Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1983, Jg. 15, H. 67, 68, [69/70], 71, 72)

”Folgendes müssen wir im 
Kontext nuklearer Gewalt noch 
hinzudenken: Die Einbildungs- 
kraft unbewußter Phantasien 
vermag die nukleare Tat als 
schon geschehene erscheinen 
zu lassen. Das schließt jede 
Möglichkeit der Reparation to- 
tal aus. Angesichts des zer- 
störten — und zwar endgültig 
zerstörten — Objekts bricht die 
Selbstachtung zusammen, und 
der folgende Zustand ist 
praktisch ’©identisch mit einem 
gelähmten, depressiven Ich’.” 
Carl Nedelmann, 
Zur Vernachlässigung der 
psychoanalytischen Kultur- 
theorie, in: Hellmut Becker, 
Carl Nedelmann, Psychoanalyse 
und Politik, Frankfurt/M. 
1983, Manuskript 
Fahne 431/44 
Moralischer Kannibalismus 
Siegfried Theurisch nährte sich von morali- 
scher Masse, die in beliebiger Menge zu erzeu- 
gen oder abzufressen war. Sprach eine Gruppe 
gemütlich vor sich hin, umgarnte sie eine auf- 
geworfene Frage (wie es in der Natur dahin- 
strömende Wässerchen gibt, die sich irgend- 
wann vereinigen und von der Aussicht leben, 
daß sie, zu Strömen vereinigt, irgendwann in 
Meere münden, die wiederum das Wasser ge- 
ben, das auf die sommerlichen Böden platscht. 
Solcher Kreislauf erfreut wegen der Hoffnung 
auf Wahrheit, keiner der Einzelvorgänge 
würde aber unterlassen, wenn diese Hoffnung 
schwände ...), so giftete Siegfried Theurisch, 
störte die Reden, die ihm nicht intensiv, zu an- 
strengungslos, weitab vom Begriff zu liegen 
Schienen. Er wollte Staudämme errichtet 
sehen, sog. Konzentration. Es gibt keine Stim- 
mung, Gruppe oder Strömung, die das nicht 
stört. 
Er monopolisierte in jeweils kurzer Zeit die 
in dieser Gruppe erzielbare (oder abgrenzba- 
re) Moralität, also den frei flottierenden guten 
Willen einer jeden Gruppe, fraß ihn in sich, so 
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daß die Gruppe jeweils zerfiel. Er galt als 
Stänkerer, es war aber schwierig für die 
Freunde, sich gegen diesen Fresser zu weh- 
ren, da sie ihn, in dessen Kopf-Bauch jetzt der 
gute Wille gehortet war, nicht aus der Gruppe 
vertreiben konnten, ohne sich von etwas Ei- 
genem, ihrem zuvor hergestellten guten 
Willen, zu trennen. Insofern war er jeweils 
bald Gruppenchef einer kaum noch florieren- 
den Gruppe, die unter seinem Angesicht da- 
hinvegetierte, und der einzige Vorteil seiner 
unbezähmbaren Freßlust bestand darin, daß 
er, vollgesogen auf den doppelten Körperum- 
fang, wie jenes Insekt, die Tendenz hatte, zu 
einer anderen Gruppe zu stoßen, um sie auszu- 
saugen; 
Ich muß zu einem Termin, sagte Siegfried. 
Ach ja, antworten die Erschöpften. 
„Ein zweijähriges Kind mag abstreiten, daß 
es ins Bett gemacht hat; wenn es behauptet der 
Hund oder der Teddybär sei der Sünder, dann 
’projiziert’ es. Es hat nichts anderes getan, als 
sein Leugnen (’°ich war es nicht’) durch eine be- 
sondere Form von Gegenbesetzung zu ver- 
stärken (’er war es’)“. (Waelder)
	        

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