ich nicht mehr anders. Es war also alles umsonst gewesen ...
vergeblich der Tod von zwei Millionen, die dabei starben.
Mußten sich nicht die Gräber all der Hunderttausende
öffnen, die im Glauben an das Vaterland einst hinaus-
gezogen waren ... Mußten sie sich nicht öffnen und die
stummen, schlamm- und blutbedeckten Helden als Rache-
geister in die Heimat senden, die sie um das höchste Opfer,
das auf dieser Welt der Mann seinem Volke zu bringen
vermag, so hohnvoll betrogen hatte? Waren sie dafür
gestorben ... Sanken dafür diese Knaben von siebzehn
Jahren in die flandrische Erde ... hatte er dafür in der Hölle
des Trommelfeuers und im Fieber des Gaskampfes gelegen
Sie opferten sich Tag um Tag, Nacht für Nacht ... Viele
;rstickten im Schlamm der Granattrichter, weil sie das
Maschinengewehr nicht loslassen wollten.
.. sie starben in Krach, Qualm, Gas, Schlamm und
Regen. Sie starben in den Stollen verschüttet und erstickt.
5ie starben, vom Gas zerfressen. Sie starben mit Brand in
ijer Wunde. Sie starben überall, auf der Erde, unter der
Urde, in den Lüften, in toten Wäldern, auf Hügeln, in
Trichtern.
Zuletzt kämpften sie ohne Hoffnung. Sie waren verlassen
ınd standen für sich allein.
Das einzige, was sie besaßen, war dies: sie wußten, wer sie
varen.«<
(Schauwecker, 5.353)
Dieser Frontkämpfer-Existentialismus ist
bereits eine späte und nachträgliche Sinnge-
bung aus der völkischen Perspektive, wie sie in
Fausenden von Romanen und Traktaten
ausgemalt wurde. Dieses Wissen-wer-sie-
waren wurde von den Überlebenden des
Krieges in den Weimarer Frieden hinüber-
getragen oder, genauer gesagt, in diesem
rückwirkend erfunden. Es ist die Grundfigur
aller Sinngebungen von rechts: man tauscht
Absurdität gegen Identität; man gewinnt
Ichgefühle durch die Leugnung kritischer
Erfahrung. »Haltung«. Die Neokonservativen
machen es bis heute nicht anders.
Als das von Schauwecker beschriebene
Regiment sich auf deutschen Boden zurück-
zog, mußte es, auf höheren Befehl, alles übrig-
gebliebene Kriegsmaterial vernichten, es
verschießen oder in einem Teich versenken.
Albrecht, der Held der Geschichte, empfindet
dies als buchstäbliche Selbstkastration. »Hier
schnitt sich die Nation auf Befehl zielsicher die
Geschlechtsteile ab ...« (S.369) Im bengali-
schen Licht der letzten Leuchtkugeln taucht
vor seinem Blick ein altes Kriegsgrab auf - ein
zusammengenageltes Kreuz mit eingeschnitte-
ner Inschrift:
»Musketier Fritz Bredenstoll
Infanterieregiment Nr. 612, 4. Kompanie
Er fiel am 26. August 1914 für sein Vaterland. Ihn
Schwindelte ein wenig. Er wurde plötzlich ein bißchen
Schwach in den Knien .
... eine einwandfrei patriotische Beleuchtung über dem
Grabe von Fritz Bredenstoll, der laut Inschrift 1914 es
vorgezogen hatte, für sein Vaterland zu fallen und sich
in dieses Grab zu begeben, während die andern lieber
Leuchtkugeln in die Luft knallten und ihre Munition
wegwarfen oder etwas Revolution veranstalteten und
stahlen, was sie kriegen konnten.
Es fror. Ihm wurde kalt. Jawohl - was wollte ich noch
bemerken - ich weiß es nicht mehr - es ekelt mich so
entsetzlich an - mir ist das alles so widerlich - pfui Teufel -
!'aßt mich in Ruhe - es ist alles so grauenhaft blödsinnig und
kindisch ...« (S.370/371°
Schauweckers gequält-sarkastischer Ton ver-
rät die Mühe, den objektiven Zynismus des
Kriegstodes durch einen subjektiven Zynis-
mus des Ekels zu überbieten. Sein Held kehrt
heim - mit einem Bild von »Revolution« im
Kopf, die nichts anderes wäre als die Über-
windung der Absurdität durch große Politik:
er trätmt von einer »Revolution der Front«, in
der sich die Überlebenden zugunsten der
Toten erheben.
Ähnlich motivierte der »Führer« dieser
Revolution seine politische Mission. Hitler lag
im Lazarett Pasewalk in Pommern, als in
Deutschland die andere Revolution begann.
Im »englischen Gasschießen auf der Südfront
von Ypern« war er, seiner Behauptung
zufolge, Mitte Oktober durch Gelbkreuz
geblendet worden. Eine neuere psychologi-
sche Interpretatin besagt hingegen, es habe
sich bei Hitlers Augenleiden in diesen Tagen
um eine hysterische Erblindung gehandelt, mit
der er den Entschluß, »das nicht mit anzu-
sehen«, somatisch inszenierte. Wie dem auch
sei, Hitler gibt an, am 10. November habe er
durch den Lazarettpastor die Wahrheit über
»draußen« erfahren (Kapitulation im Westen
und Revolution in Berlin):
»Während mir um die Augen wieder schwarz ward, tastete
und taumelte ich zum Schlafsaal zurück, warf mich auf
mein Lager und grub den brennenden Kopf in Decke und
Kissen.
Seit dem Tage, da ich am Grabe meiner Mutter
gestanden, hatte ich nicht mehr geweint ... nun aber konnte
In diesen Nächten wuchs in mir der Haß, der Haß gegen
die Urheber dieser Tat.
In den Tagen darauf wurde mir auch mein Schicksal
bewußt, ich mußte nun /achen (!) bei dem Gedanken an
meine eigene Zukunft, die mir vor kurzer Zeit noch so
bittere Sorgen bereitet hatte. War es nicht zum Lachen,
Häuser bauen zu wollen und auf solchem Grunde ...
Mit dem Juden gibt es kein Paktieren, sondern nur das
harte Entweder-Oder.
Ich aber beschloß. Politiker zu werden.« (Mein Kampf,
S.223-225)
In diesen Bildern spricht der gelebte Mythos
der Weimarer Republik: Politik wandelt sich
zur Betreuung der Kriegsgräber durch die
Überlebenden; die Davongekommenen schlie-
ßen mit den Toten einen Pakt. Hitler verfaßt
ein imaginäres Testament der Gefallenen,
indem er sich ihnen als Testamentsvollstrek-
ker aufzwingt. Die in Erde und Schlamm
Versunkenen stehen in ihm auf und kehren als
Rachegeister zu ihrem Volk zurück; aus dem
Schlamm heim in die Reinheit der Ideale; statt
Versinken in flandrischer Erde Vorwärtsstür-
men in völkischen Bewegungen. Hitlers Blitz-
krieg-Konzepte, die er ab 1939 realisierte,
waren Inszenierungen dieses Bildes von den
Gräbern, die sich öffnen, um die Eingesunke-
nen zurückzuverwandeln in Stürmende. Der
Führer war psychopolitisch gesehen ein
solcher Stürmer, ein Abgesandter der Kriegs-
gräber*, Die Politik der soldatisch-faschi-
stisch inspirierten Rechten beruhte auf einem
Wiedergängermotiv - eben wie es Brecht in
seiner Ballade vom deutschen Soldaten
ausgemalt hatte (vgl. auch Beumelburg,
Stimme aus dem Grabe, etc.).
Das Totenbündnis ist der psychologische
Dynamo des Erzfaschisten. In dem Augen-
blick, in dem er sich selbst zum Testaments-
volstrecker der im Schlamm Begrabenen
einsetzt (»Ich aber beschloß ...«), findet seine
private Neurose den magischen Kontakt mit
der nationalen. Was bisher nur eine indivi-
duelle Struktur war - Hitler als Abgesandter
und Rächer der toten Mutter (vgl. die neuen
psychoanalytischen Hitlerdeutungen von
Stierlin und Miller) -, wird nun politisch
verallgemeinert; Hitler als Abgesandter hö-
herer Ordnung. Die Toten des Weltkriegs,
meint er, sind es, die ihn schicken. Sie sind die
Millionen, die von Anfang an hinter Hitler
stehen; sie können sich nicht dagegen wehren,
einen solchen Deputierten zu bekommen.
1930 stehen Millionen Lebende hinter ihm, die
Weltkriegstoten der Zukunft, die dem Wieder-
gänger ihre Stimme gaben; und erst dann
standen auch jene Millionen hinter ihm, die
die deutsche Industrie zu Hitlers Förderung
aufbrachte. (Vgl. das bekannte Montagebild
von John Heartfield: »Motto: Millionen
stehen hinter mir«: Hitler hebt die Hand zum
»deutschen Gruß«; ein überlebensgroßer
wohlbeleibter Geldgeber legt ein Bündel
Tausendmarkscheine hinein; Heartfield nennt
die Montage »Der Sinn des Hitlergrußes«.)
* Man muß sich die Grabmäler für den Unbekannten
Soldaten daraufhin ansehen. Die traditionellen Gestal-
tungen zeigen heldische Erektionen, aufragende Rolands-
figuren, Totenpyramiden, Fahnenflattern zum Himmel,
Obeliske. Das Münchner Grabmal für den Unbekannten
Soldaten 1923 (im Hofgarten der Residenz vor dem Armee-
museum) übersetzte die neue Erfahrung. Der Soldat liegt in
einer Art Krypta; er ist der Versunkene; sein Aufenthalt ist
halb Senktuarium, halb Artillerieunterstand. Rundum sind
Eingänge zum Monument offen gelassen” Man muß
hinabsteigen, um den Toten zu ehren. Aber mehr noch: er
liegt so, daß er zu gegebener Zeit wieder hinauf kann; vgl.
Die Zwanziger Jahre in München, Katalog zur Ausstellung
im Münchner Stadtmuseum, Mai-September 1979, hg. v
Chr. Stölzl. S.469