Dialektik des Regionalismus, die ich im ge-
samten norddeutschen Bereich zu nennen
wüßte.
Woher andererseits wäre die Leidenschaft
verständlich, mit der Schinkel das voluminö-
se, quasi gebirgige barocke Dach verfolgte
und aus dem Bild der Architektur für ein
Jahrhundert verbannte, wenn nicht damit
etwas auszudrücken gewesen wäre von der al-
ten Bedingungslosigkeit und Absolutheit des
norddeutschen Bauideals? Schinkels Kreuz-
zug gegen das gewalmte Dach verbannte mit
dem Barock gleichsam auch den einge-
drungenen Süden aus dem Baugesicht des
Nordens. Nur so ist verständlich, wie seine
Parole befolgt oder gar, wie in Dänemark,
vorweggenommen wurde. Wenn man heute
die nordischen Städte besichtigt, so gab es nur
zwei genuine Zeiten: die Gotik und den Klas-
sizismus. Nur das traf den Nerv. Im Klassi-
zismus gingen der Unabhängigkeitscharak-
ter des norddeutschen Bauernhauses und die
abstrakte intellektuelle Leidenschaft der Ver-
staatlichung (der preußische Staat als vor-
handenes Absolutes allem voran) zusam-
men, um eine sekundäre Tradition von ein-
zigartiger Konsistenz und Heftigkeit der
Durchsetzung zu bilden.
Aus dieser Tradition, besser gesagt: aus die-
ser komplizierten Geschichte von Bruch und
Kontinuität, kommt das Neue Bauen, beson-
ders in seinen dogmatischen Formen, zuge-
spitzt im Werk Mies van der Rohes. Daß Mies
über Peter Behrens seine Bauvorstellungen an
Schinkel ausbildete, wundert einen dann kei-
nen Augenblick. Es wundert einen ebenso
wenig, wie Mies, nachdem er das Prinzip orts-
ungebundener Hochhäuser durchgespielt
hatte, sich mit den Zeilenbauten der Afrika-
nischen Straße in Berlin-Wedding ganz im
mainstream der Berliner Siedlungsarchitek-
tur ausdrücken konnte. Es ist dann schließ-
lich auch nur logisch, daß Eiermann, eben der
Architekt, der in der zweiten Bauhausgene-
ration allein die Formleidenschaft von Mies
aufzubringen vermochte, in seinen Bautypen
als einziger ähnliche radikale, divergierende
und zugleich deutlich identifizierbare Wege
ging: einerseits entlang des Typs des ar-
chaischen: Langhauses, andererseits hin zu
einer absoluten punktuellen Form. Beides ist
nordeuropäisch regionale Tradition - auf der
äußersten möglichen Ebene ihrer Abstrak-
tion.
VIII
Vom Handgreiflichen süddeutscher Regiona-
lismen sind wir damit weit entfernt, und schon
Schmitthenner hat es ja immer gewußt,
besonders 1933, daß die Norddeutschen es nie
begreifen werden, was Wein und Gesang des
Südens sind. Im Namen des süddeutschen
Regionalismus konnte der NS, mit Schmitt-
henners und anderer Kriegsgewinnler Unter-
stützung, leicht die Abstraktionsarchitektur
des Neuen Bauens aufrollen. Daß Tessenow
dabei nicht mitspielte, ist ein aufschlußreiches
Detail: Tessenow war selber viel zu sehr
Norddeutscher, um solchen Parolen zu
folgen. Formal scheint er Schmitthenner
nahe; auf die regionale Formleidenschaft
gesehen, war er Mies unvergleichlich näher,
und das ist allen seinen Bauten anzusehen.
Ebenso weit weg sind wir von der
ökologischen Begründung der Hausformen.
Das ist hier nicht zu rechtfertigen: hier ist von
Darstellungswünschen die Rede, nicht von
ökologischen Notwendigkeiten. Die ökolo-
gischen Notwendigkeiten sind zwar ihrerseits
auf ihren Spielraum abzufragen - inwieweit
veränderte Produktionsbedingungen ein tra-
ditionelles Gefüge von Bauform und klima-
tischen und Arbeitsbedingungen neu zu
formulieren zwingen -, aber jeweils geht es
dabei eben um Zwingendes, darum, wie man
Kälte, Nässe, Wind (und heute mehr noch
künstlicher Aufhitzung, Luftstillstand,
Smog) begegnet. Daß hier die Härte der Not-
wendigkeit in einer in den bislang gehabten
Wohlstandszeiten unbedachter Verschwen-
dung von Ressourcen in ganz neuer Weise auf
uns zukommen wird, haben die meisten noch
gar nicht begriffen. Seine eigentliche Gewalt
entfaltet das Regionale zur Zeit noch nicht
auf diesem Feld ökologischer Notwendigkeit,
sondern auf der anderen Seite seines gespal-
tenen Fortlebens: im Hunger nach traditio-
nellen Zeichen.
Die Wunschebene ist die politisch zur Zeit
daher eigentlich brisante Ebene. Mit diesen
Wünschen muß ja umgegangen werden, sie
dürfen nicht noch einmal der Reaktion
überlassen bleiben. Politisch betrifft das das
Projekt der Grünen, den wertkonservativen
Anteil der CDU/CSU-Wählerschaft aus der
Einzementierung im politischen Konservati-
vismus - in der rechten Technokratie -
herauszubrechen. Daß das kurzfristig und
parteipolitisch möglich sein sollte, halte ich
für ausgeschlossen. Die Notwendigkeit einer
solchen Politik ist aber, angesichts steigender
atomarer Kriegsgefahr und sich zuspitzender
ökonomischer Krise, überhaupt nicht zu
leugnen - sie braucht bloß unglaublich viel
Zeit und wirklich die Ebene, auf der allein
etwas zu machen ist, die der konkreten
Lebensverhältnisse. Hier ist der politische Ort
dafür, von der flüchtigen, der Wunschseite
her, am Regionalismusproblem mit den
Mitteln des Planens und Bauens zu arbeiten.
Weiterzukommen ist hier nur über kon-
krete Angebote. Die Heimatwünsche müssen
auf eine Weise gebaut werden, daß sie nicht
nach der falschen Seite losgehen. Was diese
falsche Seite ausmacht, das sehen wir landauf,
landab. Der Wunsch nach Heimat wird
beliefert, bis zum Überdruß, aber mit
gefälschten Zeichen. Die Menschen sind
durch wachsende Arbeitslosigkeit und Krisen
im Ökologischen und politischen Gefüge
gründlich verunsichert, mit den alten Gespen-
stern der Massenarbeitslosigkeit, der Ent-
wertung des Erworbenen alleingelassen,
stürzen sich dabei auf alles, was alt und
traditionell zu sein verspricht, um kulturell
wenigstens die Zukunftsangst zu tarieren.
Dabei lassen sie sich jämmerlich betrügen
durch bloße Verkleidungen, Umhüllungen
dessen, was sie nicht mehr wollen, mit Holz.
Backstein, Grün etc.
An diesem Punkt wie einst der Werkbund
Geschmackserziehung treiben zu wollen,
wäre von vornherein daneben. Übers Mies-
machen läuft sowieso nichts. Das authenti-
sche Regionale, so wie es einst Steffann und
andere wiederherstellen wollten, noch einmal
den Menschen anzubieten, dazu ist es histo-
risch vollauf zu spät. Dieser Versuch ist
damals ein für allemal fehlgeschlagen, zum
letzten Zeitpunkt, wo er ehrlicherweise und
ohne Hintergedanken noch unternommen
werden konnte. Damals haben sich die
Deutschen für eine klare Linie der gelogenen
Restauration entschieden. Soweit sie nicht
gleich ganz auf den Internationalismus um-
schwenkten, haben sie ihre alten zerstörten
Gebäude, zumal in Süddeutschland, auf eine
Art und Weise aufgebaut, daß darin ein
weiteres Mal, nach dem NS, die regionale
Attrappe nur die in der Gesamtorganisation
der Gebäude vollzogene Rationalisierung
verkleidete. Die moderne Disneylandebene,
die gar nicht mehr so tut, als ginge es um alte
Baukörper, sondern offen mit Versatzstücken
arbeitet, ist demgegenüber ein politischer
Fortschritt. Wir haben es mit Allerwelts-
häusern zu tun, die mit beliebigen regionalen
Versatzstücken besetzt werden, Mansard-
dächer auf Schüttbeton. Reeddächer im
Schwarzwald, alpine Dachtraufen und Holz-
galerien im Ruhrgebiet usw., auf dem
Stadthaussektor inzwischen nicht anders als
beim Einfamilienhaus. Das ist der Durch-
schnitt.
Oberhalb dessen haben wir längst auch
Gefährlicheres: den typologischen Transfer
quer durch Europa, italienischen Piazzen in
Norddeutschland, neobarocke Plätze und
neoklassizistische Häuserfronten. Wir haben
massenhaftes historisch regionalistisches
trompe l’ceil, Port Grimaud in Südfrankreich
und die Nachahmungen quer durch unsere
Vorstädte, ob in Nürnberg-Langwasser oder
Neuisenburg. Wir haben Brancas gigantische
Fälschungen in Würzburg und München, wie
überhaupt in Bayern (und insbesondere in der
Münchener Innenstadt) den Versuch, die
Zeitgrenze zwischen historischer und gegen-
wärtiger Bausubstanz aufzuheben und zu
einem posthistorischen Stadtbilddesign zu
kommen, in dem historische Orientierungen
nicht mehr möglich sind; wo die vorindu-
striellen Bauformen, Fin de siecle, Jugendstil,
Neoklassizismus, NS-Architektur, Nach-
kriegsrestauration und modernes Post-
histoire einen undifferenzierten getünchten
Brei ergeben, in dem die historischen
Katastrophen, Brüche, Zerstörungen nicht
mehr vorkommen; wo man German Bestel-
meyer 1983 weiterbaut, als schrieben wir
1923, aber Döllgasts klassische Trauerarbeit
am Zerstörten an der Alten Pinakothek nicht
mehr erträgt, weil sie allein noch aus der
Konsens ausschert, daß es Geschichte u:
Vernichtung nicht gegeben habe.
Das ist die Gewalt der gefälschten
Wünsche, mit der wir zu tun haben. Ob Stadt
oder Land, ist das Regionale hier zum Touris-
mus geworden, zum Schaubild. Die schwie-
rige Aufgabe ist es, demgegenüber praktisch
vom Regionalen zu reden unter Offenhal-
tung des historischen Prozesses, also im
Bauen vom Untergang des Regionalen ebenso
zu reden wie von den unerledigten Wünschen,
von der wirklichen Genauigkeit, in der
Zeitpunkt und Ort ebenso wenig beliebig sind
wie die Arbeits- und Wohnverhältnisse. Dazu
war der Umweg über die Präsenz des
Regionalen gerade in der funktionalistischen
Tradition da, in seinem scheinbaren histo-
rischen Gegenteil. Wenn man hier zu prakti-
schen Fortschritten kommen will, muß man,
meine ich, eben von dieser Gegenseite her,
von der allergrößten Übersetzungsmöglich-
keit her, das Wunschpaket anpacken. Dann,
wenn man das tut, braucht man allerdings
erneut jene Genauigkeit der Empfindung, der
Sehnsucht und des Auges, die auf verlorenem,
ja falschem und zu Recht gescheitertem
historischem Standpunkt einst Leute wie
Steffann und Döllgast vorgemacht haben.
[X
Wie das praktisch werden kann, das läßt sich
nur an einem genauen Ort entwickeln. Der
Ubiquität der. regionalistischen Floskeln und
typologischen Muster läßt sich nicht mit einer
vergleichbar ubiquitären Einsicht begegnen.
Auf der Ebene des Transfers von Mitgebrach-
tem spielt sich gar nichts ab. Es muß Zeit
dazwischengeschoben werden, Geschichte,
Lebenszeit. Erkennen kann man die regiona-
len Wunschformen auch als Reisender oder
Zugereister. Sie sich anzueignen, dazu
braucht es lange Beschäftigung damit, ein
Hineinwachsen, ein jahreslanges, immer
tiefer greifendes Sichverwurzeln. Auch dann,
wenn man am Ort aufgewachsen ist, braucht
es diese Zeit. Was selbstverständlich - und
damit unerkannt - in den mitgebrachten
Vorstellungen von Haus und Stadt steckt,
muß als anderes, besonderes allererst bewußt
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