- 
stet wurde, das einfach zu addieren ist, 
dasjenige wofür der Wiederholungszwang 
Zuarbeit leistet, hat die größere Überre- 
dungs- und Durchsetzungskraft als das 
noch zu Formulierende. Es geht von allen 
Anwendungen der falschen Denkform 
(„Massierung von bloßen Objekten“) eine 
Gravitation aus. Anders gesagt: nur die Ge- 
genproduktion hätte gegen solche Produk- 
tion Gegenmacht. Auf dem Gebiet deı 
Kriegsarchitektur aber gibt es ja keine 
differenzierende Gegenproduktion. Für 
das politische Vorstellungsvermögen deı 
erdrückenden Mehrheit der Bevölkerung 
heißt es heute wie 1939, wie 1914, wie 1802: 
warnende Worte gegen umbauten Raum. 
Schon Kassandra ist gegenüber dem 
Mauerwerk Trojas ohnmächtig. Obwohl 
doch Kassandra recht behält, die Sicher- 
heit der Mauern aber trügt! 
(2) Subjektiv: Die Lähmung, 
In der Bauweise der Gefühle gilt ein Ge- 
setz, das es in den äußeren Architekturen 
nicht gibt: ein Gebäude bleibt stehen bis es 
verfällt oder niedergerissen wird. Vom Ge- 
fühl im Inneren der Menschen aufrechter- 
haltene Gebäude bleiben dagegen auch 
dann stehen, wenn sie niedergerissen wur- 
den oder längst verfallen sind. Alle Roh- 
stoffe dieser inneren Bauten sind zeitlos. 
Sie können sogar breite Teile der Zukunft 
vorwegverstehen (bzw. verbauen). Eine 
vom Zukunftshorizont ausgehende Ver- 
zweiflung wird deshalb schon jetzt das Ge- 
fühl lähmen, das benötigt wird, um ein 
Schicksal noch zu wenden. Das ist die sub- 
jektive Seite des Kassandra-Komplexes: 
die Psyche ist klüger als die ‚Gegenwart, 
vermag in der Zukunft zu lesen. Trifft aber 
dieser Blick in die Zukunft auf etwas Un- 
erträgliches, so sperren die Wünsche, und 
der Blick wird starr. Dies ist die Erklärung 
dafür, daß verzweifelte Nationen keine 
Auswege finden. 
Für mich haben Verteidigungsbauten in- 
sofern etwas Tröstendes, als sie unreali- 
stisch geworden sind. Von den Ruinen geht 
keine Überredungskraft aus. An dieser 
Stelle hört die Trost-Wirkung schon auf, 
weil ich ja weiß, daß zur Zeit zahlreiche 
Architekten ihre Kräfte an Raketensilos er- 
proben, die gewiß auch neben ihrer 
Funktion einen Ausdruck haben. Sie wer- 
den vielleicht schon, auch ohne Zutun eines 
Gegners, nach wenigen Jahren Ruinen 
sein - und daran ist überhaupt nichts 
beruhigendes. 
Die Architektonik der Vernunft dagegen 
hat bisher fast keine Bauten hinterlassen. 
In der Einleitung zur Transzendentalen 
Methodenlehre benutzt Immanuel Kant, 
(Kritik der reinen Vernunft, in: Werksaus- 
gabe (Wilhelm Weischedel), Band IV/1I, S. 
609) ausschließlich Bilder über Haus- und 
Großbau, um seine Methode, in der es um 
den gesellschaftlichen Abbau von Krieg 
geht, näher zu erläutern. Er spricht von 
Materialprüfung, dem Turmbau zu Babel, 
der bis an den Himmel reichen sollte, aber 
die Sprachverwirrung bewirkt, vom Bau 
von „Wohnhäusern auf der Ebene der Er- 
fahrung“ zu sprechen. Er sagt: Die Men- 
schen werden nicht aufs Wohnen ver- 
zichten, sie werden immer daran sein, 
etwas zu bauen („indem wir ... von der 
Errichtung eines festen Wohnsitzes nicht 
wohl abstehen können ...“). Wenn es um 
das Wichtigste geht: Sicherheit für das, was 
wir unmittelbar lieben, intensiviert sich 
diese Bautätigkeit. Insofern ist die subjek- 
tive Seite der Menschen, ihre Gefühle, eine 
ungeheure Sortierung von Verteidigungs- 
anlagen; darin Augen, ähnlich eng umris- 
sen, „verkorkt“, wie die Bunkerschlitze der 
Maginot-Linie.
	        

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