Phase zwei: Die Realisierung des General-
plans Ost
Während sich die Nazis nach der Eroberung
Polens noch mit dem Bau eines unbezwingba-
ren Ostwalls, der stärker als der Westwall
werden sollte, befaßten, entfiel dieser Plan
nach Beginn des ’Unternehmens Barbaros-
sa’. Die unendlichen Weiten des russischen
Raumes ließen einen neuen Limes unsinnig
erscheinen und sollten durch einen breiten
Gürtel deutscher Wehrbauernsiedlungen mi-
‘itärpolitisch und ’rassenbiologisch’ gesichert
werden.°” Die in solchen Vorhaben nunmehr
zeschulten Großraumtheoretiker erstellten
hierzu — noch vor dem erwarteten Endsieg —
den sog. ’Generalplan Ost’.® Er entstand
Ende 1941 in der Gruppe III B des Reichssi-
;herheitshauptamtes, der zentralen Füh-
rungsstelle für die Vernichtungsmaßnahmen.
Wenn auch der Plan selbst verlorenging, so
;ind seine Aussagen und Zielsetzungen ein-
leutig durch diverse Stellungnahmen ver-
ȟrgt.
besondere die Schrift ’Stellungnahme
ınd Gedanken zum Generalplan Ost des
Reichsführers SS’ des rassenpolitischen De-
‚ernenten im Ostministerium Dr. Erhard
Wetzel®”, sowie der eher kontrollanalytische
Alternativplan des SS-Oberführers und Lei-
ers der Hauptabteilung II Planung, Prof. Dr.
Conrad Meyer (-Hetling) vom Juni 1942:
Generalplan Ost. Rechtliche, wirtschaftliche
ınd räumliche Grundlagen des Ostaufbaus’®”
zeben detaillierte Kenntnis von den Koloni-
ationsbestrebungen im Ostraum. Nach die-
‚em Generalplan Ost war eine Siedlungsgren-
ze vorgesehen, die vom Ladoga-See - Wal-
lai-Höhe (nordöstlich von Leningrad) über
Brjansk bis ans Asowsche Meer (nördl. des
schwarzen Meeres) verlief.
"Der sog. ’Nahplan’ als eine von zwei ver-
schiedenen Ausbaustufen befaßte sich mit
der ’Umvolkung’ der eingegliederten Ostge-
biete; It. dem für den gesamten Ostraum ge-
lachten ’Fernplan’ sollte im Zeitraum von et-
wa 20 Jahren das beherrschte Gebiet weitest-
gehend eingedeutscht werden.‘ Himmler,
dem die Planungshoheit für die neuen Sied-
‘ungsräume als Reichskommissar für die Fe-
stigung deutschen Volkstums oblag, verstand
dies gem. dem Schlagwort: „Der Osten ge-
hört der Schutzstaffel.”°®
Eine ’Dekomposition’ Rußlands durch
Förderung der Minderheiten, wie sie den Pla-
nern des Ostministeriums vorschwebte, kam
für die Schutzstaffel des Reichsführers nicht
in Frage. Sie war ohnehin seit der Tätigkeit
ihrer ’Einsatzgruppen’ im Polenfeldzug be-
schlagen und erfahren in der radikalen Aus-
rottung ganzer Bevölkerungsgruppen.®” Nur
die SS bot den Planern jener Jahre die ’ein-
malige’ Chance, im zu entvölkernden Gebiet,
sozusagen ohne die Prämisse ’ortsansässige
Bevölkerung’ idealtypische Raumpläne zu
entwickeln. Welches Einsatzgebiet!
Nicht weniger als 31 Millionen Fremdvölki-
sche galt es auszusiedeln! Nach den Hoch-
rechnungen des Generalplans Ost standen
damit etwa 30 Jahre nach dem Kriege etwa 8
Millionen Deutschen (aus der SU, aus dem
sonstigen Europa und aus Übersee) ca. 14
Millionen Fremdvölkische gegenüber (Wet-
zel rechnete mit eher 46-51 Millionen Auszu-
siedelnden). Die ’unerwünschten Elemente’
sollten größtenteils nach Westsibirien ver-
bracht werden, insbesondere alle nicht-ein-
deutschungsfähigen Polen.®
Im Gebiet zwischen dem geplanten Germa-
nenwall (Linie Ladogasee - Asowsches
Meer) und dem Ural sollten ’befriedete Völ-
ker’ angesiedelt werden. Jedenfalls war die
Anlage von Stützpunkten und Flugplätzen so
vorgesehen, daß der Ural in der Reichweite
deutscher Fernbomber liegen würde.
Von den vier geplanten Reichskommissa-
riaten waren bereits zwei eingerichtet (Ost-
land und Ukraine), zwei weitere lediglich
vorgesehen (Kaukasien und Moskau bzw.
Rußland); zeitweilig kam ein fünftes Reichs-
kommissariat, ’Ural’, ins Gespräch. „Die
neuen Generalkommissariate waren bereits
bis Swerdlowsk und Baku in festen Händen,
und für die vorgesehenen 1050 (!) Gebiets-
kommissariate hatten sich schon 261 DAF-
Funktionäre (Deutsche Arbeitsfront), 144
SA-Führer und 450 ostbegeisterte Angehöri-
ge des Innenministeriums vormerken las-
sen.®
Ahnlich enthusiastisch gingen auch die
Technokraten, allen voran Architekten und
Planer, Bauingenieure und Siedlungsexper-
ten, ans große Werk des Um- und Neuauf-
baus im eroberten Osten. Um das vorgegebe-
ne Ziel, durch die Anlage von Stützpunkten
das Generalgouvernement und den gesamten
Ostraum siedlungsmäßig einzukreisen und
biologisch’ zu erdrücken, erreichen zu kön-
nen, waren Gefolgsleute vonnöten wie Hans
Julius Schepers, der als Raumplaner in der
Regierung des Generalgouvernements die
Utopien einer völligen Umvolkung der er-
oberten Gebiete vertrat.‘” Um die totale
Eindeutschung des Generalgouvernements,
Estlands und Lettlands innerhalb von 20 Jah-
ren erreichen zu können’, brauchte ’der
Osten’ Akteure vom Schlage eines Schepers,
eines Julius Schulte-Frohlinde. Dieser wollte
als Leiter des Architekturbüros der Deut-
schen Arbeitsfront (Robert Leys)” seine
Bauten ’blutsmäßig’ (welches Paradoxon!)
mit Heimat und Boden verbinden. Er konsta-
tierte richtig:
„Unser Bauschaffen ist äußerer Ausdruck der Gesinnung
unserer Zeit und unseres Landes. ”’”
Sicherlich besaß der Raumeroberungs-Nazis-
mus unter den Architekten nicht nur glü-
hendste Anhänger, sondern auch eine unge-
zählte Masse an Mitläufern und ewig Ange-
paßten. Die meisten Planer — in der Regel
eben die unpolitischen — entsprachen dabei
keineswegs dem Idealbild eines ’Kampf-
bund’-Architekten,” wie es Paul Schultze-
Naumburg forderte: Er wollte keine „Beimi-
schung von Flauen und Feigen” in der Partei
und im Architektenverband haben und keine
„eingeschlichenen Überläufer und Verrä-
ter”.”” Das untrügliche Differenzierungs-
merkmal für freiwillige oder ’genötigte’ Ge-
folgschaft war die Parteimitgliedschaft in der
NSDAP.
Aber selbst ein Protagonist der radikalsten
Eroberungs- und Versklavungspolitik wie der
rassepolitische Dezernent im Ostministerium
und Verfasser der Stellungnahme zum Gene-
ralplan Ost, Dr. Erhard Wetzel, trug das Stig-
ma des ’Maikäfers’. So wurden Parteimitglie-
der der NSDAP genannt, deren Eintrittsda-
tum der ominöse 1. Mai 1933 war.” Aber
wieviel Leid und Unrecht haben gerade die
(angeblich) ’wertneutralen’ Fachplanungen
in den Planungsstäben der Deutschen Ar-
beitsfront, der Organisation Todt, der Zen-
tralbauleitung der SS, der Treuhandstelle
Ost, des Reichskommissars für die Festigung
deutschen Volkstums, des Generalgouverne-
ments, der Umsiedlerzentralen und unzähli-
gen andern Abteilungen und Ämtern ’pla-
nend’ geschaffen! Der Bogen spannt sich vom
Sprengmeister beim Warschauer Aufstand
bis zum Planungsspezialisten im ’Neuen deut-
schen Osten’. Gerade angesichts dieses Um-
standes bleibt es unfaßbar, mit welcher Un-
verfrorenheit die deutsche Architektenschaft
nach der ’Stunde Null’ die Hypothek des Fa-
schismus’ beiseite wischte und vergaß. Denn
in vergleichbarem Umfang waren nur noch
Juristen und Ärzte in den Faschismus ver-
strickt
Anmerkungen
1) Benannt nach dem ’Generalinspekteur für das deut-
sche Straßenwesen’ (für den Bau der Reichsautobahn)
später des Westwalls. In einem Nachruf der Reichsar-
beitsgemeinschaft für Raumforschung in der Monats-
schrift "Raumforschung und Raumordnung’ von Febru-
ar/März 1942 zum Tode des Reichsministers Dr. Todt
heißt es: „Der Bau des Westwalls war zugleich die Ge-
neralprobe für den großen Einsatz der deutschen Bau-
technik im Kriege...”
Vgl. „Generalplan Ost. Rechtliche, wirtschaftliche und
räumliche Grundlagen des Ostaufbaues”, vorgelegt
von SS-Oberführer, Prof. Dr. Konrad Meyer (-Het-
ling), Berlin-Dahlem, Juni 1942; vgl. auch Madajczyk,
Czeslaw: „Generalplan Ost”, Offprint from ’Polish
Western Affairs’, Vol III No. 2, Poznan 1962.
Vgl. die ’Grüne Woche Berlin 1934’, die im Zeichen
von ’Blut und Boden’ stand. Sie stellte „den bäuerli-
chen Menschen als Träger deutschen Blutes, als
Grundlage der Zukunft unseres Volkes” dar; vgl. auch
"Nationalsozialistische Landpost, Hauptblatt des
Reichsnährstandes’, Jahrgang 1934, Folge 1, 6. Hartung
(Januar).
4) Vgl. ’Nationalsozialistische Landpost’, ebda., Hornung
(Februar) 1934, Folge 6.
5) Vgl., ebda., Folge 26, Brachet (Juni) 1934, Dr. Kum-
mer: „Erhaltung, Stärkung und Mehrung des Bauern-
tums”.
6) Ebda., Folge 2, Hartung (Januar) 1934.
7) Vgl. ’Raumforschung und Raumordnung’, Febr./März
1942. ’Umschau’ zum Tode des Reichsministers Dr.
Todt, S. 67/8. Der Architekt Albert Speer sollte dessen
Leistungen als Rüstungsminister noch erheblich stei-
gem.
Ebda., Heft 9, 5. Jahrgang, 1941, Dr. Muhs: Nachruf
auf ’Reichsminister Hanns Kerrl’.
Schumacher, Rupert von: „Neuzeitliche Raumpolitik”,
in: ’Reichsplanung, Organ des Hauses der Reichspla-
nung’, Heft 5, 1. Jahrgang, Mai 1935, S. 130.
Vgl. auch: Lörcher, Carl Ch. (Architekt, Leiter der
”Reichsstelle für Raumordnung’ — 1935 und der
"Reichsstelle für planmäßige Vorbereitung der Neubil-
dung des Bauerntums’ — 1934), in: ’Reichsplanung’, 1.
Jahrgang, Januar 1935, „Die Neuordnung des deut-
schen Lebensraumes als Gemeinschaftsaufgabe”, S. 2
und in ’Städtebau’ (Gründung durch Camillo Sitte).
XXIX. Jahrgang, 1934: „Reichsplanung”.
Schumacher, a.a.O.;
vgl. auch: Teut, Anna: „Architektur im Dritten Reich
1933-1945” Ullstein Bauwelt Fundamente, Frankf./M.-
Berlin 1967, Kap. XII Städtebau, Reichs- und Landes-
planung, S. 308 ff.
Ziegler, Gerhard: „Raumordnung als Gemeinschafts-
aufgabe”, in: ’Raumforschung und Raumordnung’
a.a.O. 6. Jahrgang, Heft 2/3, 1942, S. 35;
vgl. auch: Lemberg, Hans: „Der Drang nach Osten —
Schlagwort und Wirklichkeit”, in: ’Deutsche im euro-
päischen Osten, Verständnis und Mißverständnis”,
Böhlau Verlag Köln, Wien 1976, S. 1-17.
Vgl. ’Nationalsozialistische Landpost’, a.a.O., Folge
20, Wonnemond (Mai) 1934: „Reichsführer SS Di-
plomlandwirt Himmler Führer der deutschen Diplom-
landwirte”.
Vgl. Maser, Werner: „Nürnberg, Tribunal der Sieger”,
Econ-Verlag, Düsseldorf-Wien, 1977, S. 433, Original:
„Trial of a Nation” Penguin Books Itd., London 1977.
14) Insbesondere wegen seines nationalsozialistischen, ras-
sentheoretischen Standardwerks „Der Mythus des 20.
Jahrhunderts”. Rüdiger, Karlheinz nennt in der Biblio-
graphie: ’Das Werk Rosenbergs’ den „Mythus” einen
„Markstein der ... ewigen Deutschheit...”, S. 11.
Vgl. Artzt, Heinz: „Mörder in Uniform” Kindler Ver-
lag GmbH, München 1979, S. 175.
Für Juden war in dem ’neuen deutschen Osten’ kein
Platz.
Generalgouverneur Hans Frank am 16. Dezember
1941 zur ’Endlösung’ in seinem Herrschaftsbereich:
„Aber was soll mit den Juden geschehen? Glauben Sie,
man wird sie im Ostland in Siedlungsdörfer unterbrin-
gen? Man hat uns in Berlin gesagt: ...Liquidiert sie
selbst.” (IMT, Bd. XXIX, S. 502 f., Ps-2233).
Sein Fazit am Ende der Judenvernichtung lautete:
„11.889.822,54 RM für die Vernichtung von ca. 1,5
Millionen Ungeziefer.” Artzt, Heinz: ’Mörder in Uni-
form’, a.a.O.; S. 101
Vermerk vom 30.7.1941 über den Befehl des Reichs-
führers SS, die Aussiedlungspläne im Distrikt Lublin
betreffend;
vgl. Madajczyk, Czeslaw: „Zamojszczyzna - Sonderla-
boratorium SS”, Warszawa 1979, S. 26-51, S. 1/26-27;
vgl. auch Poln. Zentralarchiv AGKBZH;. Proces no-
rymberski, nr. 4, t. 11 Pd syn. 3031, S. 148-150;
vgl. auch: Mankowski, Zygmunt: „L’action naziste
d’expulsions et de colonisatıon dans la region de Za-
mos€ (modele on improvisation)”, Zamose 1972.
’Bund Artaman’, nationalkonservativer Jugendbund
mit völkischen Zielsetzungen, vgl. auch Pfingsttagung
1929 der ’Artamanen’, in: „Blut und Boden”, S. 215;
aus Bergmann, K. ’Agrarromantik und Großstadt-
feindschaft’, Meisenheim am Glan 1970, S. 282.
Als die schlagendste Metapher für das Himmler’sche
Persönlichkeitsbild mag die Formel gelten: „Konzen-
trationslager und Kräutergärten”, vgl. Fest, Joachim
C.: ’Das Gesicht des Dritten Reiches’, S. 161.
These des amerikänischen Historikers Robert L. Koehl
in seinem Buch: ’German Resettlement and Population
Policy 1939 - 1945. A history of the Reich Commission
for the strengthening of Germandom.’ Harvard Uni-
versity Press, Cambridge/USA 1957.
Vgl. Madajczyk: Sonderlaboratorium SS, a.a.O., S. 1/
12;
vgl. auch Protokoll vom 27. - 30.3.1942 über die Ge-
spräche des Reichsführers SS mit dem Generalgouver-
neur vom 13./14.3.1942 AGKBZH, IMT XXVI, PS -
910:
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