Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1983, Jg. 15, H. 67, 68, [69/70], 71, 72)

Dialektik des Regionalismus, die ich im ge- 
samten norddeutschen Bereich zu nennen 
wüßte. 
Woher andererseits wäre die Leidenschaft 
verständlich, mit der Schinkel das voluminö- 
se, quasi gebirgige barocke Dach verfolgte 
und aus dem Bild der Architektur für ein 
Jahrhundert verbannte, wenn nicht damit 
etwas auszudrücken gewesen wäre von der al- 
ten Bedingungslosigkeit und Absolutheit des 
norddeutschen Bauideals? Schinkels Kreuz- 
zug gegen das gewalmte Dach verbannte mit 
dem Barock gleichsam auch den einge- 
drungenen Süden aus dem Baugesicht des 
Nordens. Nur so ist verständlich, wie seine 
Parole befolgt oder gar, wie in Dänemark, 
vorweggenommen wurde. Wenn man heute 
die nordischen Städte besichtigt, so gab es nur 
zwei genuine Zeiten: die Gotik und den Klas- 
sizismus. Nur das traf den Nerv. Im Klassi- 
zismus gingen der Unabhängigkeitscharak- 
ter des norddeutschen Bauernhauses und die 
abstrakte intellektuelle Leidenschaft der Ver- 
staatlichung (der preußische Staat als vor- 
handenes Absolutes allem voran) zusam- 
men, um eine sekundäre Tradition von ein- 
zigartiger Konsistenz und Heftigkeit der 
Durchsetzung zu bilden. 
Aus dieser Tradition, besser gesagt: aus die- 
ser komplizierten Geschichte von Bruch und 
Kontinuität, kommt das Neue Bauen, beson- 
ders in seinen dogmatischen Formen, zuge- 
spitzt im Werk Mies van der Rohes. Daß Mies 
über Peter Behrens seine Bauvorstellungen an 
Schinkel ausbildete, wundert einen dann kei- 
nen Augenblick. Es wundert einen ebenso 
wenig, wie Mies, nachdem er das Prinzip orts- 
ungebundener Hochhäuser durchgespielt 
hatte, sich mit den Zeilenbauten der Afrika- 
nischen Straße in Berlin-Wedding ganz im 
mainstream der Berliner Siedlungsarchitek- 
tur ausdrücken konnte. Es ist dann schließ- 
lich auch nur logisch, daß Eiermann, eben der 
Architekt, der in der zweiten Bauhausgene- 
ration allein die Formleidenschaft von Mies 
aufzubringen vermochte, in seinen Bautypen 
als einziger ähnliche radikale, divergierende 
und zugleich deutlich identifizierbare Wege 
ging: einerseits entlang des Typs des ar- 
chaischen: Langhauses, andererseits hin zu 
einer absoluten punktuellen Form. Beides ist 
nordeuropäisch regionale Tradition - auf der 
äußersten möglichen Ebene ihrer Abstrak- 
tion. 
VIII 
Vom Handgreiflichen süddeutscher Regiona- 
lismen sind wir damit weit entfernt, und schon 
Schmitthenner hat es ja immer gewußt, 
besonders 1933, daß die Norddeutschen es nie 
begreifen werden, was Wein und Gesang des 
Südens sind. Im Namen des süddeutschen 
Regionalismus konnte der NS, mit Schmitt- 
henners und anderer Kriegsgewinnler Unter- 
stützung, leicht die Abstraktionsarchitektur 
des Neuen Bauens aufrollen. Daß Tessenow 
dabei nicht mitspielte, ist ein aufschlußreiches 
Detail: Tessenow war selber viel zu sehr 
Norddeutscher, um solchen Parolen zu 
folgen. Formal scheint er Schmitthenner 
nahe; auf die regionale Formleidenschaft 
gesehen, war er Mies unvergleichlich näher, 
und das ist allen seinen Bauten anzusehen. 
Ebenso weit weg sind wir von der 
ökologischen Begründung der Hausformen. 
Das ist hier nicht zu rechtfertigen: hier ist von 
Darstellungswünschen die Rede, nicht von 
ökologischen Notwendigkeiten. Die ökolo- 
gischen Notwendigkeiten sind zwar ihrerseits 
auf ihren Spielraum abzufragen - inwieweit 
veränderte Produktionsbedingungen ein tra- 
ditionelles Gefüge von Bauform und klima- 
tischen und Arbeitsbedingungen neu zu 
formulieren zwingen -, aber jeweils geht es 
dabei eben um Zwingendes, darum, wie man 
Kälte, Nässe, Wind (und heute mehr noch 
künstlicher Aufhitzung, Luftstillstand, 
Smog) begegnet. Daß hier die Härte der Not- 
wendigkeit in einer in den bislang gehabten 
Wohlstandszeiten unbedachter Verschwen- 
dung von Ressourcen in ganz neuer Weise auf 
uns zukommen wird, haben die meisten noch 
gar nicht begriffen. Seine eigentliche Gewalt 
entfaltet das Regionale zur Zeit noch nicht 
auf diesem Feld ökologischer Notwendigkeit, 
sondern auf der anderen Seite seines gespal- 
tenen Fortlebens: im Hunger nach traditio- 
nellen Zeichen. 
Die Wunschebene ist die politisch zur Zeit 
daher eigentlich brisante Ebene. Mit diesen 
Wünschen muß ja umgegangen werden, sie 
dürfen nicht noch einmal der Reaktion 
überlassen bleiben. Politisch betrifft das das 
Projekt der Grünen, den wertkonservativen 
Anteil der CDU/CSU-Wählerschaft aus der 
Einzementierung im politischen Konservati- 
vismus - in der rechten Technokratie - 
herauszubrechen. Daß das kurzfristig und 
parteipolitisch möglich sein sollte, halte ich 
für ausgeschlossen. Die Notwendigkeit einer 
solchen Politik ist aber, angesichts steigender 
atomarer Kriegsgefahr und sich zuspitzender 
ökonomischer Krise, überhaupt nicht zu 
leugnen - sie braucht bloß unglaublich viel 
Zeit und wirklich die Ebene, auf der allein 
etwas zu machen ist, die der konkreten 
Lebensverhältnisse. Hier ist der politische Ort 
dafür, von der flüchtigen, der Wunschseite 
her, am Regionalismusproblem mit den 
Mitteln des Planens und Bauens zu arbeiten. 
Weiterzukommen ist hier nur über kon- 
krete Angebote. Die Heimatwünsche müssen 
auf eine Weise gebaut werden, daß sie nicht 
nach der falschen Seite losgehen. Was diese 
falsche Seite ausmacht, das sehen wir landauf, 
landab. Der Wunsch nach Heimat wird 
beliefert, bis zum Überdruß, aber mit 
gefälschten Zeichen. Die Menschen sind 
durch wachsende Arbeitslosigkeit und Krisen 
im Ökologischen und politischen Gefüge 
gründlich verunsichert, mit den alten Gespen- 
stern der Massenarbeitslosigkeit, der Ent- 
wertung des Erworbenen alleingelassen, 
stürzen sich dabei auf alles, was alt und 
traditionell zu sein verspricht, um kulturell 
wenigstens die Zukunftsangst zu tarieren. 
Dabei lassen sie sich jämmerlich betrügen 
durch bloße Verkleidungen, Umhüllungen 
dessen, was sie nicht mehr wollen, mit Holz. 
Backstein, Grün etc. 
An diesem Punkt wie einst der Werkbund 
Geschmackserziehung treiben zu wollen, 
wäre von vornherein daneben. Übers Mies- 
machen läuft sowieso nichts. Das authenti- 
sche Regionale, so wie es einst Steffann und 
andere wiederherstellen wollten, noch einmal 
den Menschen anzubieten, dazu ist es histo- 
risch vollauf zu spät. Dieser Versuch ist 
damals ein für allemal fehlgeschlagen, zum 
letzten Zeitpunkt, wo er ehrlicherweise und 
ohne Hintergedanken noch unternommen 
werden konnte. Damals haben sich die 
Deutschen für eine klare Linie der gelogenen 
Restauration entschieden. Soweit sie nicht 
gleich ganz auf den Internationalismus um- 
schwenkten, haben sie ihre alten zerstörten 
Gebäude, zumal in Süddeutschland, auf eine 
Art und Weise aufgebaut, daß darin ein 
weiteres Mal, nach dem NS, die regionale 
Attrappe nur die in der Gesamtorganisation 
der Gebäude vollzogene Rationalisierung 
verkleidete. Die moderne Disneylandebene, 
die gar nicht mehr so tut, als ginge es um alte 
Baukörper, sondern offen mit Versatzstücken 
arbeitet, ist demgegenüber ein politischer 
Fortschritt. Wir haben es mit Allerwelts- 
häusern zu tun, die mit beliebigen regionalen 
Versatzstücken besetzt werden, Mansard- 
dächer auf Schüttbeton. Reeddächer im 
Schwarzwald, alpine Dachtraufen und Holz- 
galerien im Ruhrgebiet usw., auf dem 
Stadthaussektor inzwischen nicht anders als 
beim Einfamilienhaus. Das ist der Durch- 
schnitt. 
Oberhalb dessen haben wir längst auch 
Gefährlicheres: den typologischen Transfer 
quer durch Europa, italienischen Piazzen in 
Norddeutschland, neobarocke Plätze und 
neoklassizistische Häuserfronten. Wir haben 
massenhaftes historisch regionalistisches 
trompe l’ceil, Port Grimaud in Südfrankreich 
und die Nachahmungen quer durch unsere 
Vorstädte, ob in Nürnberg-Langwasser oder 
Neuisenburg. Wir haben Brancas gigantische 
Fälschungen in Würzburg und München, wie 
überhaupt in Bayern (und insbesondere in der 
Münchener Innenstadt) den Versuch, die 
Zeitgrenze zwischen historischer und gegen- 
wärtiger Bausubstanz aufzuheben und zu 
einem posthistorischen Stadtbilddesign zu 
kommen, in dem historische Orientierungen 
nicht mehr möglich sind; wo die vorindu- 
striellen Bauformen, Fin de siecle, Jugendstil, 
Neoklassizismus, NS-Architektur, Nach- 
kriegsrestauration und modernes Post- 
histoire einen undifferenzierten getünchten 
Brei ergeben, in dem die historischen 
Katastrophen, Brüche, Zerstörungen nicht 
mehr vorkommen; wo man German Bestel- 
meyer 1983 weiterbaut, als schrieben wir 
1923, aber Döllgasts klassische Trauerarbeit 
am Zerstörten an der Alten Pinakothek nicht 
mehr erträgt, weil sie allein noch aus der 
Konsens ausschert, daß es Geschichte u: 
Vernichtung nicht gegeben habe. 
Das ist die Gewalt der gefälschten 
Wünsche, mit der wir zu tun haben. Ob Stadt 
oder Land, ist das Regionale hier zum Touris- 
mus geworden, zum Schaubild. Die schwie- 
rige Aufgabe ist es, demgegenüber praktisch 
vom Regionalen zu reden unter Offenhal- 
tung des historischen Prozesses, also im 
Bauen vom Untergang des Regionalen ebenso 
zu reden wie von den unerledigten Wünschen, 
von der wirklichen Genauigkeit, in der 
Zeitpunkt und Ort ebenso wenig beliebig sind 
wie die Arbeits- und Wohnverhältnisse. Dazu 
war der Umweg über die Präsenz des 
Regionalen gerade in der funktionalistischen 
Tradition da, in seinem scheinbaren histo- 
rischen Gegenteil. Wenn man hier zu prakti- 
schen Fortschritten kommen will, muß man, 
meine ich, eben von dieser Gegenseite her, 
von der allergrößten Übersetzungsmöglich- 
keit her, das Wunschpaket anpacken. Dann, 
wenn man das tut, braucht man allerdings 
erneut jene Genauigkeit der Empfindung, der 
Sehnsucht und des Auges, die auf verlorenem, 
ja falschem und zu Recht gescheitertem 
historischem Standpunkt einst Leute wie 
Steffann und Döllgast vorgemacht haben. 
[X 
Wie das praktisch werden kann, das läßt sich 
nur an einem genauen Ort entwickeln. Der 
Ubiquität der. regionalistischen Floskeln und 
typologischen Muster läßt sich nicht mit einer 
vergleichbar ubiquitären Einsicht begegnen. 
Auf der Ebene des Transfers von Mitgebrach- 
tem spielt sich gar nichts ab. Es muß Zeit 
dazwischengeschoben werden, Geschichte, 
Lebenszeit. Erkennen kann man die regiona- 
len Wunschformen auch als Reisender oder 
Zugereister. Sie sich anzueignen, dazu 
braucht es lange Beschäftigung damit, ein 
Hineinwachsen, ein jahreslanges, immer 
tiefer greifendes Sichverwurzeln. Auch dann, 
wenn man am Ort aufgewachsen ist, braucht 
es diese Zeit. Was selbstverständlich - und 
damit unerkannt - in den mitgebrachten 
Vorstellungen von Haus und Stadt steckt, 
muß als anderes, besonderes allererst bewußt 
4“
	        

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