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links und unten: Plan und Luftbild Freudenstadts
vor dem zweiten Weltkrieg
rechts: Zerstörungsplan, totalzerstört (weiß): ins-
gesamt 670 Häuser, die gesamte Innenstadt
erhalten bzw. beschädigt: 55% der gesamten
Bebauung
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Wände des großen Platzes. Schweizer dage-
gen, wohl angeregt durch das aus dem Barock
erhaltene Pfarrhaus neben der Kirche, das ein
Walmdach hat, wählte zusammenhängende,
traufständige Häuser, die dem Hang entspre-
chend abgetreppt sind. Die Platzwände
wirken dadurch geschlossener, die Raum-
bildung ist eindeutiger als bei einer Zickzack-
Silhouette von Giebelhausreihen, die Raum-
wirkung wird durch die Erhöhung der
Geschosse von zwei auf drei an drei Seiten
gesteigert. Die Vorkriegsbauten hatten Arka-
den zum Teil mit Bogen, zum Teil mit geraden
Stürzen. Da die neuen Bauten aus Mauer-
werk bestehen sollten, wurden Bogen ge-
wählt, die bei 4 m Spannweite leicht gemauert
werden könnten und der gesamten Fassaden-
fläche mehr „Fleisch“ geben würden. Das
Barockhaus und die Kirchenarkaden haben
ebenfalls gemauerte Bögen auf Sandstein-
säulen mit Kapitellen.
Durch Umlegungen wurden die stark
zergliederten und kleingeteilten Häuserzeilen
vereinfacht. Dabei wurde die Zeilentiefe mit
12 m festgelegt, ebenso wurden innenliegende
Bäder und Toiletten vorgeschlagen, um die
zum Teil sehr schmalen Fassadenflächen für
Wohn- und Schlafräume freizuhalten. Dies
bedurfte allerdings einer Anderung der
Baugesetze des Landes.
Die Hausbreiten wurden nicht vereinheit-
licht, sondern ergaben sich aus den Flächen-
ansprüchen, die den Besitzern aus ihren
Vorkriegshäusern errechnet wurden, d.h. es
entstanden ganz unterschiedliche, nach kei-
nem Maßsystem regulierte Hausbreiten zwi-
schen 5,5 und 14 m. Dazu mußte aber für
jedes Haus zur Umlegung mit den Bauherren
ein Grundriß entworfen werden. Die unglei-
chen Hausbreiten ergaben dann ungleich
weite Arkadenbögen und ungleiche Fenster-
aufteilungen. Einheitlich war das Motiv der
Arkaden, die Geschoßhöhen (drei Seiten
dreigeschossig, die vierte, zum Schwarzwald
hin tiefer gelegene Westseite zweigeschossig),
zwei Fenstergrößen und die Dachhöhen mit
einer Biberschwanzdeckung aus rechteckigen
Ziegeln; aber jedes Haus als Teil seiner Zeile
wurde individuell mit den einheitlich fest-
gelegten Elementen ausgebildet.
Es gibt kleine Sprünge in den Zeilen,
Eckbetonungen durch Erker, sonst aber längs
sich ausbreitende Flächen der Häuserzeilen.
Arkade, Geschoßfenster und Dach mit
Giebeln sind drei übereinanderliegende Zo-
nen, die im Laufe der Planung immer mehr als
durchgehende, voneinander unabhängige
Bänder entwickelt wurden, die nicht axial in
der Senkrechten aufeinander bezogen sind
und die Wand durch Symmetrien teilen
würden. So sind in den meisten Fällen die
Arkadenfelder nicht auf die darüber liegen-
den Fenster ausgerichtet und diese nicht auf
die Dachgauben. Die Wirkung ist eine
Kontinuität der Platzwand bei einem Reich-
tum an Abwechslung, der die einfachen
Architekturformen nicht stur werden läßt.
Die Verhältnisse zwischen Mauerfläche und
Fenster, zwischen Dachfläche und Dach-
gauben sind aber nicht beliebig, sondern
folgen dem Prinzip der Vorherrschaft der
Flächen vor den Öffnungen, das sich bei den
Arkaden umkehrt. Die Vorherrschaft der
Flächen wird durch die unregelmäßige
Verteilung der Öffnungen noch gesteigert. Es
entsteht eine geplante Improvisation mit einer
geringen Zahl von Elementen.
Im Sinne Wetzels wurde das barocke Plan-
schema der Stadtanlage weiter bereichert:
drei der Ausfallstraßen bilden Straßen-
fluchten, die nach ungefähr 150 m durch
quergestellte Bauten räumlich abgeschlossen
werden, wohl aber eine eindeutige Weiter-
führung der Straße anzeigen. Kommt man
von außen in die Stadt, so haben diese
Straßenfluchten geringe Verengungen, die
Zeilen bilden Köpfe am Eingang auf den
Marktplatz, ergeben also Torsituationen.
Dem viel zu hohen Postgebäude auf dem
Platz wurde das Stadthaus so gegenüber-
gesetzt, daß dieses die Straßenbilder von den
Einfallstraßen her berherrscht und einen
plastischen Angelpunkt im Platze bildet.
Ob man die Form der Architektur mag
oder nicht, es ist ein geschlossenes Bild
entstanden, das mit einfachen Baumethoden
und geringem finanziellem Aufwand inner-
halb von viereinhalb Jahren von ungefähr 10
Architekten ausgeführt wurde; die Schwie-
rigkeit war allerdings, daß diese nicht
denselben Hintergrund und auch nicht
dieselben architektonischen Absichten hatten
wie der Stadtbaurat, der den Entwuri
gemacht hatte.
Wie verlief aber die Durchführung des
Entwurfs, wie war sie möglich?
Innerhalb eines halben Jahres wurde der
Entwurf der einzelnen Häuser mit ihren
Fassaden von Ludwig Schweizer festgelegt.
Das garantierte aber nicht das Verständnis
der übrigen Architekten, die nach Aussagen
ihres Stadtbaumeisters weitere Varianten
hätten einbringen können, aber eben inner-
halb der vorgegebenen Prinzipien im Sinne
einer Bereicherung oder Verfeinerung. Als
erster Bau entstand das Modehaus Hengelan
der Nordseite des Platzes. Der Architekt
reichte einen Plan zur Genehmigung ein, der
im Ganzen den Vorgaben entsprach, der abeı
in den Feinheiten der Proportionen und der
Details vom Stadtbaurat beanstandet wurde.
Daß Bauherr und Architekt sich sehr ungern
an das Vorbild hielten, war offensichtlich
gewesen. Daher beauftragte der Stadtbaurat
seinen Bauleiter, bei Baubeginn nachzusehen,
nach welchen Plänen gearbeitet wurde: es
waren gänzlich andere. Daraufhin schrieb der
Stadtbaurat das gesamte Bauwerk in allen
Einzelheiten unter großem Protest der
Betroffenen vor. „Die Diktatur ist ja
schlimmer als unter Hitler“, war ihr Aufbe-
gehren. Das war aber der einzige große
Ausbruchsversuch geblieben. Der Stadtbau-
rat brachte Musterblätter heraus, da die
Architekten „ja keine Erker, Arkadenbogen
oder Dachgauben machen können“. Details
1:1 mußten für den Bau vom Stadtbaumeister
unterschrieben sein. Ebenso hart blieb er
gegenüber Versuchen, Neonreklame an Fas-
saden oder Dachfirsten anzubringen. Schrift-
züge auf dem Putz, unterstützt von einem
Steingesims, mußten genügen, zum Vorteil
des Raumbildes.
Der Druck auf die Bauherren war möglich,
da die Bauherren zum Bau selber keinen
Pfennig Geldes beitragen konnten und die
Bauten nur über ein einfallsreiches Finan-
zierungs- und Stiftungssystem möglich wur-
den. Zudem war der größte Teil der Bebauung
durch das Evangelische Hilfswerk errichtet
worden, also in einer Hand geblieben.
Ludwig Schweizer bestand immer darauf,
daß er nicht zur Verwaltung eines Wieder-
aufbaus, sondern zum Wiederaufbau nach
Freudenstadt berufen worden sei, und das
hieß, nicht als Stadtbaureisendser, sondern
als ortsansässiger Mitwirkender. Handwer-
ker und Architekten wollten nichts Kompli-
ziertes, nur Geld verdienen und dann
weglaufen. Die Ladenbesitzer wollten nichts
Überflüssiges: Arkaden nehmen 3 m von der
Erdgeschoßtiefe weg. Hier half nur die
Überzeugung: wenn wir egoistisch bauen und
damit keine Stadt mit Atmosphäre zustande-
bringen, wird Freudenstadt seine Gäste
verlieren, das gilt für die Stadt wie für jeden
Laden und jedes Restaurant. Der Stadtbaurat
hat Recht behalten.
Wenn heute langsam Veränderungen an
der Erscheinung der Bauten stattfinden, so
geht es bei der Kritik daran Ludwig
Schweizer, der im Ruhestand in Freuden-
stadt wohnt, nicht darum, daß nichts Neues
mehr gemacht werden dürfte; aber „genauso,
wie ich Schickhardt in meinen Plan einbezo-
gen habe, sollten auch die nachfolgenden
Architekten die von mir gebauten Häuser mit
einbeziehen. Wenn eine Hausform so entwor-
fen ist, daß sie nur mit Sprossenfenstern in
ihrer Gestalt stimmt, dann kann man nicht die
Sprossen herausreißen, ohne die gesamte
Form zu zerstören. Aber man kann natürlich
eine Architektur mit Fenstern ohne Sprossen-
teilung machen.“
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