”Folgendes müssen wir im
Kontext nuklearer Gewalt noch
hinzudenken: Die Einbildungs-
kraft unbewußter Phantasien
vermag die nukleare Tat als
schon geschehene erscheinen
zu lassen. Das schließt jede
Möglichkeit der Reparation to-
tal aus. Angesichts des zer-
störten — und zwar endgültig
zerstörten — Objekts bricht die
Selbstachtung zusammen, und
der folgende Zustand ist
praktisch ’©identisch mit einem
gelähmten, depressiven Ich’.”
Carl Nedelmann,
Zur Vernachlässigung der
psychoanalytischen Kultur-
theorie, in: Hellmut Becker,
Carl Nedelmann, Psychoanalyse
und Politik, Frankfurt/M.
1983, Manuskript
Fahne 431/44
Moralischer Kannibalismus
Siegfried Theurisch nährte sich von morali-
scher Masse, die in beliebiger Menge zu erzeu-
gen oder abzufressen war. Sprach eine Gruppe
gemütlich vor sich hin, umgarnte sie eine auf-
geworfene Frage (wie es in der Natur dahin-
strömende Wässerchen gibt, die sich irgend-
wann vereinigen und von der Aussicht leben,
daß sie, zu Strömen vereinigt, irgendwann in
Meere münden, die wiederum das Wasser ge-
ben, das auf die sommerlichen Böden platscht.
Solcher Kreislauf erfreut wegen der Hoffnung
auf Wahrheit, keiner der Einzelvorgänge
würde aber unterlassen, wenn diese Hoffnung
schwände ...), so giftete Siegfried Theurisch,
störte die Reden, die ihm nicht intensiv, zu an-
strengungslos, weitab vom Begriff zu liegen
Schienen. Er wollte Staudämme errichtet
sehen, sog. Konzentration. Es gibt keine Stim-
mung, Gruppe oder Strömung, die das nicht
stört.
Er monopolisierte in jeweils kurzer Zeit die
in dieser Gruppe erzielbare (oder abgrenzba-
re) Moralität, also den frei flottierenden guten
Willen einer jeden Gruppe, fraß ihn in sich, so
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daß die Gruppe jeweils zerfiel. Er galt als
Stänkerer, es war aber schwierig für die
Freunde, sich gegen diesen Fresser zu weh-
ren, da sie ihn, in dessen Kopf-Bauch jetzt der
gute Wille gehortet war, nicht aus der Gruppe
vertreiben konnten, ohne sich von etwas Ei-
genem, ihrem zuvor hergestellten guten
Willen, zu trennen. Insofern war er jeweils
bald Gruppenchef einer kaum noch florieren-
den Gruppe, die unter seinem Angesicht da-
hinvegetierte, und der einzige Vorteil seiner
unbezähmbaren Freßlust bestand darin, daß
er, vollgesogen auf den doppelten Körperum-
fang, wie jenes Insekt, die Tendenz hatte, zu
einer anderen Gruppe zu stoßen, um sie auszu-
saugen;
Ich muß zu einem Termin, sagte Siegfried.
Ach ja, antworten die Erschöpften.
„Ein zweijähriges Kind mag abstreiten, daß
es ins Bett gemacht hat; wenn es behauptet der
Hund oder der Teddybär sei der Sünder, dann
’projiziert’ es. Es hat nichts anderes getan, als
sein Leugnen (’°ich war es nicht’) durch eine be-
sondere Form von Gegenbesetzung zu ver-
stärken (’er war es’)“. (Waelder)