Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1983, Jg. 15, H. 67, 68, [69/70], 71, 72)

ich nicht mehr anders. Es war also alles umsonst gewesen ... 
vergeblich der Tod von zwei Millionen, die dabei starben. 
Mußten sich nicht die Gräber all der Hunderttausende 
öffnen, die im Glauben an das Vaterland einst hinaus- 
gezogen waren ... Mußten sie sich nicht öffnen und die 
stummen, schlamm- und blutbedeckten Helden als Rache- 
geister in die Heimat senden, die sie um das höchste Opfer, 
das auf dieser Welt der Mann seinem Volke zu bringen 
vermag, so hohnvoll betrogen hatte? Waren sie dafür 
gestorben ... Sanken dafür diese Knaben von siebzehn 
Jahren in die flandrische Erde ... hatte er dafür in der Hölle 
des Trommelfeuers und im Fieber des Gaskampfes gelegen 
Sie opferten sich Tag um Tag, Nacht für Nacht ... Viele 
;rstickten im Schlamm der Granattrichter, weil sie das 
Maschinengewehr nicht loslassen wollten. 
.. sie starben in Krach, Qualm, Gas, Schlamm und 
Regen. Sie starben in den Stollen verschüttet und erstickt. 
5ie starben, vom Gas zerfressen. Sie starben mit Brand in 
ijer Wunde. Sie starben überall, auf der Erde, unter der 
Urde, in den Lüften, in toten Wäldern, auf Hügeln, in 
Trichtern. 
Zuletzt kämpften sie ohne Hoffnung. Sie waren verlassen 
ınd standen für sich allein. 
Das einzige, was sie besaßen, war dies: sie wußten, wer sie 
varen.«< 
(Schauwecker, 5.353) 
Dieser Frontkämpfer-Existentialismus ist 
bereits eine späte und nachträgliche Sinnge- 
bung aus der völkischen Perspektive, wie sie in 
Fausenden von Romanen und Traktaten 
ausgemalt wurde. Dieses Wissen-wer-sie- 
waren wurde von den Überlebenden des 
Krieges in den Weimarer Frieden hinüber- 
getragen oder, genauer gesagt, in diesem 
rückwirkend erfunden. Es ist die Grundfigur 
aller Sinngebungen von rechts: man tauscht 
Absurdität gegen Identität; man gewinnt 
Ichgefühle durch die Leugnung kritischer 
Erfahrung. »Haltung«. Die Neokonservativen 
machen es bis heute nicht anders. 
Als das von Schauwecker beschriebene 
Regiment sich auf deutschen Boden zurück- 
zog, mußte es, auf höheren Befehl, alles übrig- 
gebliebene Kriegsmaterial vernichten, es 
verschießen oder in einem Teich versenken. 
Albrecht, der Held der Geschichte, empfindet 
dies als buchstäbliche Selbstkastration. »Hier 
schnitt sich die Nation auf Befehl zielsicher die 
Geschlechtsteile ab ...« (S.369) Im bengali- 
schen Licht der letzten Leuchtkugeln taucht 
vor seinem Blick ein altes Kriegsgrab auf - ein 
zusammengenageltes Kreuz mit eingeschnitte- 
ner Inschrift: 
»Musketier Fritz Bredenstoll 
Infanterieregiment Nr. 612, 4. Kompanie 
Er fiel am 26. August 1914 für sein Vaterland. Ihn 
Schwindelte ein wenig. Er wurde plötzlich ein bißchen 
Schwach in den Knien . 
... eine einwandfrei patriotische Beleuchtung über dem 
Grabe von Fritz Bredenstoll, der laut Inschrift 1914 es 
vorgezogen hatte, für sein Vaterland zu fallen und sich 
in dieses Grab zu begeben, während die andern lieber 
Leuchtkugeln in die Luft knallten und ihre Munition 
wegwarfen oder etwas Revolution veranstalteten und 
stahlen, was sie kriegen konnten. 
Es fror. Ihm wurde kalt. Jawohl - was wollte ich noch 
bemerken - ich weiß es nicht mehr - es ekelt mich so 
entsetzlich an - mir ist das alles so widerlich - pfui Teufel - 
!'aßt mich in Ruhe - es ist alles so grauenhaft blödsinnig und 
kindisch ...« (S.370/371° 
Schauweckers gequält-sarkastischer Ton ver- 
rät die Mühe, den objektiven Zynismus des 
Kriegstodes durch einen subjektiven Zynis- 
mus des Ekels zu überbieten. Sein Held kehrt 
heim - mit einem Bild von »Revolution« im 
Kopf, die nichts anderes wäre als die Über- 
windung der Absurdität durch große Politik: 
er trätmt von einer »Revolution der Front«, in 
der sich die Überlebenden zugunsten der 
Toten erheben. 
Ähnlich motivierte der »Führer« dieser 
Revolution seine politische Mission. Hitler lag 
im Lazarett Pasewalk in Pommern, als in 
Deutschland die andere Revolution begann. 
Im »englischen Gasschießen auf der Südfront 
von Ypern« war er, seiner Behauptung 
zufolge, Mitte Oktober durch Gelbkreuz 
geblendet worden. Eine neuere psychologi- 
sche Interpretatin besagt hingegen, es habe 
sich bei Hitlers Augenleiden in diesen Tagen 
um eine hysterische Erblindung gehandelt, mit 
der er den Entschluß, »das nicht mit anzu- 
sehen«, somatisch inszenierte. Wie dem auch 
sei, Hitler gibt an, am 10. November habe er 
durch den Lazarettpastor die Wahrheit über 
»draußen« erfahren (Kapitulation im Westen 
und Revolution in Berlin): 
»Während mir um die Augen wieder schwarz ward, tastete 
und taumelte ich zum Schlafsaal zurück, warf mich auf 
mein Lager und grub den brennenden Kopf in Decke und 
Kissen. 
Seit dem Tage, da ich am Grabe meiner Mutter 
gestanden, hatte ich nicht mehr geweint ... nun aber konnte 
In diesen Nächten wuchs in mir der Haß, der Haß gegen 
die Urheber dieser Tat. 
In den Tagen darauf wurde mir auch mein Schicksal 
bewußt, ich mußte nun /achen (!) bei dem Gedanken an 
meine eigene Zukunft, die mir vor kurzer Zeit noch so 
bittere Sorgen bereitet hatte. War es nicht zum Lachen, 
Häuser bauen zu wollen und auf solchem Grunde ... 
Mit dem Juden gibt es kein Paktieren, sondern nur das 
harte Entweder-Oder. 
Ich aber beschloß. Politiker zu werden.« (Mein Kampf, 
S.223-225) 
In diesen Bildern spricht der gelebte Mythos 
der Weimarer Republik: Politik wandelt sich 
zur Betreuung der Kriegsgräber durch die 
Überlebenden; die Davongekommenen schlie- 
ßen mit den Toten einen Pakt. Hitler verfaßt 
ein imaginäres Testament der Gefallenen, 
indem er sich ihnen als Testamentsvollstrek- 
ker aufzwingt. Die in Erde und Schlamm 
Versunkenen stehen in ihm auf und kehren als 
Rachegeister zu ihrem Volk zurück; aus dem 
Schlamm heim in die Reinheit der Ideale; statt 
Versinken in flandrischer Erde Vorwärtsstür- 
men in völkischen Bewegungen. Hitlers Blitz- 
krieg-Konzepte, die er ab 1939 realisierte, 
waren Inszenierungen dieses Bildes von den 
Gräbern, die sich öffnen, um die Eingesunke- 
nen zurückzuverwandeln in Stürmende. Der 
Führer war psychopolitisch gesehen ein 
solcher Stürmer, ein Abgesandter der Kriegs- 
gräber*, Die Politik der soldatisch-faschi- 
stisch inspirierten Rechten beruhte auf einem 
Wiedergängermotiv - eben wie es Brecht in 
seiner Ballade vom deutschen Soldaten 
ausgemalt hatte (vgl. auch Beumelburg, 
Stimme aus dem Grabe, etc.). 
Das Totenbündnis ist der psychologische 
Dynamo des Erzfaschisten. In dem Augen- 
blick, in dem er sich selbst zum Testaments- 
volstrecker der im Schlamm Begrabenen 
einsetzt (»Ich aber beschloß ...«), findet seine 
private Neurose den magischen Kontakt mit 
der nationalen. Was bisher nur eine indivi- 
duelle Struktur war - Hitler als Abgesandter 
und Rächer der toten Mutter (vgl. die neuen 
psychoanalytischen Hitlerdeutungen von 
Stierlin und Miller) -, wird nun politisch 
verallgemeinert; Hitler als Abgesandter hö- 
herer Ordnung. Die Toten des Weltkriegs, 
meint er, sind es, die ihn schicken. Sie sind die 
Millionen, die von Anfang an hinter Hitler 
stehen; sie können sich nicht dagegen wehren, 
einen solchen Deputierten zu bekommen. 
1930 stehen Millionen Lebende hinter ihm, die 
Weltkriegstoten der Zukunft, die dem Wieder- 
gänger ihre Stimme gaben; und erst dann 
standen auch jene Millionen hinter ihm, die 
die deutsche Industrie zu Hitlers Förderung 
aufbrachte. (Vgl. das bekannte Montagebild 
von John Heartfield: »Motto: Millionen 
stehen hinter mir«: Hitler hebt die Hand zum 
»deutschen Gruß«; ein überlebensgroßer 
wohlbeleibter Geldgeber legt ein Bündel 
Tausendmarkscheine hinein; Heartfield nennt 
die Montage »Der Sinn des Hitlergrußes«.) 
* Man muß sich die Grabmäler für den Unbekannten 
Soldaten daraufhin ansehen. Die traditionellen Gestal- 
tungen zeigen heldische Erektionen, aufragende Rolands- 
figuren, Totenpyramiden, Fahnenflattern zum Himmel, 
Obeliske. Das Münchner Grabmal für den Unbekannten 
Soldaten 1923 (im Hofgarten der Residenz vor dem Armee- 
museum) übersetzte die neue Erfahrung. Der Soldat liegt in 
einer Art Krypta; er ist der Versunkene; sein Aufenthalt ist 
halb Senktuarium, halb Artillerieunterstand. Rundum sind 
Eingänge zum Monument offen gelassen” Man muß 
hinabsteigen, um den Toten zu ehren. Aber mehr noch: er 
liegt so, daß er zu gegebener Zeit wieder hinauf kann; vgl. 
Die Zwanziger Jahre in München, Katalog zur Ausstellung 
im Münchner Stadtmuseum, Mai-September 1979, hg. v 
Chr. Stölzl. S.469
	        

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.