Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1983, Jg. 15, H. 67, 68, [69/70], 71, 72)

bürgerlichen Herrschaft nach den Umwäl- 
zungen des Jahres 1848, die Stadtbürger 
eignen sich das alte Feudalgebäude an und 
nutzen es für ihre Zwecke. 1860-61 ließ die 
Stadt das Haus innen umbauen. Der 
städtische Raum im Herzen der Altstadt blieb 
so hinsichtlich der äußeren Form unverän- 
dert, bekam aber einen gänzlich anderen 
Sinn. Erst die Zerstörungen des Zweiten 
Weltkrieges änderten auch die äußere Gestalt 
des öffentlichen Raumes. Zerstört wurden die 
Giebelhäuser gegenüber der Rathausfront 
sowie zum Teil das Rathaus. Nur letzteres 
wurde äußerlich in der früheren Form wieder 
aufgebaut, die beiden Bürgerhäuser an der 
Südseite der Kreuzungen wurden dagegen 
durch Wohn- und Geschäftshäuser mit 
Längsseite zur Straße hin im Stil der 50er und 
frühen 60er Jahre ersetzt. Städtebaulich 
wichtig ist auch eine zweite Entscheidung 
dieser Zeit: die auf Planungen Sep Rufs in den 
späten 40er Jahren fußende Zurücknahme 
der Baulinien bei beiden Gebäuden und damit 
die erhebliche Erweiterung des Straßen- 
raums, der an den gestiegenen Autoverkehr 
angepaßt wird. Dieser städtebauliche Bruch 
markiert eine neue Funktion der Ellinger Alt- 
stadt: Sie wird Ort des Massendurchgangs- 
verkehrs, das Auto beherrscht den Raum der 
Hauptstraßen. Nach dem Bau der Umge- 
hungsstraße stellt sich von neuem die Frage 
nach der Funktion des Zentrums, womit auch 
die Frage nach der Bewertung von Kontinui- 
tät und Bruch im Städtebau angesprochen 
wird. 
These 3: Stadtbildpflege darf nicht nur keine 
Stadtimagepflege sein, sie darf sich auch nicht 
auf eine Position des Nur-Bewahrens zurück- 
ziehen. Auch diese Position wäre unhisto- 
risch. Die Diskussion veränderter Nutzungs- 
ansprüche einer Gesellschaft mit veränderten 
Arbeits- und Lebensformen kann durchaus 
die Notwendigkeit eines Bruchs mit der 
überlieferten städtebaulichen Struktur zum 
Ergebnis haben, einen Bruch, den übrigens 
das Auto längst ohne lange Diskussion 
provoziert hat. Bewahren kann man nur die 
städtebauliche Hülle, nicht aber die Nutzun- 
gen im Detail. In der Abwägung von Hülle 
und sozialorientierten Nutzungsansprüchen 
aber muß sich die Diskussion über Kontinui- 
tät und Bruch vollziehen. 
Erstes Beispiel: Die Altstadtkreuzung. Weit- 
gehende Zustimmung wird die Aussage 
finden, daß die Bewahrung überlieferter 
Baulinien, Parzellengrößen und Traufhöhen 
wichtig ist, manchmal wichtiger als die 
Erhaltung eines konkreten Bauwerks. Gilt 
das aber z.B. auch für die Ellinger Kreuzung, 
wo die historische Feudalherrschaft keinen 
Platz zugelassen hat und wo in der Nach- 
kriegszeit diese Grenzen durch die Autos 
verdrängt worden sind? Selbst wenn die alten 
Baulinien ohne großen Aufwand wiederher- 
gestellt werden könnten, wäre es einer 
ernsthaften Überlegung wert, ob nicht der 
erweiterte Raum erhalten, aber zugunsten der 
Fußgänger neu gestaltet werden sollte. Unser 
Vorschlag im Rahmen der Vorbereitung der 
Stadterneuerung geht in diese Richtung. 
Zweites Beispiel: Der Schloßpark im Norden 
des Schlosses war in der Zeit des Deutschen 
Ordens für die Stadtbürger natürlich nicht 
zugänglich. Heute ist er prinzipiell zugäng- 
lich, aber für viele Altstadtbewohner nur auf 
großen Umwegen. Die veränderte historische 
Situation erfordert daher u.E. die Einrich- 
tung eines Fußweges entlang der Stadt- 
mauern im Norden mit einem Durchlaß in der 
Schloßgartenmauer. Das wäre zweifellos ein 
Bruch mit der städtebaulichen Tradition, der 
in den veränderten Herrschaftsverhältnissen 
seine Rechtfertigung findet. 
Der Bruch kann sich auch schleichend 
vollziehen, wie das Beispiel der Neuen Gasse 
Vortreppe mit Haustürattrappe, 
Neue Gasse (eigenes Foto 1980) 
Neue Gasse: Blick nach Norden 
(eigenes Foto 1980} 
zeigt. Mit dem Wegzug der Deutschordens- 
beamten veränderte sich auch langsam die 
Nutzung der Häuser. Sie wurden Vorläufer 
der modernen Mehrfamilienhäuser ohne 
landwirtschaftliche und handwerkliche Nutz- 
räume. Das war auch der Grund dafür, daß 
sich in der Nachkriegszeit hier Arbeiter- 
familien ohne landwirtschaftlichen Neben- 
erwerb konzentrierten, Arbeiter mit großen 
Familien in kleinen, aber billigen Miet- 
wohnungen. Heute haben die Wohnhäuser 
der Neuen Gasse mit Mittelflur bis zu acht 
Räume auf einer Geschoßebene. Die Straße, 
die bis jetzt eine reine Wohnstraße geblieben 
ist, wird mit dieser Entwicklung einerseits 
zum Parkplatz, andererseits aber auch zum 
Aufenthaltsort für Kinder, zum Spielplatz, 
eine Situation, die von den älteren Bewoh- 
nern nicht gerne gesehen wird. Mit der Ent- 
wicklung zu einer Arbeiterwohnstraße hin 
verändert die Neue Gasse langsam auch ihre 
bauliche Form. Der Dachgeschoßausbau 
bringt mehr Raum und somit mehr Miete, 
verändert aber das Mansarddach, bei man- 
chen Eckgebäuden werden die Eingangstüren 
von der Straße weg an die Seite verlegt, ein 
nicht nur in Ellingen zu beobachtender Priva- 
tisierungsprozeß, einige Vortreppengeländer 
werden beseitigt. Für die Erhaltung der 
sichtbaren Einheitlichkeit der Gasse schwin- 
det die reale Basis, der Grundstücksbesitz ist 
zersplittert, das Wissen um die Einzigartig- 
keit der Straße ist gering. U.E. ist diese 
Entwicklung zur Uneinheitlichkeit bedauer- 
lich. Wir haben deshalb einen Vorschlag für 
eine Gestaltungssatzung erarbeitet, der noch 
öffentlich diskutiert werden muß. Grund- 
prinzip dieses Vorschlags ist: Sicherung der 
Gesamtanlage, begrenzte Variation in den 
Details - ein Prinzip, das nicht nur historisch 
gerechtfertigt ist (aufgrund der kleinteiligen 
Zersplitterung der Verfügung über den Boden 
war der Umgang mit den Gebäuden nie völlig 
einheitlich), sondern auch ein ausgewogenes 
Verhältnis zwischen dem großen öffentlichen 
Interesse an einer Erhaltung der Gasse und 
den privaten Interessen ermöglicht. 
These 4: Wenn man es nicht beim stadtbau- 
geschichtlichen Analysieren und Dokumen- 
tieren bewenden lassen will, ist es unerläßlich 
zu untersuchen, welche Rolle die Geschichte 
der Stadt für die heutigen Bewohner spielt. 
teren bewenden lassen will, ist es unerläßlich 
zu untersuchen, welche Rolle die Geschichte 
der Stadt für die heutigen Bewohner spielt. 
In der Kleinstadt gibt es traditionell Perso- 
nen, die die Geschichte des Ortes verwalten, 
interpretieren, weitergeben. Dazu zählen der 
Lehrer, der Pfarrer, der Stadtarchivar. Wir 
haben die Erfahrung gemacht, daß es zu 
größerem Dissens bei unserer Arbeit in 
Ellingen immer dann kam, wenn wir die 
traditionelle Interpretation der örtlichen 
Verwalter von Stadtgeschichte in Frage 
stellten. So mochte der Stadtarchivar, der 
sich stolz zu den Familiaren des Deutschen 
Ordens zählt, nichts von unserer Kritischen 
Interpretation des Deutschens Ordens wissen. 
Sein Argument: der Deutsche Orden sei ja 
auch ein soziales Unternehmen gewesen. Der 
Pfarrer mochte nichts von unserer Inter- 
pretation der Ellinger Hausmadonnen als 
Symbole und Programm der Gegenreforma- 
tion wissen. Die Politiker setzten seit den 50er 
Jahren ihre Priorität auf Neubaugebiete. Das 
Interesse für die reale, nicht idealisierte 
Geschichte und ihre Alltagszeugnisse in der 
Stadt war zunächst einmal ziemlich gering. 
Die Bewohner der Altstadt selbst leben zwar 
gerne in der historischen Stadt, wie sie uns 
erzählten, nicht aber in ihren alten Häusern. 
Die Altbauten haben zum Teil bauliche 
Mängel, einen ungünstigen Wohnungszu- 
schnitt, sie gelten schlicht als nicht modern, 
als Zeichen gewisser Armut. Die Geschichte 
der Stadt ist nur in Versatzstücken präsent 
und wird nicht als solche erlebt. Damit wird 
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