Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1983, Jg. 15, H. 67, 68, [69/70], 71, 72)

zwischen West und Ost. Wie sollte dabei die 
Bestimmung des Regionalen ohne Spal- 
tungen auszukommen sein? 
Es scheint mir nach alldem, als sei jener Re- 
gionalismus, den ich im Hinblick auf Steffann 
beschrieben habe, nur ein Teil unseres 
Problems. Unser Begriff von Region ist eine 
positive Gegenidentifikation gegen unsere ei- 
gene Lebenssituation, die Stadt. Positiv des- 
halb, weil wir das, was wir heute Region 
nennen, früher Provinz geschimpft hätten. 
Diese positive Seite trauen wir andererseits 
keineswegs allem zu, was zur Zeit noch so 
ähnlich wie Landschaft aussieht. In der Land- 
karte der regionalen Sehnsüchte kommt 
Norddeutschland kaum vor. Der Regionalis- 
mus beginnt südlich des Mains. Daß das An- 
satzpunkte in der Wirklichkeit hat, ist be- 
eits angedeutet. Das eigentliche Problem da- 
bei ist eine emotionale Geographie, die im 
Norden den Staat ansiedelt, im Süden die 
Heimat. Was wir als Regionalismus beschrei- 
ben, könnte sich also bei näherem Zusehen 
auf eine süddeutsche Teilsituation reduzie- 
ren, die nur in trauter Zusammenarbeit süd- 
und norddeutscher Vorurteile (Projektion, 
Selbsthaß, Trotz) zum Ganzen stilisiert wird. 
Seit Goethe und Hölderlin, Schelling und 
Hegel wandern die Begriffe nach Norden, die 
Sehnsüchte nach Süden. 
Eine erste vorsichtige Folgerung wäre, daß 
die deutsche Situation nicht nur zwischen 
dem archaischen Regionalismus Italiens und 
dem aufgeklärten nationalen Regionalismus 
der nordischen Länder vermittelt, sondern 
auch zwischen diesen beiden Positionen, ohne 
deshalb ihnen in den abgespaltenen Hälften 
gleichzukommen, zerrissen, hin und hergeris- 
sen ist. An diesem Punkt freilich wird das 
Nachdenken tastend und provisorisch. Es 
wäre jetzt ja allererst der Unterschied des 
norddeutschen Regionalen zu bestimmen, 
also auch zu sagen, worin ein solcher Re- 
gionalismus mehr wäre als bloße Mangelsi- 
tuation. Daß das Regionale in den süddeut- 
schen Verhältnissen aufgehoben ist, das wis- 
sen wir ja bis zur Selbstquälerei: dort ist 
Wärme, wächst der Wein, bauen die 
Menschen ihre Häuser aus dem Stein der Ber- 
ge, unter einem Himmel, der Italien viel näher 
Ist, das Dasein hat Platz für den Luxus der 
Anmut und des Prallen. Wirkliche Fülle ist im 
Norden nicht drin, dieses Zuviel des Über- 
Schwangs, das Barocke: Geradlinigkeit und 
Ernst regieren stattdessen, Nüchternheit noch 
dort, wo es behäbig wird, viel Inwendigkeit 
unter den riesigen düsteren Wolkenhimmeln 
und Stürmen. 
Eine positive Aussagefähigkeit für die 
norddeutsche Situation ist seit dem Beginn 
der Neuzeit schon nicht mehr gegeben: seit 
das Niederdeutsche als Hoch- und Schrift- 
sprache ausschied, zugunsten des sächsischen 
Kanzleideutschs. Das hat zwar nicht die Bau- 
tradition, wohl aber das Bewußtsein von ihr 
gebrochen. Die Elemente eines norddeut- 
schen Regionalismus müssen wir uns heute 
aus den Scherbenhaufen herauslesen. Als. Er- 
satz für alles gilt seit je das niedersächsische 
Bauernhaus. Das es zur Mutter aller Häuser, 
auch der Stadthäuser der norddeutschen 
Städte, geworden ist, steht außer Zweifel, 
aber bei dieser typologischen Nachweisung 
fällt die Hauptsache durch den Rost hin- 
durch. Die Hauptsache ist, welches Verhält- 
nis von Landschaft und sie bearbeitenden Be- 
wohnern dieses für eine ganze Kultur stellver- 
tretende Haus darstellt. 
Das norddeutsche Haus ruht nicht in der 
Landschaft, nicht auf dem Boden. Da alle na- 
türlichen Gesteine unter diluvianischem Ge- 
röll verschüttet sind, war hier kein Anlaß zu 
EOS Verhältnissen und Ilatenten 
bergängen zwischen bodenständigem Stein 
und daraus gebautem Haus. Das Haus ist sei- 
nen Materialien nach Stück für Stück herbei- 
geschleppt und an ausgewählter Stelle willent- 
lich erbaut. Das wissen die Bewohner. Es gab 
keine Täler, in denen man sich den natürli- 
chen Platz zum Anbauen suchte. Die Ebene 
ist oft so flach, daß erst der Hausbau einen 
Anhaltspunkt schafft und damit den Ansatz 
von Raum, als Raum um das Haus. Erst das 
Pflanzen von Hecken und Bäumen, die Ver- 
doppelung des Hauses durch Mauern, Katen, 
Scheunen schuf hier einen umschlossenen 
Raum, Raum zwischen etwas, statt der un- 
endlichen Weite des Himmels und der Erde. 
Holz, Lehm und Stroh waren die Materialien, 
erst in der Neuzeit Backstein. Statt im Gefüge 
der Landschaft zu ruhen, müssen diese 
Häuser sich gegen den Wind behaupten, sie 
sind deshalb breit, schwer, wie festgepflockt. 
Die Grundform ist der Solitär: das allseitig 
freistehende Allhaus. Das drückt die Raum- 
funktion aus (in Süd- und Mitteldeutschland, 
wo die Gebirge den Raum vorgeben, wieder- 
holen die Häuser die Vorgabe in der fränki- 
schen Hofform). Die Häuser sind erst die ei- 
gentlichen Taktgeber und müssen die Land- 
schaft zur Reaktion zwingen. Die Ordnung 
der Ebene ist eine Ordnung der Wege von 
Haus zu Haus, so wie das heute in Westfalen 
noch zu erlaufen ist. Heimatlichkeit entsteht 
aus der Ausbreitung des Hauses, aus dem 
Häuslichwerden der Landschaft, nicht, wie 
im Süden, aus der Landschaftlichkeit des 
Hauses. 
Eine Traditionslinie wie in Dänemark ist in 
Norddeutschland, der anderen Verhältnisse 
wegen, nicht zu erwarten. Trotzdem hat sich 
eine verwandte Hausvorstellung durch alle 
historischen Umwälzungen in den Bauvor- 
stellungen erhalten und wäre, wenngleich auf 
einer noch luftigeren Ebene der Vermittlung 
des Regionalen als im dänischen Modell, an 
zahllosen Einzelbauten nachzuweisen, in re- 
gionalen Einzeltraditionen Mecklenburgs, 
Holsteinns, Frieslands, der Ostseeküste usw. 
Das kann hier nicht die Absicht sein. Es soll 
hier nur nahegelegt werden, daß das Form- 
problem des Neuen Bauens sich recht anders 
ausnimmt, wenn man es nicht als Wider- 
spruch gegen regionales Bauen am gleichen 
Ort betrachtet, sondern auf dem Hintergrund 
eines gescheiterten , aber latent in den Bau- 
vorstellungen vorhandenen norddeutschen 
Regionalismus. 
Wo der süddeutsche Regionalismus, unab- 
hängig von den verschiedenen Haustypen ein- 
zelner Regionen, das Haus in Kontinuität und 
Kooperation mit der Landschaft baut, ist das 
Thema des norddeutschen Hauses (das einer- 
seits nicht im niedersächsischen Typ aufgeht, 
nicht einmal in deutschen Haustypen, son- 
dern vom friesischen Krüselwark bis zum 
wendischen Blockhaus reicht und sich in zahl- 
reichen Regionen spezifisch nach Land- 
schafts- und Klimabedingungen wie nach Ei- 
gentums- und Erbfolgeverhältnissen ausge- 
bildet hat) auf der allgemeinsten Vorstel- 
lungsebene die Autonomie gegenüber der 
Ebene, die von der Urerfahrung ausgeht, sich 
das Haften am Boden, Windschutz, Klein- 
räumlichkeit, Binnenraum, alles das, was in 
Gebirgsgegenden dem Bewohner bereits fer- 
tig vorliegt, selber schaffen zu müssen. Nur 
auf diesem Traditionsboden war die Autono- 
mie der Form mit der Schärfe zu denken, wie 
das J.J.P. Oud und Mies van der Rohe getan 
haben. Nur hier, weil hier beides zusammen- 
kam, eine uralte Autonomieerfahrung, der 
das Haus das erste ist und nicht die Antwort 
auf Vorhandenes, und zugleich die Brechung 
der regionalen Kontinuität durch ein äu- 
ßerstes Maß an Verstaatlichung der Bautra- 
dition, an Verselbständigung gegenüber dem 
traditionellen Haften am Boden. Von den 
Sehnsüchten Bruno Tauts nach vulkanischen 
Tiefen und mütterlicher Umfassungswärme, 
nach Mauer und Scholle, ist bei Mies nichts 
zu spüren. 
So gesehen, hat der Autonomieanspruch 
des norddeutschen Hauses den Untergang des 
Regionalismus norddeutscher Prägung gera- 
dezu programmiert. Noch die barocken 
Haustypen der diversen Staatsarchitekturen 
gingen mit der alten Hausmasse um, produ- 
zierten die Sekundärgebirge des neuzeitlichen 
Speicherdaches, dank dessen bzw. der zu- 
grundeliegenden Erfindung des Dachstuhls 
jene Voluminosität allererst entstand, die wir 
heute leichtfertig mit dem Bild des nieder- 
sächsischen Hauses assoziieren. Tatsächlich 
ist dieses Volumen bereits ein Untergangs- 
zeichen: einerseits ökonomische Expansion 
aufgrund verbesserter landwirtschaftlicher 
Methoden, andererseits Aufnahme städti- 
scher Massigkeit und Formenfülle. Daß sich 
Schlaun, der so viele Adelssitze entworfen 
oder modernisiert hatte, ein Landhaus gerade 
in dieser Form des modernen voluminösen 
Bauernhauses baute, ist keine Kuriosität, 
sondern die authentischste Aussage über die 
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