Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1983, Jg. 15, H. 67, 68, [69/70], 71, 72)

Die neue Dimension eines germanischen 
Limes 
W enn der Bau des Westwalls durch die 
’Organisation Todt’' eine ingenieur- 
technische Meisterleistung war, so sollte nach 
dem Willen der Nationalsozialisten sein Pen- 
dant im Osten, der ’Germanenwall’, ein 
ebenbürtiges siedlungs- und raumplaneri- 
sches Werk für kommende Zeiten und Ge- 
schlechter werden. 
Der Fortifikation im Westen aus Stahlbe- 
ton und Kanonen entsprachen im Osten die 
vorgeschobenen ’Siedlungsmarken’ und 
’Wehrbauerndörfer’ der SS.” 
Für die Siedler galten die Grundsätze der 
’Neubauernauslese’, die Symbiose von ’Blut 
und Boden’”; das Ziel lautete: neuer Lebens- 
raum im Osten. 
Der Bauer als Soldat”, die Neubildung 
deutschen Bauerntums”, die Rückbesinnung 
auf angeblich germanische Ideale, die Bin- 
dung zum Boden und die Propagierung einer 
völkischen ”Zurück-aufs-Land’-Bewegung 
sowie die Förderung der Nachkommenschaft 
waren die vielschichtig deklarierten Zielset- 
zungen. 
Als Vorbild für die Ostbesiedlung galten 
den Nazis die Kolonisationstat des Deutsch- 
ritterordens in Preußen“ und die frideriziani- 
sche Neulandgewinnung im Netzedistrikt und 
Oderbruch sowie die Gebietsgewinne Fried- 
richs IT aus den polnischen Teilungen. 
Der völlig neue Aspekt ergab sich bei den 
Großraumtheoretikern des Dritten Reiches 
in der Forderung nach der Entvölkerung der 
avisierten Räume und deren anschließende 
Neubesiedlung durch ’germanische Men- 
schen’. 
Eine entscheidende Rolle bei der Vorbe- 
reitung der verbrecherischen Extermination 
der autochthonen Bevölkerung spielte die 
’Reichsstelle für Raumordnung’ sowie die 
”Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumfor- 
schung’ mit ihrem Verbandsorgan ’Raumfor- 
schung und Raumordnung’. Die Reichsstelle 
für Raumordnung entstand 1936 aus der ’Ge- 
zuvor’, der ’Gesellschaft zur Vorbereitung 
der Reichsautobahnen’. Schon aus der Lei- 
tungsspitze heraus läßt sich die Verstrickung 
der Raumordner mit dem Nazi-Regime able- 
sen: Ebenso wie sein Nachfolger Albert Speer 
wurde das Organisationsgenie Dr. Todt nach 
seiner Tätigkeit als Generalbauinspekteur 
(und Generalbevollmächtigter für die Rege- 
lung der Bauwirtschaft) Reichsminister für 
Bewaffnung und Munition.” Die‘ Tätigkeit 
der Reichsstelle erstreckte sich bereits 1938 
auf eine zusammenfassende übergeordnete 
Planung und Ordnung des deutschen Lebens- 
raumes. Vier grundlegende Forderungen 
stellte Hanns Kerrl, einer der Leiter der 
Reichsstelle (bis Dez. 1941), als die großen 
Ziele heraus: 
1) Steigerung der biologischen Volkskraft 
2) Bestmögliche Ausnutzung des Bodens 
und seiner Kräfte 
3) Arteigene Zuordnung von Volk und 
Landschaft 
4) Steigerung der Abwehrbereitschaft des 
deutschen Lebensraumes” 
Raumpolitik wurde verstanden als „bewußte 
und planmäßige Eingliederung, Ausnutzung 
der Organisation des Raumes zu politischen 
Zwecken...”.” 
Vor allem hatte sie zu stehen „in engstem 
Zusammenhang mit den neuzeitlichen Me- 
thoden der Wehrpolitik...”'® 
Hitler selbst bezeichnete in seinem Auftrag 
an den ’Reichskommissar für die Festigung 
deutschen Volkstums’ (Himmler) die Aufga- 
be der Raumplanung als „die Gestaltung von 
Räumen durch Umsiedlung”, also nicht 
durch äußere Gestaltung, sondern darüber 
hinaus durch Verpflanzen des Volkes 
selbst. 1!) 
Bruno Wasser 
Der Germanenwall — 
der Drang nach Osten 
Viele Protagonisten der nazistischen 
’Raumeroberungsdespotie’ (Nolte) ent- 
stammten Ingenieurberufen. So war Heinrich 
Himmler nicht nur Reichsführer SS, sondern 
auch Führer der deutschen Diplomlandwir- 
te. 
Der von Hitler am 17. Juni 1941 ernannte 
’Reichsminister für die besetzten Ostgebiete’, 
Reichsleiter Alfred Rosenberg, hatte in Riga 
und Moskau Architektur studiert und 1918 in 
der sowjetischen Hauptstadt sein Examen ge- 
macht.'” Er galt als Chefideologe der Na- 
zis.'” Ende 1941 erklärte er zur Judenfrage, 
daß er sie nur für lösbar hielte, wenn das ge- 
samte europäische Judentum ’biologisch aus- 
gemerzt’ würde und daher sei es notwendig, 
„...sie über den Ural zu drängen. ”'” 
Der federführende Leiter der Aktion 
’”Reinhard’ und damit maßgeblich verant- 
wortlich für die Judenvernichtung war Odilo 
Globocnik, gelernter Baumeister aus 
Triest. '® 
Globocnik blieb es vorbehalten, nach ’Auf- 
füllung’ der einverleibten Gebiete (neue bzw. 
erweiterte Gaue Wartheland, Oberschlesien, 
Ostpreußen, Danzig-Westpreußen) das erste 
Großsiedlungsgebiet für deutsche Kolonisten 
(Repatriierte und Volksdeutsche) in absolut 
"fremdvölkischem’ Gebiet zu beschaffen. !” 
Das Gebiet um das Renaissance-Städtchen 
Zamos6e; dem Geburtsort Rosa Luxemburgs, 
im Südosten des Distrikts Lublin (nördl. Ga- 
lizien) lag an der Strecke zu den geplanten 
großen Verkehrsadern, die das ’wiederer- 
standene Reich’ mit den eroberten sowjeti- 
schen Landmassen verbinden sollten. 
Darüber hinaus projektierte der Alt-Arta- 
mane Himmler '” in Shitomir (Ukraine) und 
Winniza (Transnistrien) weitere Aussied- 
lungskerne, die gemeinsam mit Lemberg 
(Galizien, ab 1941 dem Generalgouverne- 
ment einverleibt) und der Residenz Globoc- 
niks, Lublin, ein Viereck bildeten, das ggf. 
später zu einem autonomen SS-Staat ausge- 
baut werden konnte. '” 
Das Ansiedlungsgebiet sollte als Teil einer 
späteren Brücke des Deutschtums vom ’In- 
germanland’ (Leningrad, Ostsee) bis zum 
’Gotengau’ (Krim, Schwarzes Meer) angelegt 
sein. Das Polentum wollte man auf die Weise 
siedlungsmäßig einkesseln und biologisch er- 
drücken. Der west-östlich gerichteten Expan- 
sion aus dem Warthegau sollte der ost-west- 
lich gerichtete Druck aus dem Raum Lublin 
sowie nördlich und südlich davon folgen.”” 
Zur Stärkung dieser Absichten und zur dau- 
ernden Befriedung der ’renitenten’ Polen war 
die ’Entbildung’ (’Einfaches Rechnen bis 
höchstens 500°)“ der Bevölkerung sowie die 
Entindustrialisierung der besetzten Gebiete 
vorgesehen. Das Generalgouvernement soll- 
te in ein Agrarland rückentwickelt werden, 
das gleichzeitig die Lieferung von billigen Ar- 
beitskräften zu sichern hatte.” 
Daß diese ’neuzeitliche Raumpolitik’ in all- 
deutschen völkisch-nationalistischen Kreisen 
schon lange vor den Nazis propagiert wurde 
und so damit beitrug, den Imperialismus mit 
dem Deutschtum zu identifizieren, gerät zu- 
nehmend in Vergessenheit. 
Der historische Hintergrund oder die Stamm- 
väter ’Großdeutschlands’ 
„Wir setzen dort an, wo man vor sechs Jahrhunderten ende- 
te. Wir stoppen den ewigen Germanenzug nach dem Süden 
und Westen Europas und weisen den Blick nach dem Land 
im Osten. Wir schließen endlich ab die Kolonial- und Han- 
delspolitik der Vorkriegszeit und gehen über zur Bodenpo- 
litik der Zukunft. 
Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Bo- 
den reden, können wir in erster Linie nur an Rußland und 
die ihm untertanen Randstaaten denken.“ 
So nimmt Adolf Hitler in seinem Buch ’Mein 
Kampf die Ostpolitik der Vorkriegszeit wie- 
der auf und weist schon um 1925 auf die Not- 
wendigkeit eines neuen Krieges hin. Seine 
wichtigste Aufgabe sieht er darin, den politi- 
schen Nährboden im eigenen, kriegsmüden 
Volk dafür zu schaffen, daß der deutsche 
Pflug, „dem das Schwert nur den Boden zu 
geben hat”, im ’traditionellen deutschen’ Ko- 
lonial- und Kolonisationsgebiet, dem euro- 
päischen Osten, eingesetzt werden kann. 
Der ’Führer und Reichskanzler’ stand mit 
diesem extrem chauvinistischen und geopoli- 
tischen Eroberungswillen keineswegs allein, 
sondern konnte sich hierbei auf eine breite 
Tradition im Konservatismus stützen. So be- 
gründete schon im Jahre 1897 (!) der ’Natio- 
nalsoziale Verein’ Friedrich Naumanns die 
Notwendigkeit zur wirtschaftlichen und poli- 
tischen Machtentfaltung des deutschen Rei- 
ches in Europa und Übersee mit der Feststel- 
lung: 
„Es ist der Trieb des deutschen Volkes, seinen Einfluß auf 
der Erdkugel auszudehnen.” 
Das Postulat lautete: Ausdehnung deutscher 
Wirtschaftskraft und deutschen Geistes sowie 
Vergrößerung der Absatzmärkte bei der an- 
stehenden "Verteilung der Erdoberfläche’.“® 
’Alldeutsche’, mitunter auch ’Größtdeutsche’ 
finden ihr Tummelfeld für die Ausdehnung 
des Deutschtums bereits vor der Jahrhun- 
dertwende in Rußland bis zur Wolga hin.“ 
Das Feindbild war lange vor Hitlers Ein- 
tritt in die Geschichte auf den Osten fixiert. 
Im Gegensatz zum Slawentum sollte in 
Vertretung und Nachfolge für die „müde ge- 
wordene romanische Rasse”“® das Germa- 
nentum Hauptträger und -stütze der europäi- 
schen Kultur werden. Ebenso wie bei den 
späteren Faschisten wurden geopolitisch- 
Ökonomische Aspekte und Wunschvorstel- 
lungen mit möglichst zündenden, populären 
Zielsetzungen gekoppelt und verbrämt. Da 
reiner Wirtschaftsimperialismus und Ausdeh- 
nungsmaxime des Großkapitals keinen aus- 
reichenden Nährboden in der Masse des Vol- 
kes und deren Zustimmung hätte finden kön- 
nen, trat bei den Alldeutschen germanisches 
Sendungsbewußtsein und entsprechender 
Kultur-Chauvinismus hinzu: 
...Kulturpolitik! Hierunter verstehen wir alles, was zu den 
inneren, geistigen Grundlagen wahrer deutscher Weltpoli- 
tik gehört. Weltpolitik ist nicht nur eine Sache der Waffen, 
des Kapitals, der Wirtschaft, sondern auch eine Sache der 
Volksbildung und Volkspflege, des Bewußtseins hoher na- 
tionaler Kulturideale und des Strebens nach Verbindung 
unserer eigenen mit den allgemein menschlichen Geistesgü- 
tern. All das läßt sich aber nur erreichen, wenn wir als Volk 
zu einer besonnenen und, wo nötig, auch rücksichtslosen 
bewaffneten Energie entschlossen sind,
	        

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