Die neue Dimension eines germanischen
Limes
W enn der Bau des Westwalls durch die
’Organisation Todt’' eine ingenieur-
technische Meisterleistung war, so sollte nach
dem Willen der Nationalsozialisten sein Pen-
dant im Osten, der ’Germanenwall’, ein
ebenbürtiges siedlungs- und raumplaneri-
sches Werk für kommende Zeiten und Ge-
schlechter werden.
Der Fortifikation im Westen aus Stahlbe-
ton und Kanonen entsprachen im Osten die
vorgeschobenen ’Siedlungsmarken’ und
’Wehrbauerndörfer’ der SS.”
Für die Siedler galten die Grundsätze der
’Neubauernauslese’, die Symbiose von ’Blut
und Boden’”; das Ziel lautete: neuer Lebens-
raum im Osten.
Der Bauer als Soldat”, die Neubildung
deutschen Bauerntums”, die Rückbesinnung
auf angeblich germanische Ideale, die Bin-
dung zum Boden und die Propagierung einer
völkischen ”Zurück-aufs-Land’-Bewegung
sowie die Förderung der Nachkommenschaft
waren die vielschichtig deklarierten Zielset-
zungen.
Als Vorbild für die Ostbesiedlung galten
den Nazis die Kolonisationstat des Deutsch-
ritterordens in Preußen“ und die frideriziani-
sche Neulandgewinnung im Netzedistrikt und
Oderbruch sowie die Gebietsgewinne Fried-
richs IT aus den polnischen Teilungen.
Der völlig neue Aspekt ergab sich bei den
Großraumtheoretikern des Dritten Reiches
in der Forderung nach der Entvölkerung der
avisierten Räume und deren anschließende
Neubesiedlung durch ’germanische Men-
schen’.
Eine entscheidende Rolle bei der Vorbe-
reitung der verbrecherischen Extermination
der autochthonen Bevölkerung spielte die
’Reichsstelle für Raumordnung’ sowie die
”Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumfor-
schung’ mit ihrem Verbandsorgan ’Raumfor-
schung und Raumordnung’. Die Reichsstelle
für Raumordnung entstand 1936 aus der ’Ge-
zuvor’, der ’Gesellschaft zur Vorbereitung
der Reichsautobahnen’. Schon aus der Lei-
tungsspitze heraus läßt sich die Verstrickung
der Raumordner mit dem Nazi-Regime able-
sen: Ebenso wie sein Nachfolger Albert Speer
wurde das Organisationsgenie Dr. Todt nach
seiner Tätigkeit als Generalbauinspekteur
(und Generalbevollmächtigter für die Rege-
lung der Bauwirtschaft) Reichsminister für
Bewaffnung und Munition.” Die‘ Tätigkeit
der Reichsstelle erstreckte sich bereits 1938
auf eine zusammenfassende übergeordnete
Planung und Ordnung des deutschen Lebens-
raumes. Vier grundlegende Forderungen
stellte Hanns Kerrl, einer der Leiter der
Reichsstelle (bis Dez. 1941), als die großen
Ziele heraus:
1) Steigerung der biologischen Volkskraft
2) Bestmögliche Ausnutzung des Bodens
und seiner Kräfte
3) Arteigene Zuordnung von Volk und
Landschaft
4) Steigerung der Abwehrbereitschaft des
deutschen Lebensraumes”
Raumpolitik wurde verstanden als „bewußte
und planmäßige Eingliederung, Ausnutzung
der Organisation des Raumes zu politischen
Zwecken...”.”
Vor allem hatte sie zu stehen „in engstem
Zusammenhang mit den neuzeitlichen Me-
thoden der Wehrpolitik...”'®
Hitler selbst bezeichnete in seinem Auftrag
an den ’Reichskommissar für die Festigung
deutschen Volkstums’ (Himmler) die Aufga-
be der Raumplanung als „die Gestaltung von
Räumen durch Umsiedlung”, also nicht
durch äußere Gestaltung, sondern darüber
hinaus durch Verpflanzen des Volkes
selbst. 1!)
Bruno Wasser
Der Germanenwall —
der Drang nach Osten
Viele Protagonisten der nazistischen
’Raumeroberungsdespotie’ (Nolte) ent-
stammten Ingenieurberufen. So war Heinrich
Himmler nicht nur Reichsführer SS, sondern
auch Führer der deutschen Diplomlandwir-
te.
Der von Hitler am 17. Juni 1941 ernannte
’Reichsminister für die besetzten Ostgebiete’,
Reichsleiter Alfred Rosenberg, hatte in Riga
und Moskau Architektur studiert und 1918 in
der sowjetischen Hauptstadt sein Examen ge-
macht.'” Er galt als Chefideologe der Na-
zis.'” Ende 1941 erklärte er zur Judenfrage,
daß er sie nur für lösbar hielte, wenn das ge-
samte europäische Judentum ’biologisch aus-
gemerzt’ würde und daher sei es notwendig,
„...sie über den Ural zu drängen. ”'”
Der federführende Leiter der Aktion
’”Reinhard’ und damit maßgeblich verant-
wortlich für die Judenvernichtung war Odilo
Globocnik, gelernter Baumeister aus
Triest. '®
Globocnik blieb es vorbehalten, nach ’Auf-
füllung’ der einverleibten Gebiete (neue bzw.
erweiterte Gaue Wartheland, Oberschlesien,
Ostpreußen, Danzig-Westpreußen) das erste
Großsiedlungsgebiet für deutsche Kolonisten
(Repatriierte und Volksdeutsche) in absolut
"fremdvölkischem’ Gebiet zu beschaffen. !”
Das Gebiet um das Renaissance-Städtchen
Zamos6e; dem Geburtsort Rosa Luxemburgs,
im Südosten des Distrikts Lublin (nördl. Ga-
lizien) lag an der Strecke zu den geplanten
großen Verkehrsadern, die das ’wiederer-
standene Reich’ mit den eroberten sowjeti-
schen Landmassen verbinden sollten.
Darüber hinaus projektierte der Alt-Arta-
mane Himmler '” in Shitomir (Ukraine) und
Winniza (Transnistrien) weitere Aussied-
lungskerne, die gemeinsam mit Lemberg
(Galizien, ab 1941 dem Generalgouverne-
ment einverleibt) und der Residenz Globoc-
niks, Lublin, ein Viereck bildeten, das ggf.
später zu einem autonomen SS-Staat ausge-
baut werden konnte. '”
Das Ansiedlungsgebiet sollte als Teil einer
späteren Brücke des Deutschtums vom ’In-
germanland’ (Leningrad, Ostsee) bis zum
’Gotengau’ (Krim, Schwarzes Meer) angelegt
sein. Das Polentum wollte man auf die Weise
siedlungsmäßig einkesseln und biologisch er-
drücken. Der west-östlich gerichteten Expan-
sion aus dem Warthegau sollte der ost-west-
lich gerichtete Druck aus dem Raum Lublin
sowie nördlich und südlich davon folgen.””
Zur Stärkung dieser Absichten und zur dau-
ernden Befriedung der ’renitenten’ Polen war
die ’Entbildung’ (’Einfaches Rechnen bis
höchstens 500°)“ der Bevölkerung sowie die
Entindustrialisierung der besetzten Gebiete
vorgesehen. Das Generalgouvernement soll-
te in ein Agrarland rückentwickelt werden,
das gleichzeitig die Lieferung von billigen Ar-
beitskräften zu sichern hatte.”
Daß diese ’neuzeitliche Raumpolitik’ in all-
deutschen völkisch-nationalistischen Kreisen
schon lange vor den Nazis propagiert wurde
und so damit beitrug, den Imperialismus mit
dem Deutschtum zu identifizieren, gerät zu-
nehmend in Vergessenheit.
Der historische Hintergrund oder die Stamm-
väter ’Großdeutschlands’
„Wir setzen dort an, wo man vor sechs Jahrhunderten ende-
te. Wir stoppen den ewigen Germanenzug nach dem Süden
und Westen Europas und weisen den Blick nach dem Land
im Osten. Wir schließen endlich ab die Kolonial- und Han-
delspolitik der Vorkriegszeit und gehen über zur Bodenpo-
litik der Zukunft.
Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Bo-
den reden, können wir in erster Linie nur an Rußland und
die ihm untertanen Randstaaten denken.“
So nimmt Adolf Hitler in seinem Buch ’Mein
Kampf die Ostpolitik der Vorkriegszeit wie-
der auf und weist schon um 1925 auf die Not-
wendigkeit eines neuen Krieges hin. Seine
wichtigste Aufgabe sieht er darin, den politi-
schen Nährboden im eigenen, kriegsmüden
Volk dafür zu schaffen, daß der deutsche
Pflug, „dem das Schwert nur den Boden zu
geben hat”, im ’traditionellen deutschen’ Ko-
lonial- und Kolonisationsgebiet, dem euro-
päischen Osten, eingesetzt werden kann.
Der ’Führer und Reichskanzler’ stand mit
diesem extrem chauvinistischen und geopoli-
tischen Eroberungswillen keineswegs allein,
sondern konnte sich hierbei auf eine breite
Tradition im Konservatismus stützen. So be-
gründete schon im Jahre 1897 (!) der ’Natio-
nalsoziale Verein’ Friedrich Naumanns die
Notwendigkeit zur wirtschaftlichen und poli-
tischen Machtentfaltung des deutschen Rei-
ches in Europa und Übersee mit der Feststel-
lung:
„Es ist der Trieb des deutschen Volkes, seinen Einfluß auf
der Erdkugel auszudehnen.”
Das Postulat lautete: Ausdehnung deutscher
Wirtschaftskraft und deutschen Geistes sowie
Vergrößerung der Absatzmärkte bei der an-
stehenden "Verteilung der Erdoberfläche’.“®
’Alldeutsche’, mitunter auch ’Größtdeutsche’
finden ihr Tummelfeld für die Ausdehnung
des Deutschtums bereits vor der Jahrhun-
dertwende in Rußland bis zur Wolga hin.“
Das Feindbild war lange vor Hitlers Ein-
tritt in die Geschichte auf den Osten fixiert.
Im Gegensatz zum Slawentum sollte in
Vertretung und Nachfolge für die „müde ge-
wordene romanische Rasse”“® das Germa-
nentum Hauptträger und -stütze der europäi-
schen Kultur werden. Ebenso wie bei den
späteren Faschisten wurden geopolitisch-
Ökonomische Aspekte und Wunschvorstel-
lungen mit möglichst zündenden, populären
Zielsetzungen gekoppelt und verbrämt. Da
reiner Wirtschaftsimperialismus und Ausdeh-
nungsmaxime des Großkapitals keinen aus-
reichenden Nährboden in der Masse des Vol-
kes und deren Zustimmung hätte finden kön-
nen, trat bei den Alldeutschen germanisches
Sendungsbewußtsein und entsprechender
Kultur-Chauvinismus hinzu:
...Kulturpolitik! Hierunter verstehen wir alles, was zu den
inneren, geistigen Grundlagen wahrer deutscher Weltpoli-
tik gehört. Weltpolitik ist nicht nur eine Sache der Waffen,
des Kapitals, der Wirtschaft, sondern auch eine Sache der
Volksbildung und Volkspflege, des Bewußtseins hoher na-
tionaler Kulturideale und des Strebens nach Verbindung
unserer eigenen mit den allgemein menschlichen Geistesgü-
tern. All das läßt sich aber nur erreichen, wenn wir als Volk
zu einer besonnenen und, wo nötig, auch rücksichtslosen
bewaffneten Energie entschlossen sind,